Stone Temple Pilots
"Core" (25th Anniversary Super Deluxe Edition)

Special

„Born of Seventies classic rock, liberated by punk, especially the raw delirium of Southern California hardcore, dedicated to the grab and glow of pop songwriting.“ (Eric Kretz 1996)

„Core“, das Debüt der STONE TEMPLE PILOTS, wird 25 und gefeiert. Mit großem Hallo. Parallel zum Comeback der Band und zwei Jahre nach Scott Weilands Tod werden dem Einstand verschieden ausufernde Beigaben gewährt und zwecks Zelebrierung und Akquise unter das Volk gebracht. Und das ist tatsächlich angemessen.

Wolken in Kalifornien

TOCOTRONIC singen Anfang der Neunziger ungefähr zeitgleich „Wir sind hier nicht in Seattle, Dirk“. Auf Scott Weiland, Dan und Robert DeLeo an den Saiten sowie Eric Kretz am Schlagzeug trifft das durchaus auch zu – aber es ist ihnen egal, dass ihnen in San Diego eigentlich die Sonne aus dem Arsch scheinen dürfte. Was die vier als STONE TEMPLE PILOTS gebären, klingt bei gelegentlichen Wolkenlöchern insgesamt so eindeutig nach tiefhängenden Wolken wie nur irgendetwas. Grunge ist das popkulturelle Gebot der Stunde und die Herren sind noch dabei, als das meiste, was entfernt nach Seattle klingt, umgehend riesengroß wird. „Core“ verkauft sich acht Millionen Mal. Zurecht? Auch aus heutiger Sicht?

Weiland equals Heiland?

Bereits damals müssen sich die STONE TEMPLE PILOTS den Vorwurf gefallen lassen, den Löffel tief, allzu tief in das melancholisch glitzernde Glas mit dem PEARL JAM getaucht zu haben. Und in der Tat klingt die Band auf „Core“ deutlich stärker nach Eddie Vedders vergleichsweise gemäßigter, im Kern klassisch rockender Riesen-Combo als nach den zwischen Anarchie und Pop pendelnden NIRVANA oder ALICE IN CHAINS mit Metal in ihrer DNA. Das Besondere der STONE TEMPLE PILOTS macht allerdings Sänger und Vollblut-Rockstar Scott Weiland aus. Natürlich hat die Band ein Händchen für griffige Hits, allen voran Plush.
Aber erst die emotionale Interpretation durch Weiland, verbunden mit einem Faible für Provokation und angemessen exzentrischem Auftreten heben die PILOTS aus der Masse. So fasziniert „Core“ die vom Grunge elektrisierten Massen, in den USA noch stärker als in Europa. Wut trifft auf Selbstzweifel, auf Depression, auf Euphorie – und auf Abseitiges. Ein Song wie „Sex Type Thing“, der in der ersten Person die Vergewaltigungsphantasien eines Mannes schildert, wird zum Pop Hit, während CANNIBAL CORPSE wegen Songs, die in der ersten Person Gewaltphantasien eines Mannes schildern, der Segen der Zensur zuteil wird. Okay, der Gesamtkontext ist ein anderer und Weiland weist glaubwürdig jegliche relativierende oder gar verherrlichende Interpretation ab.

„Core“ bleibt interessant.

Und über solche Aufreger hinaus kann schlicht festgehalten werden: Die STONE TEMPLE PILOTS jedenfalls schnüren das passende Paket aus Pop, Distortion und Edginess, um durchzustarten. 25 Jahre später lässt sich der Erfolg von „Core“ als Grundstein der späteren (wechselhaften) Karriere immer noch nachvollziehen. Das Album ist zwar kein Klassiker aus der ersten Reihe des Grunge, kein „Nevermind“, kein „Badmotorfinger“, kein „Dirt“. Aber ohne Diskussion ein ziemlich interessantes Stück Musik – und nicht nur als Zeitdokument wichtig.

Was ist neu?

In der 25th Anniversary Super Deluxe Edition gibt es „Core“ zur CD auch als 180 Gramm-Vinyl. Und mit klanglich etwas mehr Wumms in den Gitarren. Ob man das toleriert, ob man das braucht, das hängt wohl vor allem davon ab, wann der Erstkontakt mit dem Werk stattgefunden und in welcher Form und wie tief sich die Stücke in ihrem ursprünglichen Gewand ins jeweilige Hirn eingebrannt haben.
Abgesehen vom Remastering bietet die sehr edel (sehr edel!) aufgemachte Box auch ein großformatiges Heft mit netten Liner-Notes von David Fricke vom Rolling Stone, vielen bunten Bildern und allen Lyrics. Sehr schick! Und neben einer Scheibe mit einem 5.1 Surround Mix, der Original-Version des Albums und vier, äh, zeitgenössischen Videos weitere drei Discs mit Zugaben.

Demos & B-Sides

Demos und B-Seiten: in den meisten Fällen die erbärmlichsten Kreaturen innerhalb der weiten Welt der Musik-Aufnahmen. Noch schlimmer bloß noch: Outtakes. Okay, B-Seiten haben mitunter eine ganz eigene Würde und auch Demos können Legenden-Status besitzen. Das sei fairerweise eingestanden. Aber den Wurmfortsatz eines Re-Releases in Form von unfertigen Arbeitsversionen späterer Klassiker braucht außer einem ganz kleinen Kreis von Devotees kein Mensch.
Das gilt im Prinzip auch für Disc 2 der 25th Anniversary Super Deluxe Edition von „Core“. Einschränkend sei aber auf die teilweise erträgliche Klangqualität der überwiegend unveröffentlichten Aufnahmen hingewiesen, zum Teil noch eingespielt unter dem Namen MIGHTY JOE YOUNG. Und darauf, dass „Only Dying“ erstmals präsentiert wird. Gleichsam düster wie federnd ist das Stück ursprünglich für den Soundtrack von „The Crow“ vorgesehen. Hauptdarsteller Brandon Lee erschießt sich während der Dreharbeiten tragischerweise versehentlich und der Song bleibt das nächste Vierteljahrhundert unter Verschluss. „Only Dying“ also bietet durchaus einen Mehrwert.
Das schon angesprochene „Sex Type Thing“ kommt zudem in einer lockeren Swing-Version, ruft in dieser Form allerdings die Art von Gänsehaut hervor, die man und frau eigentlich nicht so dringend braucht.

„Core“ – 25th Anniversary Deluxe Edition

Live 1993

Diese CD vereint in gut 70 Minuten zwei Live-Mitschnitte des Summer of ’93. Zum einen offerieren die STONE TEMPLE PILOTS Aufnahmen aus dem Castaic Lake Natural Amphitheater in Kalifornien, diese zumindest gab es zuvor noch nicht zu hören, zum anderen solche vom Reading Festival in England. Die Band hatte erst ein Album unters Volk gebracht, fast zwangsläufig ist die Hälfte der Stücke damit doppelt vorhanden. Und logischerweise handelt es sich insgesamt um eine fast vollständige und nahezu ausschließliche „Core“ografie. Lediglich „Creep“ und „Piece Of Pie“ fehlen in beiden Aufnahmen, in Reading wurde das ziemlich explizite „Lounge Fly“ vom kommenden Album „Purple“ ergänzt.
Lohnt sich das? Nun ja. Die Aufnahmequalität ist durchweg solide, allerdings fehlen zu einer Sternstunde der Bühnenunterhaltung, zumal konserviert, die wirklich elektrisierenden Momente. Cool ist zwar, dass bei „Lounge Fly“ Paul Leary von den BUTTHOLE SURFERS dabei ist – aber eher prinzipiell als klanglich. Und alles in allem lässt sich die Band, um es mal im typischen Jargon zu beschreiben, weder zu ausufernden Jam-Sessions oder spontanen Improvisationen in nennenswerter Form hinreißen noch gibt es irgendwie legendäre Statements oder euphorische Publikumsreaktionen. Außer derjenigen vor „Sex Type Thing“ in Klaifornien: Wenn das kleine Macho-Arschloch schon Dinge auf die Bühne zu schmeißen habe dann doch bitte „a good smoke“. More bad language included. Und dem lustigen Hinweis in Reading: „You probably haven’t heard most of our stuff really – except of that PEARL-JAM-Song that we copied …“
Generell gilt zudem: Scott Weiland singt gut und ist nett. Letzteres gilt auch für diese Disc. Und da es mit „Alive In The Windy City“ ansonsten nur ein offizielles Live-Album der STONE TEMPLE PILOTS gibt, 17 Jahre später aufgenommen, ist das nette „Live 1993“ auch nicht explizit jemandes kleine Schwester.

MTV Unplugged, November 17, 1993

Auf der letzten Scheibe schließlich gibt es sieben Stücke, die 1993 für MTV Unplugged als klanglich reduzierte Varianten aufgenommen wurden. Und wurde seinerzeit auch in jedem Rock-Haushalt, der etwas auf sich hielt, fleißig auf den Musiksender im Allgemeinen und die leisen Unplugged-Konzerte im Besonderen geschimpft, kann doch mit genügend Abstand eingestanden werden: Das intime Barhocker-Ambiente und die Abwesenheit potenziell schützender Verstärker-Wände hat eine ganze Reihe an Musikern erfolgreich zu einer noch direkteren und intensiveren Darbietung animiert. So auch die STONE TEMPLE PILOTS. Der ohnehin emotionale Gesang Scott Weilands trägt natürlich ebenso stark dazu bei. Highlight der Unplugged-Session ist das tatsächlich phänomenale, allerdings bereits veröffentlichte Bowie-Cover „Andy Warhol“, und auch die übrigen Songs treffen. (Zu „STT“ vgl. Disc 2.)

22.11.2017
Exit mobile version