Turn Back Time To 1996
Folge 2: "Antichrist Superstar" von MARILYN MANSON

Special

Turn Back Time To 1996

Bereits der Opener „Irresponsible Hate Anthem“ lässt dem Hörer schier die Lauscher platzen. Lange davor und lange danach wurde „Fuck it!“ nicht mehr so echt in die Welt gebrüllt, wie damals von MARILYN MANSON. Ein Blick auf den Typ und es war klar; der ist tatsächlich ziemlich abgefuckt von allem und jedem. So einfach war es dann aber doch nicht zu durchschauen. Denn schon im folgenden „Beautiful People“ macht MANSON klar, was genau ihn ankotzt, differenziert und schreibt damit nichts anderes als einen musikalischen Befreiungsschlag für sich mitten in der Verpuppung befindliche Jugendliche, Menschen mit optischen Makeln oder denjenigen, die sich diese nur einbildeten. Wo NIRVANA mit Kurt Cobain eine Identifikationsfigur für depressive Melancholie boten, bot Manson einen krassen, spannenden Gegenpol: „Seht her, ich bin hässlich und zwar mit Absicht, und ich habe mächtig Spaß dabei, Bock mitzumachen? Wir zeigen der Gesellschaft den stinkigen Mittelfinger, den wir uns vorher noch in den nicht geputzten Arsch gesteckt haben!“

Auch wenn Manson in einer etwas anderen Altersgruppe rangierte, so orientierte er sich doch von Anfang an an den großen Showmakern des Rocks. Blut, Schweiß, Penis, Leichen, Alkohol, Gewalt, Travestie … auf einem Konzert von MARILYN MANSON gab es neben der guten Musik schon immer einiges an Provokation zu sehen. Selbst mit noch kleinen finanziellen Mitteln versuchte die Band schon ein richtiges Konzerterlebnis zu bieten. Die Zeit, in der ein lallender Manson textunsicher über die Bühne schlurft, scheint aber spätestens 2015 vorbei zu sein. Anarchie findet zweifelsohne weiterhin statt, man kann nicht raus aus seiner Haut, aber auch einige Allüren hat sich der gute Herr angeeignet. Es kursiert das Gerücht, dass ein Vermerk auf dem Rider ist, dass dort wo MARILYN MANSON sich aufhält, eine gewisse Temperatur herrschen muss. Also auch auf der Bühne, was etwas schwierig ist im vollgepackten Konzertsaal … merkste selber, oder?

Hört man sich „Antichrist Superstar“ heute an, ist man angenehm überrascht von den zeitlosen Songs und dieser überragenden Produktion. „Tourniquet“ und „Angel With The Scabbed Wings“ sind sicherlich nicht unbedingt die offensichtlichen Hits, aber rückblickend betrachtet ist keiner Band mehr das gelungen, was solche Lieder von MARILYN MANSON ausmachen. „Antichrist Superstar“ ist bemerkenswert hart, eingängig und clever arrangiert. Dass die Truppe damals nicht mit Hagebuttentee und Zwieback hantiert hat, ist natürlich ebenso hörbar. Gepaart mit der unverkennbaren Handschrift von Trent Reznor, präsentiert das verstörende „Little Horn“ ein Ergebnis, das nur aus einer guten Mischung Halluzinogenen mit Alkohol und krankem Perfektionismus entstehen kann. Gleiches gilt für den göttlichen Song „Derformography“. Dass Reznor, der hier Gitarre spielt, diesen Song aus der Hand gegeben und nicht für sich selbst verwendet hat, beweist, welche großen Stücke er auf MARILYN MANSON hielt. Und er sollte Recht behalten! Wenn es überhaupt einen Weg für den verantwortungsvollen Umgang mit Drogen gibt, dann haben MARILYN MANSON ihn damals beschritten. Nicht umsonst handelt es sich bei „Antichrist Superstar“ um einen zeitlosen Klassiker, denn bei all dem Wahnsinn, ist die Platte in erster Linie wahnsinnig gut durchdacht und bis ins mikroskopische Detail geschliffen.

Schon alleine die eindringlichen und treffenden Texte verdeutlichen dies. „Mister Superstar“ stellt auf drastische Weise klar, wie es sich anfühlt, wenn eine fremde Person absolut devot alles geben möchte und in welchem Zwiespalt, zwischen Ekel und Freude, man als Betroffener gefangen ist. Der mit einem Jahrtausendriff ausgestattete Stampfer „Beautiful People“ spricht für sich selbst, sicher hat einigen Jugendlichen damals genau der Anstoß geholfen: „Was siehst du? Etwas Schönes, etwas Freies?“

Man muss schon ein ausgemachter Depp sein, um die Ironie und Tiefgründigkeit von MARILYN MANSON nicht zu sehen. Unfassbar, dass er 1999 für das Schulmassaker in Columbine von den Medien massiv verantwortlich gemacht wurde, weil die Täter seine Musik gehört hatten. Man muss bedenken, dass es damals noch nicht üblich war, dass jeder Hanswurst auf Facebook einen Shitstorm lostreten konnte und Medien nicht gezwungen waren, unter dem Druck der Erste sein zu müssen, halbwahre Schnellschüsse zu veröffentlichen. In einem Land, in dem man zur Kontoeröffnung eine Pistole inklusive Patronen als Bonus bekommt, war es aber bequemer, den auffälligen Manson als personifiziertes Feindbild zu missbrauchen. Manson selbst, nahm diese Vorwürfe nicht auf die leichte Schulter und traurigerweise wurden einigen Leuten tatsächlich erst durch seine kluge Reaktion darauf klar, dass er durchaus intelligent und sozial ist.

Tell me something beautiful, tell me something free. And I wish that I could be. („Kinderfeld“)

Superstar, Superfuck baby

In der Zwischenzeit ist es, wie eingangs erwähnt, problemlos möglich, MARILYN MANSON ungeschminkt und äußerst unvorteilhaft abgelichtet im Internet zu bestaunen. Der Schleier des Geheimnisvollen wurde mit dem Fortschritt gelüftet. Trotzdem verwundert es, dass er damals 1996 bei seinen weiblichen Hörerinnen, trotz oder gerade wegen Ähnlichkeiten zur lebenden Leiche, äußerst beliebt war und auf diese sehr anziehend wirkte. Wer sich die Biografie „The Long Road Out Of Hell“ zu Gemüte führt, wird in seiner Vorahnung bestätigt. Manson und Kollegen machten damals weder vor sich gegenseitig, noch vor einem Berg Hackfleisch Halt. Glaubt man nur die Hälfte der Aufzeichnungen, dann haben die Herren schon mehr erlebt, als die komplette metal.de-Redaktion im ganzen Leben erleben wird. Gerade deshalb hatte „1996“ eine derart enorme Durchschlagskraft, mit dem Habitus des Jokers, nahm man Manson die Illusion ab, dass er die Welt in Flammen sehen wollte.

Zurück im Hier und Jetzt

Die folgenden MARILYN MANSON-Alben erfuhren mal mehr, mal weniger Zuspruch. Des Weiteren demonstrierte die Band im Laufe der Jahre, dass man todsichere Gassenhauer wie „Beautiful People“, „Dope Show“, „Sweet Dreams“ und „MoBscene“ durchaus live verhunzen kann. Der gute Manson hat den Fans einiges abverlangt, torkelt planlos über diverse Bühnen und lallte sich in unerträglichen Tonlagen einen ab, dass es für Wegbegleiter der ersten Stunde tatsächlich nicht leicht war, wirklich daran zu glauben, dass sich hier nicht die nächste lebende Legende selbst demontiert. Doch selbst NENA wusste schon, dass Wunder geschehen und 2015 war das Jahr für die Schockformation, denn mit „Pale Emperor“ meldeten sich MARILYN MANSON mit einem Album zurück, dass nicht nur verdammt gut klingt, sondern auch nichts beschönigt und verleugnet. Zeit macht auch nicht vor Rockstars Halt, doch wahre Coolness überlebt und wenn alles gar nichts hilft, dann muss eben der gute alte Onkel Blues als Initiator herhalten – der Blues regelt alles.

In den letzten 20 Jahren kam in diesem Bereich niemand, wirklich niemand, der auch nur annähernd das Format von MARILYN MANSON hatte. Generell ist der Industrial Rock leider ziemlich verwahrlost. Zu „Antichrist Superstar“ bleibt nur zu sagen: MARILYN MANSONs Meisterwerk! Pflichtplatte für Rockfans, und ganz besonders für alle, die irgendwie über MARILYN MANSON urteilen können wollen.

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07.03.2016

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2 Kommentare zu Turn Back Time To 1996 - Folge 2: "Antichrist Superstar" von MARILYN MANSON

  1. Insomania sagt:

    Da kann man doch wirklich mal ein „Das waren noch Zeiten“ raushauen 😀 Was haben wir uns in der Pubertät für Geschichten von Marylin Manson erzählt, während wir zu „Antichrist Superstar“ im dunklen Keller die ersten Zigaretten gepafft haben und dachten, wir wären die absolut coolsten Socken dieser Erde. Schön wars, heute kann ich aber wie die Autorin auch mit Industrial Rock so gar nichts mehr anfangen, und auch die neueren Manson-Sachen haben nicht mehr gezündet. Aber „Antichrist Superstar“ war und ist ein geiles Album.

  2. Marco sagt:

    Endlich findet dieser Meilenstein mal die verdiente Ehre der Erwähnung auf dieser Seite. Schön geschrieben