Turn Back Time To 1996
Folge 2: "Antichrist Superstar" von MARILYN MANSON
Special
Es liegt sicher nicht an MARILYN MANSON, dass mittlerweile die Fotos mit seinem ungeschminkten Konterfei das Gruseligste an ihm sind. Sicherlich liegt es eher an der Verrohung der Gesellschaft. Daran, dass sich diese abgebrühten Geschöpfe von literweise Blut, einem imposant freischwingenden Penis auf der Bühne, einer provokant getragenen Pseudo-Nazi-Uniform oder einem volltrunkenen Fronter nicht mehr hinterm Ofen hervorlocken lassen. Fakt ist – 1996 war MARILYN MANSON der Shit. Der allein herrschende King of Shock, die coolste Sau (nicht nur auf NTV!) und der zurecht selbsternannte Antichrist in Person. Glücklicherweise wurde das damalige Schaffen auf Band gebrannt und ist somit für die Nachwelt nachhör- und sicherlich auch nachfühlbar.
Zurecht gebührt MARILYN MANSONs Meisterwerk „Antichrist Superstar“ somit ein Halt unserer Zeitreise nach 1996. Weshalb, das erfahrt ihr auf den folgenden Seiten genau.
Fakten
„Antichrist Superstar“, erschienen am 08.10.1996 über Interscope Records, 18 Songs, verteilt über 74:44 Minuten Spielzeit, aufgenommen in den Nothing Studios in New Orleans.
Die äußert komplizierte Bandbesetzung: Brian Hugh Warner a.k.a. MARILYN MANSON (Gesang, Gitarre und Panflöte), Twiggy Ramirez (Gitarre und Bass), Madonna Wayne Gacy (Keyboards, Loops), Ginger Fish (Schlagzeug, Programmierung), Trent Reznor von NINE INCH NAILS als Produzent (Mellotron, Gitarre, Rhodes Piano), Daisy Berkowitz an der Gitarre (stieg vor Veröffentlichung aus und wurde während der Aufnahmen teilweise durch Twiggy Ramirez ersetzt), Sean Beavan als zweiter Produzent (Engineering, Editing, Mix und Gitarre), Danny Lohner (Gitarre), Chris Vrenna (Schlagzeug, Programmierung, Engineering und Editing).
Der aufmerksame Leser merkt, dass das sehr viele Leute sind! „Antichrist Superstar“ war des Weiteren unterteilt in drei Zyklen und befasste sich insgesamt mit der Transformation einer fiktiven Person von einem Wurm zu einem Engel, so lautet die am häufigsten verbreitete These. Es bestehen allerdings noch weitere, und so richtig wurde niemals bestätigt, worum genau es in diesem vertonten Kammerspiel geht.
Die Geschichte ist sowohl autobiografisch auf Brian Hugh Warner selbst, sowie auch auf wahrhaftige geschichtliche Begebenheiten im Faschismus interpretierbar. In diesem Fall nehmen der Superstar und der Wurm nicht die Rolle von Einzelpersonen ein, sondern stehen sinnbildlich für die Gesellschaft und eine Ideologie, die sich nicht im Einklang miteinander befinden.
Cycle I – The Hierophant
1. Irresponsible Hate Anthem
2. The Beautiful People
3. Dried Up, Tied and Dead to the World
4. Tourniquet
Cycle II – Inauguration of the Worm
5. Little Horn
6. Cryptorchild
7. Deformography
8. Wormboy
9. Mister Superstar
10. Angel With the Scabbed Wings
11. Kinderfeld
Cycle III – Disintegrator Rising
12. Antichrist Superstar
13. 1996
14. Minute Of Decay
15. The Reflecting God
16. Man That You Fear
17. „Intro“
Track 18-98 leere Tracks
Cycle 8 – Epilog/Prolog
99. Empty Sounds Of Hate
Bereits der Opener „Irresponsible Hate Anthem“ lässt dem Hörer schier die Lauscher platzen. Lange davor und lange danach wurde „Fuck it!“ nicht mehr so echt in die Welt gebrüllt, wie damals von MARILYN MANSON. Ein Blick auf den Typ und es war klar; der ist tatsächlich ziemlich abgefuckt von allem und jedem. So einfach war es dann aber doch nicht zu durchschauen. Denn schon im folgenden „Beautiful People“ macht MANSON klar, was genau ihn ankotzt, differenziert und schreibt damit nichts anderes als einen musikalischen Befreiungsschlag für sich mitten in der Verpuppung befindliche Jugendliche, Menschen mit optischen Makeln oder denjenigen, die sich diese nur einbildeten. Wo NIRVANA mit Kurt Cobain eine Identifikationsfigur für depressive Melancholie boten, bot Manson einen krassen, spannenden Gegenpol: „Seht her, ich bin hässlich und zwar mit Absicht, und ich habe mächtig Spaß dabei, Bock mitzumachen? Wir zeigen der Gesellschaft den stinkigen Mittelfinger, den wir uns vorher noch in den nicht geputzten Arsch gesteckt haben!“
Auch wenn Manson in einer etwas anderen Altersgruppe rangierte, so orientierte er sich doch von Anfang an an den großen Showmakern des Rocks. Blut, Schweiß, Penis, Leichen, Alkohol, Gewalt, Travestie … auf einem Konzert von MARILYN MANSON gab es neben der guten Musik schon immer einiges an Provokation zu sehen. Selbst mit noch kleinen finanziellen Mitteln versuchte die Band schon ein richtiges Konzerterlebnis zu bieten. Die Zeit, in der ein lallender Manson textunsicher über die Bühne schlurft, scheint aber spätestens 2015 vorbei zu sein. Anarchie findet zweifelsohne weiterhin statt, man kann nicht raus aus seiner Haut, aber auch einige Allüren hat sich der gute Herr angeeignet. Es kursiert das Gerücht, dass ein Vermerk auf dem Rider ist, dass dort wo MARILYN MANSON sich aufhält, eine gewisse Temperatur herrschen muss. Also auch auf der Bühne, was etwas schwierig ist im vollgepackten Konzertsaal … merkste selber, oder?
Hört man sich „Antichrist Superstar“ heute an, ist man angenehm überrascht von den zeitlosen Songs und dieser überragenden Produktion. „Tourniquet“ und „Angel With The Scabbed Wings“ sind sicherlich nicht unbedingt die offensichtlichen Hits, aber rückblickend betrachtet ist keiner Band mehr das gelungen, was solche Lieder von MARILYN MANSON ausmachen. „Antichrist Superstar“ ist bemerkenswert hart, eingängig und clever arrangiert. Dass die Truppe damals nicht mit Hagebuttentee und Zwieback hantiert hat, ist natürlich ebenso hörbar. Gepaart mit der unverkennbaren Handschrift von Trent Reznor, präsentiert das verstörende „Little Horn“ ein Ergebnis, das nur aus einer guten Mischung Halluzinogenen mit Alkohol und krankem Perfektionismus entstehen kann. Gleiches gilt für den göttlichen Song „Derformography“. Dass Reznor, der hier Gitarre spielt, diesen Song aus der Hand gegeben und nicht für sich selbst verwendet hat, beweist, welche großen Stücke er auf MARILYN MANSON hielt. Und er sollte Recht behalten! Wenn es überhaupt einen Weg für den verantwortungsvollen Umgang mit Drogen gibt, dann haben MARILYN MANSON ihn damals beschritten. Nicht umsonst handelt es sich bei „Antichrist Superstar“ um einen zeitlosen Klassiker, denn bei all dem Wahnsinn, ist die Platte in erster Linie wahnsinnig gut durchdacht und bis ins mikroskopische Detail geschliffen.
Schon alleine die eindringlichen und treffenden Texte verdeutlichen dies. „Mister Superstar“ stellt auf drastische Weise klar, wie es sich anfühlt, wenn eine fremde Person absolut devot alles geben möchte und in welchem Zwiespalt, zwischen Ekel und Freude, man als Betroffener gefangen ist. Der mit einem Jahrtausendriff ausgestattete Stampfer „Beautiful People“ spricht für sich selbst, sicher hat einigen Jugendlichen damals genau der Anstoß geholfen: „Was siehst du? Etwas Schönes, etwas Freies?“
Man muss schon ein ausgemachter Depp sein, um die Ironie und Tiefgründigkeit von MARILYN MANSON nicht zu sehen. Unfassbar, dass er 1999 für das Schulmassaker in Columbine von den Medien massiv verantwortlich gemacht wurde, weil die Täter seine Musik gehört hatten. Man muss bedenken, dass es damals noch nicht üblich war, dass jeder Hanswurst auf Facebook einen Shitstorm lostreten konnte und Medien nicht gezwungen waren, unter dem Druck der Erste sein zu müssen, halbwahre Schnellschüsse zu veröffentlichen. In einem Land, in dem man zur Kontoeröffnung eine Pistole inklusive Patronen als Bonus bekommt, war es aber bequemer, den auffälligen Manson als personifiziertes Feindbild zu missbrauchen. Manson selbst, nahm diese Vorwürfe nicht auf die leichte Schulter und traurigerweise wurden einigen Leuten tatsächlich erst durch seine kluge Reaktion darauf klar, dass er durchaus intelligent und sozial ist.
Tell me something beautiful, tell me something free. And I wish that I could be. („Kinderfeld“)
Superstar, Superfuck baby
In der Zwischenzeit ist es, wie eingangs erwähnt, problemlos möglich, MARILYN MANSON ungeschminkt und äußerst unvorteilhaft abgelichtet im Internet zu bestaunen. Der Schleier des Geheimnisvollen wurde mit dem Fortschritt gelüftet. Trotzdem verwundert es, dass er damals 1996 bei seinen weiblichen Hörerinnen, trotz oder gerade wegen Ähnlichkeiten zur lebenden Leiche, äußerst beliebt war und auf diese sehr anziehend wirkte. Wer sich die Biografie „The Long Road Out Of Hell“ zu Gemüte führt, wird in seiner Vorahnung bestätigt. Manson und Kollegen machten damals weder vor sich gegenseitig, noch vor einem Berg Hackfleisch Halt. Glaubt man nur die Hälfte der Aufzeichnungen, dann haben die Herren schon mehr erlebt, als die komplette metal.de-Redaktion im ganzen Leben erleben wird. Gerade deshalb hatte „1996“ eine derart enorme Durchschlagskraft, mit dem Habitus des Jokers, nahm man Manson die Illusion ab, dass er die Welt in Flammen sehen wollte.
Zurück im Hier und Jetzt
Die folgenden MARILYN MANSON-Alben erfuhren mal mehr, mal weniger Zuspruch. Des Weiteren demonstrierte die Band im Laufe der Jahre, dass man todsichere Gassenhauer wie „Beautiful People“, „Dope Show“, „Sweet Dreams“ und „MoBscene“ durchaus live verhunzen kann. Der gute Manson hat den Fans einiges abverlangt, torkelt planlos über diverse Bühnen und lallte sich in unerträglichen Tonlagen einen ab, dass es für Wegbegleiter der ersten Stunde tatsächlich nicht leicht war, wirklich daran zu glauben, dass sich hier nicht die nächste lebende Legende selbst demontiert. Doch selbst NENA wusste schon, dass Wunder geschehen und 2015 war das Jahr für die Schockformation, denn mit „Pale Emperor“ meldeten sich MARILYN MANSON mit einem Album zurück, dass nicht nur verdammt gut klingt, sondern auch nichts beschönigt und verleugnet. Zeit macht auch nicht vor Rockstars Halt, doch wahre Coolness überlebt und wenn alles gar nichts hilft, dann muss eben der gute alte Onkel Blues als Initiator herhalten – der Blues regelt alles.
In den letzten 20 Jahren kam in diesem Bereich niemand, wirklich niemand, der auch nur annähernd das Format von MARILYN MANSON hatte. Generell ist der Industrial Rock leider ziemlich verwahrlost. Zu „Antichrist Superstar“ bleibt nur zu sagen: MARILYN MANSONs Meisterwerk! Pflichtplatte für Rockfans, und ganz besonders für alle, die irgendwie über MARILYN MANSON urteilen können wollen.