Tool
Listening Session zu "Fear Inoculum": Ein Reisebericht

Special

Fotocredits Bandfoto: Travis Shinn, bereitgestellt von Head Of PR, 14.08.2019.

Ich sitze in Berlin. Um genauer zu sein: im Sony Center, mein stetiger Anlaufpunkt, wenn ich alleine in Berlin auf Reisen bin. Als Jung aus einer kleinen, ländlichen Stadt an der Nordsee, sind hier meist Menschenmassen in einer Größe versammelt, die mir nicht auf den Sack gehen. Dazu kommt, dass ich bisher immer noch einen Platz in den dort befindlichen Restaurants bekomme. Bei einem genüsslichen Mahl, bestehend aus Bier und Burger, plane ich den kommenden Tag. Ich möchte natürlich nicht zu spät kommen oder mich in dieser großen Stadt verlaufen. Allein bei einer solch simplen Planung werde ich nervös. Ich wische gefühlte 20 Mal auf meinem Handy zwischen Mailordner und Karte hin und her, um zu schauen, ob denn die Adresse richtig ist. Es mag zwar zunächst verrückt klingen, doch findet an dem morgigen Tag meine erste Listening Session statt. Zu all dem Reizüberfluss habe ich das Privileg bekommen, einer der wenigen zu sein, die das neue TOOL-Album vorzeitig zu hören bekommen dürfen, eines der am meist erwarteten Alben des Jahres, wenn nicht sogar dieses Jahrzehnts.

Ein Abstecher in die Vergangenheit von TOOL

13 Jahre ist es her, dass der Vorgänger „10,000 Days“ in die Läden kam. Seit 2008 kamen die ersten Gerüchte über ein neues Album auf, das Internet füllte sich seit dem immer wieder mal mit angeblichen Leaks über den Titel und die Trackliste und Veröffentlichungen von angeblichem Demomaterial neuer Songs, die natürlich ein „persönlicher Freund“ der Band jemandem x-beliebigen zugespielt haben soll. Erst mit einem Post auf der offiziellen Facebookseite, der die Bandmitglieder im Proberaum zeigt, wurden die Gerüchte bestätigt, dass TOOL an einem neuen Album arbeiten. Im Oktober 2015 gab es die erste Kostprobe live in Arizona. Der Song „Descending“ feiert sein Debüt, zunächst als reines Instrumental. Das ist jetzt vier Jahre her. Erst in den letzten zwei Jahren häuften sich die Infos zu dem Album. Auf den Social-Media-Kanälen der Mitglieder wurden immer wieder Statusupdates gegeben, und letztlich wurde auf dieser Tour das Datum angekündigt: „30th August“.

Zwischendurch ist eine Menge bei den Mitgliedern passiert. Maynard James Keenan ist wohl am fleißigsten gewesen und hat zwischendurch drei Alben mit dem Projekt PUSCIFER und ein Album mit A PERFECT CIRCLE aufgenommen. Dazu hat er sich als relativ erfolgreicher Winzer bewiesen und leitet Merkin Vineyards und Caduceus Cellars. Danny Carey hat sich unter anderem mit Brent Hinds von MASTODON zusammengetan und mit LEGEND OF THE SEAGULLMEN das gleichnamige Debüt veröffentlicht, während Adam Jones und Justin Chancellor in der Area 51 antike Rituale außerirdischen Ursprungs vollführt haben, um die Inspiration für neue Riffs und Ideen zu bekommen. Letzteres ist keine Spekulation, sondern die einzig wahre Wahrheit, jemand der das Gegenteil behauptet ist Fake News.

Zurück in die Zukunft

Genug in der Vergangenheit verweilt. Am nächsten Morgen wache ich um halb sechs bei einer gefühlten Temperatur von 50 Grad auf, der Stehventilator im Zimmer versucht sich mittlerweile verzweifelt, selbst zu kühlen. Also auf, frisch machen und ab zum Frühstück. Mich lachen Wurst und Käse an, und meine Fresse, warum schreibe ich das hier eigentlich, ich bin nicht hier um eine Kundenrezension auf Trivago zu schreiben. Aber wenn’s jemanden interessiert: 2/5 Sternen.

An der Location angekommen, begrüßt mich mein Ansprechpartner. Er weist mir den Weg, und ich stapfe die Stufen nach oben hoch zum Gibson Showroom. Nachdem die restlichen, rechtlichen Regelungen geklärt wurden, werde ich dort in den großen Raum nach hinten verwiesen. An der Wand strahlen die Gibsons, die einzeln bestimmt den Wert eines Kleinwagens besitzen. Ich suche mir einen Platz. Nach einiger Zeit sind zehn bis 15 Journalisten versammelt und warten.

Es dauert nicht lange, bis ein Herr mit etwas zerzaustem, blondem Haar nach vorne tritt. Der Herr begrüßt uns mit einem sympathischen Lächeln und stellt sich als Manager der Band vor. Er gibt die kurze Info, dass wir zwischendurch eine Pause machen werden, da das Album sehr lange geht. Er stapft zu seinem Rucksack und holt mit den Worten „Real old school“ zwei unscheinbare CD-Rohlinge raus. Mit den Worten „The OG way would’ve been vinyl“, ein mir sympathischer Mann, indeed. Er legt die erste CD in die PA-Anlage und los geht’s …

TOOL – „Fear Inoculum“

Lang erwartet, lang geheimgehalten: das Cover-Artwork zum neuen TOOL-Album „Fear Inoculum“!
  1. Fear Inoculum

Die ersten, leisen Synthie-Noten ertönen und klingen in etwa, als würde etwas Mechanisches hochfahren oder als würde ein Raumschiff nach mehrmaligen Betätigen des Zündschlüssels nicht anspringen wollen. Begleitet wird dies von der ersten Melodie, die sich zunächst anhört, als wenn sie von verzerrten Streichinstrumenten gespielt wird. Bei näherem Hinhören stellt sich heraus, dass es Adam Jones und Justin Chancellor sind, die den Gebrauch eines Volume-Pedals voll ausnutzen. Verschiedene, tribal klingende Percussions gesellen sich hinzu und machen Danny Careys ersten Auftritt auf dem neuen Album perfekt. Das ganze Klangbild ergibt einen sehr psychedelischen Aufbau.

Auf diesem Thema präsentiert sich nun Maynard James Keenan mit einer melancholischen und sanften Gesangsmelodie, während Danny Carey mittlerweile seinen Rhythmus auf die Toms verlagert hat, was dem Thema etwas mehr Tiefe und Druck verleiht. Danach steigert sich das Thema und eröffnet den ersten Quasi-Refrain, der mit seiner Melodie eingängig daherkommt. Kurz vor Minute sechs gibt es einen Wechsel in der Atmosphäre: TOOLs Musik zeichnet sich nicht nur durch Atmosphäre und eingängige Riffs auch, sondern auch durch die Komplexität, mit der sie erschaffen wird. Der folgende Part ist ein gutes Beispiel. Falls ich mich nicht verzählt habe, spielt die Gitarre einen 11/8-Takt, während die Drums einen Polyrhythmus spielen, in dem ein normaler 4/4-Takt mit den verschiedenen Zählzeiten und Akzenten von Jones und Chancellors verbunden werden. Allerdings möchte ich mich mit dem Takt nicht festlegen, ich bin kein studierter Musiktheoretiker.

Ein weiterer, herausstechender Punkt sind Keenans Gesangsharmonien im späteren Abschnitt des Songs, die mich etwas an das letzte PUSCIFER-Album erinnern. Es folgt ein grooviger Rhythmuspart, der in das Solo führt. Letztlich ein langer und großer Opener für das neue Album.

  1. Pneuma

Der Manager scheint nicht gelogen zu haben, als die CD auf den nächsten Track umspringt, zeigt sie diesen mit einer Länge von circa zwölf Minuten an.

Das Intro ist ruhig, wie beim Opener. Justin Chancellor spielt einen groovigen Part mit einem Delay-Pedal, im Zusammenspiel mit dem Rest wirkt das musikalische Thema rhythmisch sehr anspruchsvoll. MJK hüpft mit seinem Gesang, trotz des Polyrhythmuses und der musikalischen Komplexität, drüber hinweg und lässt den Part einfach und eingängig erscheinen. Die darauffolgende Öffnung des Themas wirkt wie ein Sonnenaufgang und bringt eine warme, erhellende Atmosphäre mit sich, die sich nicht lange hält, da mit dem Sprung in die zweite Strophe gefühlt jeder etwas anderes spielt. Hier entpuppt sich wieder das musikalisches Genie von TOOL. Es scheint, als ob jeder (einschließlich Gesang) eine andere Zählzeit hat, doch Danny Carey hält mit seinem Drumming alles soweit zusammen, dass es ein kohärentes Thema ergibt, bei dem man einen Beat oder einer Melodie folgen kann.

Ab circa der Hälfte des Songs gibt es einen Umbruch. Entweder Synthies oder eine Gitarre, die mit komischen Effekten versehen wurde, lassen eine Science-Fiction-Atmosphäre entstehen, die durch weitere Percussions verstärkt wird. Der Part leitet wunderbar in ein ruhiges, kleines Solo ein. Doch folgt auf leise, wie so oft bei TOOL, laut. Es bricht ein wahrhaftiger Metal-Part ein, der sich in das Thema der Strophe hineinsteigert, bis es in vollster Ekstase erklingt. In den letzten Zügen des Songs leitet die Band in ein spirituell klingendes Outro über und lässt den Song in dieser Stimmung enden.

  1. Invincible

„Invincible“ fängt mit einer bedrohlichen Stimmung an, gepaart mit einem mysteriösen Unterton und einem Funken Melancholie. Vor allem Maynard James Keenans Gesang unterstreicht diese Atmosphäre. Des Weiteren fällt auf, dass Chancellor am Bass seinen Delay-Effekt sehr gerne mag und auch in diesem Song benutzt. Auf einem relativ geraden Rhythmus schnappt Adam Jones die Gesangsmelodie auf der Gitarre auf und leitet nach einiger Zeit in den nächsten Rhythmuspart ein, der mit seinen entgegengesetzten Rhythmen von Gitarre und Bass nur so vor Komplexität sprießt. Zu all dem Überfluss entscheidet sich Carey auf diesem Part, ein kleines Drumsolo zu spielen.

Knapp bei der Hälfte angekommen, ändert sich wieder die Stimmung, angeführt durch ein Solo, welches entweder der Bass oder eine sehr dumpfe Gitarre spielt. Mit verzerrtem Gesang, Synthies wie aus einem Science-Fiction-Thriller und einem Riff, basierend auf der Pull-Through-Technik, spielen die Herren den „Soundtrack der Area 51“, wie ich es bezeichnen würde. Wer mit der Begrifflichkeit „Pull-Through-Technik“ nichts anfangen kann, hört sich am besten einmal den Song „Jambi“ vom Vorgänger „10,000 Days“ an. Dort benutzt Gitarrist Adam Jones diese Technik ebenfalls.

Der Song strotzt mit Rhythmusparts und gegen Ende sticht dies auch wieder heraus mit einem Part, den ich als „MESCHUGGAH auf Doom“ bezeichnen würde. Also ein Part, der trotz der schrägen Taktwechsel eingängig bleibt und zum Kopfwippen einlädt. Wie es sich für einen von Rhythmus geprägten Song gehört, enden wir natürlich auf entgegengesetzt gespielten Rhythmen von Gitarre und Bass.

  1. Legion Inoculant

Jetzt haben wir nach gut 40 bis 45 Minuten das erste Interlude. Ich kann es am besten als eine dreiminütige Vertonung einer „Akte X“-Episode beschreiben, die sich mit „Babylon 5“ verschmolzen hat.

Weiter geht’s mit TOOL!

  1. Descending

Nach einer kurzen Pause geht es weiter mit „Descending“, einem Song, der live schon sein Debüt feierte.

Zunächst haben wir eine sehr maritime Stimmung. Wir fühlen uns unter Wasser bei einem stürmischen Seegang, und Wellen brechen über unseren Kopf hinein. Mit der Zeit klaren die Geräusche immer mehr auf, bis der Bass einsetzt. Keenans Gesang lässt uns mit seiner Melodie in ein rituelles Abenteuer aufbrechen. Währenddessen fängt Jones mit seiner Gitarre an, ein Thema auf Chancellors Rhythmus zu spielen, und nach einiger Zeit wechseln die zwei, sodass Jones in den Hintergrund rückt und dem Bass die Möglichkeit zur Entfaltung seines Riffs gibt. An dieser Stelle wird uns wieder gezeigt, wie TOOL aus einem komplexeren Konstrukt, wie dem Polyrhythmus, etwas Eingängiges und Wohlfühlendes herausarbeiten können.

Der Titel „Descending“ passt als Beschreibung für große Teile des Songs sehr gut. Je weiter der Song sich zieht, desto mehr fühlt es sich an, als ob man in irgendetwas hinabsteigt. Dieses wird wieder durch weitere Komplexität hervorgehoben. Zum Teil stehen sich Jones und Chancellor mit verschiedenen Takten gegenüber. Wir steigen so lange herab, bis wir von einer Reprise des Intros von oben zurückbegrüßt werden. Die Sci-Fi-Einschläge durch die Synthesizer, die auf dem Album bisher immer mal wieder in Erscheinung treten, zeigen uns doch, dass wir ganz woanders gelandet sind, um weiterhin metaphorisch zu bleiben.

  1. Calling Voices

Die Stimmung schmiegt sich dem vorherigen Song an. So wurden wir grade noch von einer Atmosphäre des Unbekannten, jedoch Vertraulichen im vorherigen Song verabschiedet, und jetzt empfängt uns die Stimmung der Entdeckung von etwas Mystischem. Ob das letztlich auch lyrisch stimmt, kann ich nicht sagen, allerdings tippe ich auf nicht, auch wenn es die Stimmung der Musik mit auf den Weg gibt. Die Kombination der ruhigen Gitarrenmelodien und dem Gesang wirken etwas wie ein ritueller Klagegesang, der der Musik eine gewisse Melancholie verleiht.

Der Song baut sich immer weiter auf. Er wird immer lauter und druckvoller, bis wir bei einem Riff angelangt sind, der nur so zum Headbangen einlädt. Mit einer netten Rückkopplung hört der Song dann auch auf. Ein Song, der letztlich auf das Aufbauen bis hin zur vollen Dröhnung basiert und dies in schönster TOOL-Manier vollbringt.

  1. Chocolate Chip Trip

Auf dem ersten Blick sieht der Titel aus wie ein Scherz. Aber TOOL haben auch einen Song mit dem Namen „Die Eier von Satan“ im Katalog, also möglicherweise bekomme ich ein leckeres Rezept für Schokohaschkekse.

Klar ist auf jeden Fall von vorneherein, dass es eine Art Interlude sein wird. So soll es auch kommen, es ist ein Interlude, welches sich schon daran abzeichnet, dass der Player eine Lauflänge von unter zehn Minuten anzeigt. Bisher hatte nur das Interlude „Legion Inoculant“ eine Minutenanzahl im einstelligen Bereich. Aber wie klingt es nun?

Stellt euch eine esoterische Yogastunde vor, die von einem extraterrestrischen Drogenexperten geleitet wird. Die Yogaschule befindet sich dabei über einem Proberaum und dessen Wände und Böden sind nicht besonders gut schallgedämmt. Während dieses außerirdischen Esoterik-LSD-Yoga-Trips schallt auf einmal der sehr talentierte Drummer von unten durch und spielt einfach mal ein Drumsolo.

Carey zeigt hier, wie auf dem Rest des Albums, eine Mordsleistung.

  1. 7empest („Tempest“?)

Hier bin ich mir nicht sicher, ob der Titel, den ich auf meinem Infoblatt bekommen habe, nicht ein Tippfehler ist. Grade, da ich meine „Tempest“ im Gesang von Keenan mit herausgehört zu haben, aber bis jetzt konnte ich das nicht klären. Es wird sich sehr wahrscheinlich klären, sobald die Tracklist von offizieller Seite herausgeht.

Obwohl der längste Song des Albums eher mit einer etwas spirituell angehauchten Atmosphäre beginnt, ist es im Großen und Ganzen der härteste Song des Albums. Es befinden sich mehrere härtere Rhythmussektionen im Song, die einem zum Kopfwippen bewegen. Keenans Gesang wirkt zusammen mit den Riffs aggressiv. Das Solo ist melancholisch und psychedelisch, aber wirkt gleichzeitig auch dissonant, schräg und gewollt chaotisch. Natürlich begegnen uns weiterhin rhythmisch anspruchsvolle Parts.

Erst am Ende wechselt die Härte und eröffnet ein wunderschönes, einprägsames Riff, welches im weiteren Verlauf immer mal verändert wird, um verschiedene Facetten des musikalischen Themas zu beleuchten.

  1. Mockingbeat

Der letzte Track des Albums ist sowas wie ein Outro. Es besteht aus verzerrtem Vogelzwitschern und Percussions. Letztlich ist das fast dreiminütige Instrumental ziemlich schräg. Allerdings gibt es auf dem Album relativ viele schräge Ideen, also passt das Outro als Schluss eines langen und auch abwechslungsreichen Albums ziemlich gut.

Schlussgedanken

Am Ende des Durchgangs quäle ich mich zum Ausgang und beneide meine Kollegen, die sich das Album nochmal anhören können. Allerdings wartet auf mich eine mehrstündige Heimreise. Bei meinem Gang nach draußen revidiere ich einige Sachen. Vor allem, dass bei diesem dreckswarmen Wetter eine lange Hose eine gute Idee war. Ich verabschiede mich von jedem und bedanke mich herzlichst für die Einladung. Auf meiner Fahrt nach Hause gehe ich einige Sachen durch. TOOL haben sich eine Herausforderung geschaffen. Lange Songs im Rahmen von 13 bis 15 Minuten verlangen eine große Aufmerksamkeitsspanne. Nicht jeder besitzt die Geduld dafür, und für manchen werden solche Songs schnell langweilig. Doch TOOL sind in ihren Songs relativ abwechslungsreich und schaffen es, den Hörer bei sich zu halten, da in den Songs viel passiert. Über die Jahre scheint sich in der Hinsicht also genug Material gefunden zu haben.

15.08.2019

"Und sonst so?"

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