Stephan Ahlers-Möller
Exklusive Preview zu Debüt-Roman "Aus dem Eis"

Special

Der Flug mit der Cessna ist holprig, aber zu ertragen.
Vor einigen Monaten hätte ich mich wohl schon beim Gedanken, in so ein Ding einzusteigen, übergeben müssen. Aber jeder Meter, den mich das Flugzeug nach Norden trägt, ist ein Meter, den ich mich von Tobi entferne. Und mit jedem Meter, den wir auf unserem Weg nach Grizzly Creek zurücklegen, lasse ich die Uni Bremen hinter mir, an der ich mir in den letzten Monaten stets wie eine Außenseiterin vorgekommen bin.
Mein Fauxpas hat sich nicht nur in meinem Institut in Windeseile verbreitet, sondern in der kompletten naturwissenschaftlichen Fakultät. Die Bandbreite an unangenehmen Reaktionen reicht von unterdrücktem Lachen, wenn mir Kollegen auf dem Gang begegnen, hin zu offener Feindlichkeit von Leuten, die mir schlechte wissenschaftliche Praxis vorwerfen. Sogar meine Studenten haben von der Geschichte erfahren und mich in einem Seminar mit kritischen Fragen gelöchert.
Dabei ist alles, was ich falsch gemacht habe, in einem einfachen Satz erklärt: Ich habe mich auf einen Kollegen verlassen.
Der Flug wird nicht besser, als Dr. Anderson mich gleich nach dem Start darauf anspricht. Er muss mich beinahe anschreien, denn eine Cessna ist laut. Man kann sich darin nicht in normaler Lautstärke unterhalten wie in einem Passagierflugzeug, obwohl wir unangenehm eng beieinandersitzen.
»Wie ist es eigentlich zu Ihrem Ausrutscher mit dem Artikel in Microbiology Today gekommen?«, fragt er mich.
Ich möchte nicht antworten, möchte am liebsten gar nicht über die Geschichte reden. Schließlich fliehe ich gerade vor meinem Leben in Deutschland. Aber ich hätte mir denken müssen, dass mich Dr. Anderson genauso durchleuchtet wie ich ihn.
Ich zucke mit den Achseln. »Ich habe mich auf einen Kollegen verlassen, der nicht sauber gearbeitet hat«, sage ich. »Ein Fehler, der mir nicht nochmal passieren wird.«
Ich hoffe, er nimmt mir die indirekte Ankündigung, jedes seiner Ergebnisse doppelt und dreifach zu prüfen, nicht übel. Ich habe einen Ruf verloren, und die Expedition ist mein Weg, diesen Ruf wieder herzustellen. Ich kann mich nicht blind auf jemanden verlassen. Selbst wenn dieser Jemand als der neue helle Stern unseres Fachgebietes gilt.
Ich beobachte, wie sich sein Mundwinkel kaum merklich verzieht. Offenbar hat er sich etwas anderes erhofft. »Das ist vernünftig«, sagt er trotzdem – aber er sagt es kalt. Es passt ihm nicht, dass ich vorhabe, mich nach bestem Wissen und Gewissen einzubringen.
Mir ist natürlich klar, warum: Die Erforschung einer neuen Bakterienart wäre für seine Karriere förderlicher, wenn er die Ergebnisse federführend oder gar allein veröffentlichen könnte.
Langsam wird mir klar, warum Dr. Anderson nur wenig echte Freundlichkeit für mich übrig hat. Mein Job wird es in den nächsten Tagen sein, ihn davon zu überzeugen, dass ich eine ernstzunehmende Wissenschaftlerin bin. Erst dann wird er auf Augenhöhe mit mir zusammenarbeiten.
Innerlich stöhne ich auf, aber ich habe damit gerechnet. Auch im Jahr 2018 bin ich es als Frau noch gewohnt, auf der Karriereleiter mehr Ellenbogen einsetzen zu müssen als meine männlichen Kollegen. Traurig, aber wahr.

Ich bin keine Expertin für Luftfahrt, aber der Pilot der Cessna scheint zu wissen, was er tut. Trotz heftiger Böen während des Anflugs, die mir den Mageninhalt kräftig durcheinanderwirbeln, setzt er die Maschine gekonnt sanft auf der Landebahn außerhalb von Grizzly Creek ab.
Ich versuche, geduldig zu sein, bis das Flugzeug steht und der Pilot uns sagt, dass wir uns abschnallen können. Aber es gelingt mir nicht. Zu unangenehm ist mir die Nähe zu Dr. Anderson auf der Rückbank, und zu aufgeregt bin ich, endlich an die Arbeit gehen zu können.
Ja, ich habe meine ganz speziellen Gründe gehabt, mich für die Expedition zu bewerben. Ja, ich nutze die Reise mitten ins Nirgendwo des nördlichen Kanadas, um vor Tobi zu fliehen. Und ja, ich brauche gute Ergebnisse und einen guten Artikel über die neue Bakterienart, um meine Karriere wieder auf die Beine zu stellen. Aber es gab noch einen Grund, mich auf die Stelle zu bewerben: wissenschaftliche Neugier. Ich liebe mein Fach, und eine neue Bakterienart an der Grenze zwischen Arktis und Subarktis findet man heute nicht mehr häufig.
Ich bin ungeduldig, als sich die Maschine nach der Landung für mein Empfinden regelrecht schleichend auf das Gebäude zubewegt, das hier in Grizzly Creek wohl Terminal, Ankunftshalle und Tower zugleich ist. Zumindest sehe ich durch die Fenster weit und breit kein weiteres Flughafengebäude. Im Gegenteil: ein Haus, daneben ein Hubschrauber, eine Start- und Landebahn, sonst nichts. An drei Seiten ist der Flughafen von Wald umgeben – Grizzly Creek liegt mitten im borealen Nadelwald, der hier trotz seiner fast arktischen Lage unheimlich dicht ist. Die vierte Seite verdeckt mir das Flughafengebäude, aber ich gehe davon aus, dass sich dahinter die Stadt befindet.
Noch auf der Rollbahn räume ich meine Sachen zusammen. Es vergehen gefühlt Stunden, dann bringt der Pilot die Maschine vor dem Gebäude zum Stehen und schaltet die Motoren aus.
»Da wären wir«, sagt er über die Lautsprecher und öffnet seine Tür.
Ich öffne meine und versuche, meine Beine aus dem engen Fußraum zu schälen. Noch wundere ich mich, wie ich die zweieinhalb Stunden Flugzeit ohne einen Krampf überstanden habe. Dann stehe ich und atme erleichtert auf. Den Flug über hat wohl doch eine gewisse Beklommenheit an mir genagt.
Ich ziehe meine schwarze Daunenjacke hinter mir her. Das Ding ist uralt, aber warm, und nur das zählt hier oben. Ich brauche einen Moment, bis ich die Jacke übergestreift und zugemacht habe. Das reicht der Kälte, um mit ihren eisigen Fingern nach mir zu greifen und mich erzittern zu lassen.
Der Pilot lädt mittlerweile unsere Taschen aus dem Kofferraum im Heck der Maschine. Ich greife mir meine und warte, bis Dr. Anderson fertig ist. Auch er ist erst ausgestiegen und hat sich dann etwas übergezogen – und sofort zu zittern begonnen.
Er holt einen Umschlag aus der Tasche seines Wintermantels. Darin zählt er einige Geldscheine ab, die er dem Piloten gibt. Er bemerkt, dass ich ihm dabei zuschaue.
»Unsere Spesenkasse«, sagt er. »Reicht, um den Piloten zu bezahlen und uns zwei Ferienwohnungen zu mieten. Für viel mehr aber nicht. Also Kassenzettel besser aufbewahren.«
Ich nicke. Dass es überhaupt eine Spesenkasse gibt und wir nicht aus eigener Tasche in Vorleistung gehen müssen, ist im wissenschaftlichen Bereich Luxus. In Deutschland wäre das nur für große Prestigeprojekte mit staatlicher Förderung möglich, nicht für eine Zwei-Mann-Expedition an den Rand der Zivilisation, so spektakulär der Bakterienfund auch ist.
Anderson sieht sich um, ich folge seinem Blick.
Neben dem Hauptgebäude stehen zwei Personen. Eine davon trägt eine Polizeiuniform mit Sheriffstern, die andere ist ein älterer Mann mit Regenjacke. Es regnet nicht, und ich frage mich, ob so eine Jacke nicht viel zu dünn ist. Die Leute, die hier wohnen, haben wohl eine dickere Haut als ich, die ihr ganzes Leben in der gemäßigten Zone verbracht hat.
Ich setze mich in Bewegung. Da sonst niemand mit uns im Flugzeug war, gehe ich davon aus, dass die beiden Männer unser Empfangskomitee darstellen. Im Gehen sehe ich mich nach Dr. Anderson um und stelle fest, dass er meine Initiative nicht gut findet.
Das ist mir egal. Formal sind wir beide gleichgestellt, es gibt in unserem Zwei-Menschen-Team keinen offiziellen Expeditionsleiter. Außerdem ist mir kalt und ich will ins Warme.
Ich gehe auf die beiden Männer zu, die auf uns warten. Um Dr. Andersons Methode von vorhin zu imitieren, setze ich ein hoffentlich gewinnendes Lächeln auf und strecke ihnen noch auf dem Weg die Hand entgegen.
»Ich bin Dr. Jennifer Meier von der Universität Bremen in Deutschland. Das ist mein Kollege Dr. Marcus Anderson von der Universität in Vancouver.« Mit der Hand, die ich nicht ausgestreckt halte, deute ich auf Anderson, der hinter mir antrabt.
Der Mann in der Polizeiuniform ergreift meine Hand mit einem kräftigen Händedruck und schüttelt sie. »Sergeant Cliff Nadiquak. Ich bin der hiesige Polizeichef.«
Erst als er seinen Namen nennt, erkenne ich, dass der Polizist kein Weißer ist. Ich beurteile Menschen nicht nach ihrer Hautfarbe, aber es war mir vorher nicht aufgefallen. Seine Gesichtszüge und sein Name zeigen eindeutig, dass er zu den First Nations gehört, den kanadischen Ureinwohnern.
Sergeant Nadiquak wendet sich seiner Begleitung in zivil zu. »Das hier ist Dr. Jacques Varneaux, unser Arzt. Er ist derjenige, der die Bakterien entdeckt hat. Und in seiner Praxis befindet sich das einzige Labor der Stadt. Er hat sich freundlicherweise bereiterklärt, Ihnen die Arbeit dort zu ermöglichen.«
Ich strecke auch ihm meine Hand hin. Er ergreift sie und drückt zu, doch im Gegensatz zum Händedruck des Sergeants ist seiner schwach und fahrig. Er lächelt mich nicht freundlich an, wie es Nadiquak getan hat, sondern nickt nur kurz. In seinem Gesicht sehe ich rote Wangen und eine Menge geplatzter Äderchen.
Dr. Varneaux scheint ein Faible für gewisse Flüssigkeiten zu haben.
Anderson, der mittlerweile angekommen ist, sagt nichts und bietet den beiden auch nicht die Hand an. Stattdessen nickt er ihnen nur kurz zu.
Eingebildeter Fatzke, denke ich mir.
»Ich muss mich leider entschuldigen«, redet der Sergeant weiter. »Grizzly Creek bereitet sich auf den Winter vor. Wie Sie vielleicht wissen, heißt das bei uns ein bisschen was anderes als sonst wo.«
In der Tat habe ich gelesen, dass die Stadt im Winter oft einige Wochen oder gar Monate von der Außenwelt abgeschnitten und auf sich allein gestellt ist.
»Deshalb habe ich momentan viel zu tun«, fährt Nadiquak fort. »Aber unser guter Dr. Varneaux fährt Sie zu Ihrer Unterkunft und gibt Ihnen eine kleine Tour durch die Stadt. Wenn Sie sich frisch gemacht und Ihre Bleibe bezogen haben, fährt er sie heute noch zu dem See, an dem er den Schleim gefunden hat.« Nadiquak nickt uns zu. »Also dann.« Er tippt sich an den Hut, dreht sich um und geht.
Ich wende mich dem Arzt zu. »Danke für Ihre Mühen, Dr. Varneaux.«
»Kein Problem, wirklich nicht.« Seine Stimme klingt rau und er redet mit einem starken Akzent. »Folgen Sie mir, bitte.«

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Quelle: Autor
07.04.2022

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