Turn Back Time To 1996
Folge 9: "Pure Instinct" von den Scorpions

Special

1996: Die Zeit, die Welt und ihre Wunden

Die SCORPIONS irritieren nur zu Beginn ihres 1996er-Klassikers „Pure Instinct“. Der Opener „Wild Child“ fährt einem vom Dudelsack getrieben mit seinem simplen Kracher-Riff und dem packenden Refrain durch Mark und Bein und lässt das Schlimmste befürchten. Doch Entwarnung! Die SCORPIONS scheinen den erwachsenen Fan nur etwas necken, etwas auf die Probe stellen zu wollen. Der Rest des Albums ist (fast) durchgängig als anständige, zivilisierte, adrenalinfreie Musik zu bezeichnen. Kein Nacken hat im Folgenden großartig Bewegendes zu fürchten.
Auf die gute Art bewegend allerdings wirkt das semantisch lose mit dem Titel „Wild Child“ verbundene Cover. Zu sehen ist eine Familie der Gattung Homo Sapiens, eingesperrt, ausgestellt und begafft. Begafft von all den Tieren, die der Mensch zuvor begaffte. Das schlimmste aller Raubtiere nämlich ist der Mensch selbst und Mutter Gaia nimmt sich das Ihre dereinst zurück. Der Himmel leuchtet blutrot. Blut. Rot. Der Homo Sapiens ist hilflos auf seinen bloßen Überlebensinstinkt zurückgeworfen.

Cover von "Pure Instinct" der SCORPIONS

Cover von „Pure Instinct“ der SCORPIONS

Respektiert werden muss angesichts dieses dringlichen Bildes nicht nur Photoshop, sondern die Anklage als solche. Vergessen werden darf schließlich nicht, dass wir uns mit „Pure Instinct“ im Jahre 1996 befinden: An die Hunde auf den Straßen Rumäniens denkt noch niemand, Ronny („Ronny’s Pop Show“) wird gegen seinen ausdrücklichen Willen zum Mond geschossen und in China essen sie Hunde. Stichworte auch noch: Großwild-Safari, Sitz-Katzen und Robbenstau im Skagerrak. Kleiner Denkanstoß zudem mit Blick aufs Heute: Ist der letzte Baum gerodet, fehlt irgendwann auch dem digitalen Vögelchen sein Nest zum Twittern…

Und die SCORPIONS entscheiden sich für Musik!

Musikalisch sortieren sich die SCORPIONS und entscheiden sich (leider nur vermeintlich endgültig) fürs Erwachsenwerden. Sie erinnern sich ihrer eigenen Sternstunden („Send Me An Angel“!) und der Tatsache, dass man einer Gitarre auch ernstzunehmende Töne entlocken kann. Das vermeintliche Gebot der Verzerrung darf auf den Müllhaufen des „musikalischen“ Halbstarken-Harakiri.
Ohne Hektik und unter bemerkenswert rücksichtsvollem Verzicht auf Blutdruck-Treibendes zaubern sich die ehemaligen Rocker (!) sage und schreibe ein halbes Dutzend Balladen aus der Lederhüfte. Die wenigen (zur Ehrenrettung: halbherzigen) Teil-Rückfälle in alte Zeiten der Barbarei seien ihnen verziehen bzw. lassen die wirkliche Musik auf „Pure Instinct“ auf eine etwas verwegene Weise erst vollends im rechten Glanz erstrahlen.
„When You Came Into My Life“ zum Beispiel schlängelt sich ohne das enervierende Aufbäumen von „Still Loving You“ großteils zur Akustischen von Seele zu Seele und Klaus Meine bringt auf den Punkt, was uns allzu oft vor dem Poesie-Album sitzend überforderte. Kostprobe: „We’re lost in a kiss, a moment in time, forever young, just forever. Just forever in love.“ Musikalisch passend befreit der Song dazu die gefühlsduseligsten Momente einer Celine Dion von ihrer Hektik und bettet sie galant in ein Streicher-umwehtes akustisches Diät-Rock-Himmelbett deluxe.

Mit „Pure Instinct“ ist Kuschelrock-Time all the time

„Where The River Flows“ steht dem kaum nach und endet gar noch größer: „You find me where the river flows, by the river where dreams have never died, by the river I look through children’s eyes, you find me…“ Ein Papierschiffchen von einem Song und doch nicht der Höhepunkt.
Denn die Krone des Albums ist selbstverständlich das allseits bekannte „You And I“. Ohne weitere Worte daher hier nur dessen zentrale: „You and I just have a dream, to find our love, a place where we can hide away, you and I were just made to love each other now, forever and a day.“ Tüdelüh.
Mit „Pure Instinct“ kann dieser Platz der Liebe überall sein. Mit „Pure Instinct“ trägt man die Essenz des ZDF-Fernsehgartens überall hin, weht ein sanfter Hauch von Dauerwellen-Romantik durch jedes Tal, das man in der Doppelkabine im Zug des Lebens durchkriecht, mit „Pure Instinct“ ist Kuschelrock-Time all the time. Die Platte dient als praktischer Alltags-Weichzeichner to go und schließt so manch verhärtetes Herz niveauvoll auf wie sonst nur das Beste des Schlager-Genres.

Wo steht “Pure Instinct“ im Schaffen der SCORPIONS?

Mit seiner Kultiviertheit erweist sich das Werk auch als unverzichtbarer Schritt zum folgenden „Eye II Eye“, dem endgültigen Magnum Opus der SCORPS. Doch „Pure Instinct“ ist eben mehr als ein Übergangsalbum, eine Gesamtwerk-Silbermedaille. Es glänzt für sich und befördert so manch rohes Neandertaler-Vergehen – so zum Beispiel seine direkte Vorgängerin „Face The Heat“ oder gar das grauenhaft aufgedrehte „Blackout“ – elegant in den musikhistorischen Schatten, in den es gehört. Auch die aktuellen Kraftmeiereien seien den SCORPIONS angesichts ihrer (Spät-)Neunziger-Sternstunden gern verziehen. Man muss ja Mensch bleiben.
Fazit: „Pure Instinct“ ist nahezu jeden der im Schnitt gut 300 Cent wert, die von den einschlägigen Anbietern 20 Jahre nach seiner Veröffentlichung immer noch selbstbewusst aufgerufen werden. Eine Platte für du und ich und unsere Herzen. Und Flora und Fauna. Und damit: Eternity.

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21.10.2016

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