Stratovarius
Listening-Session zu "Elysium" und Bandprobe

Special

Mitte November, tiefe Wolken ziehen am Himmel vorüber und erleichtern sich in einem Starkregen. Der Weg führt nach Castrop-Rauxel, einer kleineren Stadt im Ruhrpott, die jahrzehntelang von Bergbau und Industrie geprägt wurde. Doch von dieser Vergangenheit ist an diesem Tag nicht viel zu sehen – durch die Wolkendecke dringt kaum Tageslicht, und der konzentrierte Blick richtet sich auf Lärmschutzwände, Kreisverkehre und schlecht lesbare Straßenschilder. Hier, irgendwo inmitten eines grauen Wohngebiets, sollen STRATOVARIUS bei einer Bandprobe anzutreffen sein. Es braucht schon etwas detektivisches Gespür, um schließlich das kastenförmige Lagergebäude zu finden, das etwas versetzt hinter den Einfamilienhäusern liegt. Hier bereitet sich also die multinationale Band STRATOVARIUS für die anstehende „7 Sinners World Tour“ mit HELLOWEEN vor. Mitten in der Provinz.

Da sich der etatmäßige STRATOVARIUS-Drummer Jörg Michael einer Krebsoperation und einer Therapie unterziehen musste (beides ist nach Angaben des Managements gut verlaufen), gilt es nun, den für die Shows angeheuerten Schlagzeuger Alex Landenburg in das Songmaterial einzuarbeiten. Wobei das so grundsätzlich gar nicht nötig ist, denn Alex ist natürlich ein erfahrener Mann an der Schießbude, gehörte zum Touring-Line-Up von ANNIHILATOR und ist derzeit bei AT VANCE und MEKONG DELTA aktiv, und so hat er die Stücke bereits sicher drauf.

Der Mann erzeugt an seinen Kesseln einen enormen Druck und entpuppt sich als Meister der Rimshots: Am Ende der Probe hält er zwei mehr oder minder zerfetzte Sticks in der Hand. Insgesamt geht es heute eher um Feinheiten, und das lässt Zeit für allerhand Sondereinlagen: Bassist Lauri Porra legt ein paar unplanmäßige Soli ein, während der schwedische Tastenmann Jens Johansson zwischen seinen Parts noch Zeit findet, auf seinem Handy Simse zu checken. Faszinierend. Matias Kupiainen hingegen wirkt die ganze Zeit über hochkonzentriert und in sich gekehrt, während er an seiner Gitarre atemberaubende Soli spielt. Bleibt Timo Kotipelto, der mit seiner ruhigen Art die Band zusammenhält, wohingegen sein kraftvoller Power-Metal-Gesang das Tüpfelchen auf dem I darstellt. Welche Stücke die Band auf Tour spielt, wird noch nicht verraten – das könnt Ihr im neuen Jahr selbst erfahren, solltet Ihr auf einen der Gigs von besagter Tour mit HELLOWEEN gehen.

Nach der Bandprobe geht es weiter nach Dortmund, wo den angereisten Musikjournalisten das neue Album „Elysium“ zum ersten Mal vorgespielt wird. Die Band produzierte „Elysium“ im Anschluss an die „Polaris World Tour“, die am 21. August dieses Jahres auf dem „Jazztori“-Festival in Finnland zu Ende ging. Aufgenommen wurde das Album in den 5-by-5-Studios in Pitäjänmäki/Helsinki, Finnland, und produziert hat es Gitarrist Matias Kupiainen selbst. Zwischen „Polaris“ und „Elysium“ liegen gerade einmal anderthalb Jahre – warum ging es diesmal so schnell? „Es war einfach so, dass nach der Trennung von Timo Tolkki und den vorausgegangenen Scherereien eine große Last von unseren Schultern fiel,“ erklärt Lauri Porra. „Die Songs sprudelten förmlich aus uns heraus und jeder kam ständig mit neuen Ideen an. Deshalb haben wir keinen Grund gesehen, noch länger mit den Aufnahmen zu warten,“ so der Bassist.

Und auch gilt, nicht lang warten – dies sind die Stücke:

Darkest Hours beginnt im flotten Rockrhythmus im Viervierteltakt. Während der Strophe noch verhalten, verbünden sich die Instrumente und Timo Kotipeltos Gesang zu einem hymnischen, etwas poppigen Refrain. Danach outen sich Matias Kupiainen und Jens Johansson bei ihren Soli als versierte Neoklassiker.

Under Flaming Skies geht noch einen Schritt weiter: Das Stück wird von Doublebass-Drums angetrieben, während der Gitarrist ein hakeliges Rhythmuspattern spielt. Im Refrain erreicht Kotipeltos Stimme erstmals höhere Lagen, ergänzt von Eiskristall-Keys.

Infernal Maze
Zunächst erklingt Timo Kotipeltos sanfte Stimme, bis eine bombastische Orchestereinlage klar macht, dass aus dem Stück keine Ballade werden wird. Vielmehr setzen Doublebass-Drums ein, und nicht nur der Refrain vermittelt eine düstere Stimmung. Während des ausgedehnten Solo-Teils dürfen sich Kupiainen und Johansson austoben, während der Sänger seine Stimme zum Ende hin Richtung Wolkendecke (es ist ja Winter) schraubt.

Fairness Justified geht am ehesten als Powerballade durch. Ein schwerer, langsamer Rhythmus und Keyboarduntermalung bilden das Grundgerüst, über dem Timo Kotipelto mit seinem Gesang den Song steuert. Etwas undurchsichtig in der Melodieführung, dafür aber mit einem sehr gefühlvollen Gitarrensolo.

Welch ein Kontrast dazu: The Game Never Ends ist ein Doublebass-Banger aus der Feder von Jens Johansson. Während der Strophe gibt Timo Kotipelto mit seinem Gesang die Melodie vor, während das hymnische Hauptthema von allen Instrumenten getragen wird. Zum Zungeschnalzen ist das wahnwitzige Keyboardsolo.

Lifetime In A Moment setzt mit einem langen, sakralen Intro ein, bevor die Gitarre über einem schweren Rhythmus Akkordsalven abfeuert. Das Ganze verbreitet bisweilen ein wohliges „Kashmir“-Feeling, wobei aber die spacigen Keys und der mystisch-schwere Chorus hervorstechen. Genau der richtige Track, um nach dem schnellen Stoff durchzuatmen.

Dazu bietet auch Move The Mountain Gelegenheit: Ballade Nr. Zwei setzt mit Klaviermelodie und Keyboardchor ein, bevor der blonde Stimmakrobat und Matias Kupiainen an der Akustikgitarre übernehmen. Sehr stringenter Track mit schöner Melodieführung. Passend dazu gibt es ein Moog-Solo von Jens Johansson, bei dem man sich fast an die Songs von den Tausend Seen erinnert fühlt.

Mit Event Horizon nimmt die Band unvermittelt, aber absehbar wieder Fahrt auf. Die Doublebass-Drums geben den flirrend schnellen Takt vor, und bereits vor der ersten Strophe gibt es die erste neoklassische Bridge. Matias Kupiainen und Jens Johansson wechseln sich mit atemberaubenden Soloeinlagen ab. Abgesehen davon wirkt der Song allerdings etwas undurchsichtig. Daran ändern dann auch die Raumschiff-Emergency-Samples nichts.

Elysium ist mit seinen 18 Minuten Länge der Mittelpunkt des Albums. Trotz der epischen Ausmaße nervt der Song aber nicht mit endlosen Wiederholungen, sondern erfährt mehr als einmal eine Wendung. Da wechseln sich hymnische Momente mit progressiven und vertrackten Parts ab, und wie in einem Kurzfilm entwickelt sich auch die Grundstimmung des Songs. Natürlich dürfen bei solch einem langen Stück keine ausschweifenden Instrumentaleinlagen und Soli fehlen – und die sind erwartungsgemäß erste Sahne.

Fehlt als Bonus noch der Track Castaway, der allerdings nur auf der Japan-Edition von „Elysium“ zu finden sein wird: Ein straighter, flotter Song mit neoklassischen Anleihen.

Insgesamt setzen STRATOVARIUS also ihren auf „Polaris“ eingeschlagenen Weg fort, wobei sich die Band hörbar als Einheit präsentiert. „Elysium“ ist sicherlich kein Überalbum, aber jeder, dem das Vorgängeralbum gefallen hat, wird mit dem neuen Werk genau das finden, was er erwartet: Und das sind vornehmlich nachvollziehbare Songstrukturen, hymnische, teils auch poppige Parts, hohe Power-Metal-Vocals, ein bisschen hakelige Gitarrenarbeit und vor allem Soloeinlagen bis zum Abwinken. „Elysium“ erscheint am 14. Januar 2011 via earMUSIC/edel. Und nicht verpassen: Kurz darauf werden STRATOVARIUS wieder in Deutschland auf der Bühne stehen.

17.12.2010

- Dreaming in Red -

Exit mobile version