Stephan Ahlers-Möller
Exklusive Preview zu Debüt-Roman "Aus dem Eis"
Special
Dr. Varneauxs Auto, ein alter, aber rüstiger Dodge, riecht nach Rauch und Abgasen. Als er den Motor anlässt und der Auspuff sofort einen kräftigen Schwall schwarzen Qualms in die Luft pustet, erkenne ich, woran Letzteres liegt. Der Grund für Ersteres ist nicht schwer zu erraten: Kaum sitzen wir im Auto, zündet sich der Arzt eine Zigarette an, die er aus dem Seitenfach der Fahrertür herauskramt. Zwei Züge und ein rasselndes Husten später setzt Varneaux den Wagen zurück und lenkt ihn vom Parkplatz des Flughafens auf die Straße, die hier endet und wohl nur einen Zweck hat: um aus der Stadt zum Flugplatz zu kommen.
Varneaux fährt gesittet und ruhig, für meinen Geschmack ein bisschen zu ruhig. Er ist einer dieser Fahrer, hinter denen man festhängt, die man aber auch nicht überholen kann, weil sie nur knapp unterhalb der Geschwindigkeitsbegrenzung fahren.
Die Heizung des alten Dodge fängt an zu arbeiten. Scheinbar hatte Varneaux nicht lange auf dem Parkplatz gestanden, sodass der Motor halbwegs warm geblieben ist.
Ich genieße die Wärme, die sie im Innenraum verteilt. Während der Arzt den Wagen über eine halb befestigte Landstraße lenkt, beobachte ich die Lichter der kleinen Stadt Grizzly Creek, auf die wir uns zubewegen. Andere Sehenswürdigkeiten gibt es hier nicht – der Flughafen liegt am Ende einiger bestellter Felder, die wir nun durchqueren, dahinter Wald und nichts als Wald.
Nur vor uns tut sich etwas. Lichter von fahrenden Autos. Werbeanzeigen blinken ihre Botschaften. Wir fahren an einem riesigen Lagerhaus vorbei; das übergroße Außenteil einer Klimaanlage zeigt, dass es temperiert wird.
»Was bewahren Sie denn da auf? Bärenschinken?« Anderson ist baff.
»Das ist unser Kühlhaus«, antwortet Dr. Varneaux. »Im Winter sind wir darauf angewiesen. Alles, was wir hier nicht selbst jagen können, müssen wir uns anliefern lassen, bevor der Schnee die Straßen dichtmacht.«
Schon bald fahren wir an einem Ortsschild vorbei, das ankündigt: »Grizzly Creek. Bewohner: 450.«
»Hat die Stadt wirklich genau 450 Bewohner?«, frage ich von meinem Platz auf der Rückbank. Ganz das Alphatier, für das ich ihn von Anfang an gehalten habe, hat sich Dr. Anderson natürlich den Beifahrersitz gesichert und mich hinten Platz nehmen lassen.
»Plus/minus«, antwortet Dr. Varneaux. »Früher wurde die Zahl auf dem Schild einmal jährlich aktualisiert. Aber als kaum noch Leute dazukamen und immer mehr Alte starben, hat die Verwaltung wohl beschlossen, dass das zu deprimierend ist. Grizzly Creek ist hoffnungslos überaltert. Der Durchschnitt liegt irgendwo bei 50.« Er lacht humorlos. »Früher, als ich hierhergezogen bin, hatte die örtliche Schule zwei Klassen für jeden Jahrgang. Heute zählt der größte Jahrgang 17 Schüler, und eine neunte Klasse gibt es gar nicht.«
»Sie kommen also nicht von hier?« Damit versuche ich, das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken. Auch wenn ich Dr. Varneaux gerne beim Erzählen zuhöre, habe ich keine Lust auf das pessimistische »Früher war alles besser« eines alten Mannes.
»Nein«, antwortet Dr. Varneaux. »Ich komme aus der Nähe von Montreal. Bin erst vor rund zwanzig Jahren hergekommen.«
»Was waren denn Ihre Gründe, in ein verdammtes Nest wie dieses zu ziehen?«, fragt Dr. Anderson. Wenig diplomatisch. Irgendeine Laus scheint ihm über die Leber gelaufen zu sein.
»Geht Sie nichts an«, grummelt Varneaux zurück.
Super, denke ich mir. Wenn das mit der Laune so weitergeht, werden das ja heitere drei Wochen.
Varneaux atmet einmal durch. »Schuldigung«, sagt er dann. »Hatte meine Gründe, herzukommen. Jeder hier hatte seine Gründe, an den Arsch der Welt zu ziehen. Es sei denn, man ist hier geboren.«
»Ziehen denn viele Leute hierher?«, frage ich. »Ich meine, ist das Verhältnis von hier Geborenen und Zugezogenen so ausgeglichen?«
»Liegt ungefähr bei zwei Dritteln zu einem Drittel, schätze ich. Ein Ort wie Grizzly Creek ist perfekt, um sich zu verstecken. An zwei, drei Monaten im Jahr kommt keiner raus und keiner rein. Wenn Sie jemand sucht, kommt er mit allergrößter Wahrscheinlichkeit nicht auf die Idee, ausgerechnet in Grizzly Creek nach Ihnen zu gucken. Und weil hier so viele Leute ihre kleinen und größeren Geheimnisse haben, fragt im Normalfall keiner danach, welche Leichen Sie im Keller haben.«
Wir fahren auf eine T-Kreuzung zu. Geradeaus scheint die Straße um die Stadt herumzuführen, links sehe ich die ausladenden Fassaden von Geschäftsgebäuden, die in so ziemlich jeder Stadt der Welt den Ortskern markieren.
Dr. Varneaux setzt den Blinker und biegt links ab.
»Zu ihrer Unterkunft für die drei Wochen geht es geradeaus, aber ich wollte Ihnen vorher meine Praxis und das Labor zeigen, in dem Sie arbeiten werden. Außerdem lernen Sie so unsere kleine Stadt kennen. Das hier ist übrigens die Hauptstraße.«
Ich weiß nicht, was ich erwartet habe, aber Grizzly Creek bietet mehr als gedacht. Ich sehe einen Supermarkt, einen Laden für Videospiele, ein Kino, ein Schwimmbad und eine Oben-ohne-Bar. Ich überschlage, was davon eine Stadt vergleichbarer Einwohnerzahl in Deutschland hätte. Wahrscheinlich gar nichts. Mit einer Tankstelle und einem Kiosk kann man sich in einem deutschen 450-Seelen-Nest glücklich schätzen.
Wir fahren weiter die Hauptstraße entlang. Ich beobachte, woran wir vorbeikommen. Ein Bekleidungsgeschäft. Ein großes Lagerhaus. Mehrere Bars. Eine Metzgerei. Ein Jagdwaffengeschäft.
»Lohnt sich das alles denn für 450 Einwohner?«, frage ich.
Varneaux zuckt mit den Schultern. »Eigentlich nicht. Aber wie Sie wissen, sind wir hier jeden Winter von der Außenwelt abgeschnitten. Da braucht es Ablenkung oder die Leute drehen durch. Außerdem kommen im Sommer und im frühen Herbst viele Touristen zu uns, um zu jagen oder weiter im Norden im Eis zu angeln. Die bringen immer eine Menge Geld mit.« Er seufzt. »Aber ich schätze, Sie haben recht. Auf Dauer lohnt sich das alles nicht. Ich gebe Grizzly Creek noch zwanzig Jahre, bevor es ausstirbt. Und damit gehöre ich zu den Optimisten.«
Wir fahren auf eine Kreuzung zu. Die vordere rechte Ecke beherbergt ein Geschäft für Anglerbedarf, auf der linken Seite wirbt eine Videothek mit »Angebot für den Winter: 2 Filme ausleihen, einen bezahlen«. Dabei habe ich gedacht, Videotheken wären in Zeiten von Streamingdiensten längst ausgestorben. Dann fällt mir ein, dass hier im Winter möglicherweise auch die Telekommunikation zusammenbricht, wenn es hart auf hart kommt.
Ohne Umschweife schießt mir das Bild eines Videothekenbesitzers in den Kopf, der mit einem Beil einen Telefonmasten zerlegt, um für Umsatz in seinem Laden zu sorgen.
Ich kichere. Anderson irritiert das, wie ich in seinem Gesicht erkenne, obwohl ich nur sein Profil sehen kann. Varneaux scheint hingegen zu glauben, dass ich über seinen Witz mit den Optimisten gekichert habe, und wirkt zufrieden.
»Da wären wir auch schon«, sagt der Arzt. Er deutet auf das Gebäude an der linken hinteren Ecke der Kreuzung. »Das ist meine Praxis. Im Anbau links davon sind mein Labor und meine Leichenhalle.«
»Ihre Leichenhalle?«, fragt Anderson.
»Was denken Sie denn, wer zuständig ist, wenn hier jemand ins Gras beißt?« Er lacht trocken auf, so trocken, dass sich das Lachen mit Raucherhusten vermischt. »Ich bin hier im Umkreis von achtzig Meilen der einzige Mensch mit medizinischer Ausbildung.«
»Scheint ein härterer Job zu sein, als ich erst angenommen habe«, sage ich.
»Geht so. Mal ist viel los, mal gar nichts. Hält sich die Waage.«
»Ich meinte auch eher, dass sie gleichzeitig Allgemeinmediziner, Pathologe, Rechtsmediziner und Laborant der Region sind.«
»Was soll ich machen? Außerdem mag ich die Abwechslung. Wenn man in einem Loch wie Grizzly Creek feststeckt, ist man um alles froh, was ein bisschen vom Alltag abweicht. Deshalb habe ich auch den Schleim untersucht.«
Er parkt seinen Wagen auf einem Platz, der mit »Reserviert für den Arzt« gekennzeichnet ist. Scheinbar ist es selbst hier notwendig, das Revier zu markieren, um nicht fünf Meter mehr gehen zu müssen.
Wir steigen aus und Dr. Varneaux weist uns den Weg in die Praxis, die wir über eine Seitentür betreten. Er macht das Licht an und ich sehe, dass die Praxis mindestens genauso gut ausgestattet ist wie eine durchschnittliche deutsche Notaufnahme.
Klar, sage ich mir. Geht hier ja nicht anders.
Ich frage mich, ob Dr. Varneaux von der Stadt Zuwendungen bekommt, um die Praxis so gut auszustatten. Wahrscheinlich ja, aber ich spreche es nicht laut aus. Mittlerweile habe ich mitbekommen, dass der Hase hier in Richtung Ignoranz läuft. Lieber nicht nachfragen, bevor jemand anders nach dir fragt.
Das ist mir nur recht. Schließlich habe ich wohl ähnliche Beweggründe wie die meisten Zugezogenen, obwohl mein Aufenthalt nur für drei Wochen geplant ist.
Er geleitet uns in den hinteren Teil des Gebäudes und öffnet eine Tür, an der »Labor« steht. Auch hier knipst er das Licht an und führt uns hinein.
Ich sehe mich um. Das Labor ist gut genug sortiert, um den ersten gröbsten Teil der Arbeit zu erledigen. Alles Weitere würde dann in Bremen beziehungsweise Vancouver geschehen müssen. Aber es gibt Mikroskope, Analysewerkzeuge, Zentrifugen und einen Computer. Das ist mehr, als ich erwartet habe.
Anderson seufzt. »Für den Anfang sollte es reichen.«
Ich überlege, wie lange es wohl dauern wird, bis ich ihn verprügeln möchte. Ich stöhne innerlich. Drei harte Wochen stehen mir bevor.
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