Stephan Ahlers-Möller
Exklusive Preview zu Debüt-Roman "Aus dem Eis"
Special
Stephan Ahlers-Möller aka. Herr Møller war einst als Textchef und Redakteur für metal.de tätig und sorgte für unzählige kompetente Reviews im Underground-Black-Metal und anderen Genres. Eine Zeit lang betrieb das Nordlicht zudem die Kolumne “Herr Møllers rumpelnde Untergrund-Obskuritäten”.
Leider hat uns Stephan Ahlers-Möller vor einiger Zeit freundschaftlich den Rücken gekehrt, um sich dem ungleich anspruchsvolleren Verfassen von Belletristik zu widmen. Am 08.04.2022 erscheint nun im Eigenverlag (Books on Demand) sein erster Roman “Aus dem Eis”, der im Genre des Myster-Horror anzusiedeln ist. Freundlicherweise stellte er uns das erste Kapitel seines Romans als Quasi-Vordruck zur Verfügung.
Das Buch kann ab 08.04. im digitalen Format über Amazon bezogen werden. Mehr über den Autor erfahrt ihr hier. Umseitig beginnt das erste Kapitel des Romans, dessen Cover von Florin Sayer-Gabor entworfen wurde.
Aus: Stephan Ahlers-Möller: Aus dem Eis. Kapitel 1.
Es ist anderthalb Wochen her, dass ich am Flughafen in Whitehorse war. Nageln Sie mich nicht auf das genaue Datum fest. Ich fürchte, ich habe in den letzten paar Tagen die Orientierung verloren. Das betrifft auch mein Zeitgefühl.
Egal. Ich stand am Flughafen in Whitehorse, der Hauptstadt des Yukon, ziemlich weit im Süden. Das ist die größte Stadt in dem ganzen Territorium und damit die einzige, die über einen Verkehrsflughafen verfügt. Wenn man den Rest des Gebiets mit einem Flugzeug erreichen will, muss man in so ein kleines Ding mit Propeller steigen, eine Cessna oder so.
Früher hätte ich mich sowas nie getraut. Früher habe ich zu viel Angst vor dem Tod gehabt. Aber die letzten Wochen und Monate haben mich abgehärtet. Wissen Sie, ich hatte mit diversen Problemen zu kämpfen, beruflicher und privater Natur. Das tut hier zwar noch nichts zur Sache, aber ich erwähne es, weil es im Laufe der Geschichte eine gewisse Rolle spielen wird.
Schauen Sie mich nicht so an! Ich weiß, was Sie denken, Sheriff. Sie halten mich für eine verrückte Alte, die irgendwelche Eisangler dummerweise in Ihrem Zuständigkeitsbereich aufgegabelt haben. Aber glauben Sie mir, Sie wären auch ein bisschen verwirrt, wenn Sie gesehen und erlebt hätten, was ich in den letzten Tagen gesehen und erlebt habe.
Aber der Reihe nach. Alles begann friedlich am Flughafen in Whitehorse.
Ich stehe am Terminal. Dort bin ich ziemlich allein auf weiter Flur. Flughäfen sind normalerweise die pure Hölle für mich, weil sie nur so vor Menschen wimmeln. Ich mag es nicht, in Menschenmassen zu stehen. Aus zwei Gründen fühle ich mich in der Hauptstadt des Yukon trotzdem einigermaßen wohl – oder zumindest wohler, als in den letzten paar Monaten.
Zum einen ist der Flughafen von Whitehorse keineswegs mit den großen Airports der Welt zu vergleichen, die ich auf meiner Reise schon hinter mich gebracht habe. Losgeflogen bin ich fast einen Tag vorher in Bremen, meiner Heimatstadt, von wo aus ich nach Frankfurt am Main geflogen bin, dann weiter nach New York City, schließlich nach Montreal und dann nach Whitehorse. Bis auf Bremen und Whitehorse sind all diese Flughäfen kleine Städte für sich, und im Gegensatz zu Whitehorse ist selbst Bremen noch ein Mega-Airport.
Hier ist kaum etwas los. Die wenigen Menschen, die mit mir in der Maschine aus Montreal gesessen haben, scheinen alle nicht weiterfliegen zu wollen. Zumindest stehe ich mit Ausnahme von ein paar Geschäftsmännern und einer Gruppe Touristen allein in der Halle, in der die Passagiere der kleineren Propellermaschinen abgefertigt werden, die sie weiter ins Landesinnere des Yukon bringen.
Der zweite Grund für mein gutes Gefühl ist, dass ich mich zum ersten Mal seit Monaten sicher vor meinem Ex-Mann Tobi fühle. Kurz nach der Hochzeit hat er sich als Arschloch entpuppt, was ich so lange ausgehalten habe, bis es um mein Kind ging. Anschließend habe ich mich scheiden lassen … was er nicht auf sich sitzen lassen wollte.
Am Flughafen warte ich auf meinen Kollegen für die Expedition: Dr. Marcus Anderson ist wie ich Mikrobiologe, wobei er sich auf das Feld der Bakteriologie spezialisiert hat. Während ich also theoretisch für alles zuständig bin, was in der Biologie in die Größenkategorie »Mikro« fällt, ist er Bakterienforscher … obwohl meine Spezialisierung innerhalb der Mikrobiologie dieselbe ist.
Dr. Anderson und ich sind die beiden Auserwählten, die es im Auftrag der Universität von Vancouver in den Yukon verschlagen hat. Ein Angler, der Arzt ist und sich somit halbwegs mit Biologie auskennt, hat dort in der Nähe des Städtchens Grizzly Creek »eine Art Schleim« entdeckt, wie er sich ausgedrückt hat. Die Proben, die er entnommen hat, haben tatsächlich eine neue Art von Bakterien enthüllt, wie es scheint. Dr. Anderson und ich haben den Auftrag, das zu bestätigen, die Bakterienart in ihrem natürlichen Umfeld zu beobachten und zu systematisieren.
Ich stehe in der fast leeren Abfertigungshalle und sehe mich um. Ich habe keine Ahnung, wie Dr. Anderson aussieht. Im Vorfeld habe ich ihm eine E-Mail geschrieben, ihm erklärt, wie ich aussehe und dass ich mich darauf freue, mit ihm zusammenzuarbeiten.
Das war keine Lüge. Dr. Anderson gilt als einer der kommenden Stars seines Gebietes. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er seinen eigenen Lehrstuhl bekommt. Sein Ruf ist der eines Allrounders: Er ist fachlich brillant und bringt gleichzeitig das diplomatische und politische Gespür mit, das man benötigt, um es in der akademischen Welt ganz nach oben zu schaffen.
Sein Interesse an meiner Person schien jedoch begrenzt zu sein. Auf meine E-Mail kam nur eine kurze Antwort: Er käme dann und dann mit einer Maschine aus Vancouver am Flughafen von Whitehorse an und komme dann zu mir, da meine Maschine aus Montreal früher da wäre. Er würde wohl warme Kleidung tragen.
Das war alles, was er mir geschrieben hat. Ich kann noch nicht einschätzen, ob er einfach kein Interesse hat, mit einer Kollegin aus Deutschland zu sprechen – vielleicht sieht er mich ja als Klotz am Bein –, oder ob er sich vorher auch ein Bild von mir gemacht hat und deshalb so kurz angebunden war.
Wenn er sich über mich informiert hat, ist er garantiert über den Fauxpas gestolpert, der mir vor einem Jahr passiert ist. Aber dann würde er ganz sicher verstehen, warum ich diese Förderstelle für internationale Zusammenarbeit in der Forschung brauche. Und warum mir eine neu entdeckte Bakterienart gut in die Karten spielt: weil ich meine Karriere retten muss.
Die Beschreibung, dass Dr. Anderson »wohl warme Kleidung« tragen würde, hilft mir nicht weiter. Es warten in Whitehorse nicht viele Personen auf ihre Anschlussflüge, aber alle hier tragen warme Winterkleidung, mich eingeschlossen. Grizzly Creek, die Kleinstadt, in der wir während unseres Aufenthaltes wohnen und arbeiten sollen, befindet sich nur wenige Meilen von der arktischen Zone entfernt. Offiziell gilt das Gebiet um die Stadt herum als subarktisch. Das stimmt insofern, als dass die Ortschaft mitten in den letzten Wäldern Kanadas liegt, bevor es ein Stück nördlich nur noch Eis und Schnee gibt. Spätestens im Oktober hält dort aber das arktische Klima Einzug.
Ein hochgewachsener, schlaksiger Mann kommt auf mich zu. Er hat einen mit Haargel gestylten Kurzhaarschnitt und trägt eine Brille mit dickem, schwarzem Rand. Der Reißverschluss seines Wintermantels ist geöffnet, darunter blitzt ein perfekt geschnittener schwarzer Anzug hindurch.
Er lächelt mich freundlich an, während er auf mich zuschreitet, aber seinen Augen sehe ich an, dass es nicht echt ist. Ein typisches Politikerlächeln, das wie alles an ihm den Eindruck von einem Typen vermittelt, der sich so gibt, dass es ihm Vorteile bringt.
»Dr. Meier?«, fragt er geschäftsmäßig.
Er ist bis auf wenige Schritte herangekommen und streckt mir seine Hand entgegen. Ich ergreife sie und zwinge mich ebenfalls zu einem Lächeln.
»Ja, genau«, antworte ich. Ich habe meine Bewerbung für die Forschungsexpedition auf Englisch verfasst und kann die Sprache flüssig lesen und schreiben. Nun soll ich zum ersten Mal seit gefühlten Ewigkeiten Englisch sprechen und krame nach den richtigen Worten. »Schön, Sie zu treffen, Dr. Anderson«, fällt mir als Begrüßungsfloskel ein.
»Die Freude ist ganz meinerseits«, antwortet er. Perfekt und makellos, wie alles an ihm. »Haben Sie sich schon schlaugemacht, wo wir hinmüssen?«
Die notwendigen Freundlichkeiten sind ausgetauscht, da geht er zur Tagesordnung über. Ich kann nur hoffen, dass er in den nächsten drei Wochen, auf die die Expedition ausgelegt ist, etwas auftaut. Sonst wird die Zusammenarbeit sehr anstrengend.
»Ja«, sage ich und suche in meinem Hirn nach den korrekten Worten. Nach einem »Ähm«, um mir etwas Zeit zu verschaffen, spreche ich weiter: »Da vorne müssen wir zur Abfertigung.«
Ich deute auf einen Schalter, an dem noch kein Personal steht. Da wir allein in der Cessna fliegen werden, wird sich wohl niemand dorthin verirren, solange wir uns nicht anstellen. »Anschließend können wir direkt zum Flugzeug durch. Eine viersitzige Cessna.«
Er nickt. »Gut«, sagt er und hebt meine Tasche auf, die ich zwischen meinen Füßen abgestellt habe. Dabei kommt er mir seltsam nahe, was sich unangenehm intim anfühlt.
»Was ist?«, fragt er.
Scheinbar stand mein Unwohlsein in meinem Gesicht.
»Ach nichts«, antworte ich. »Vielen Dank, sehr freundlich von Ihnen.«
»Ich bin als Gentleman erzogen worden.« Er lächelt.
Den ersten Eindruck eines schmierigen Karrieremenschen kann ich trotz dieser eigentlich netten Geste nicht ablegen.
»Gehen wir?«, fragt er.
Der Flug mit der Cessna ist holprig, aber zu ertragen.
Vor einigen Monaten hätte ich mich wohl schon beim Gedanken, in so ein Ding einzusteigen, übergeben müssen. Aber jeder Meter, den mich das Flugzeug nach Norden trägt, ist ein Meter, den ich mich von Tobi entferne. Und mit jedem Meter, den wir auf unserem Weg nach Grizzly Creek zurücklegen, lasse ich die Uni Bremen hinter mir, an der ich mir in den letzten Monaten stets wie eine Außenseiterin vorgekommen bin.
Mein Fauxpas hat sich nicht nur in meinem Institut in Windeseile verbreitet, sondern in der kompletten naturwissenschaftlichen Fakultät. Die Bandbreite an unangenehmen Reaktionen reicht von unterdrücktem Lachen, wenn mir Kollegen auf dem Gang begegnen, hin zu offener Feindlichkeit von Leuten, die mir schlechte wissenschaftliche Praxis vorwerfen. Sogar meine Studenten haben von der Geschichte erfahren und mich in einem Seminar mit kritischen Fragen gelöchert.
Dabei ist alles, was ich falsch gemacht habe, in einem einfachen Satz erklärt: Ich habe mich auf einen Kollegen verlassen.
Der Flug wird nicht besser, als Dr. Anderson mich gleich nach dem Start darauf anspricht. Er muss mich beinahe anschreien, denn eine Cessna ist laut. Man kann sich darin nicht in normaler Lautstärke unterhalten wie in einem Passagierflugzeug, obwohl wir unangenehm eng beieinandersitzen.
»Wie ist es eigentlich zu Ihrem Ausrutscher mit dem Artikel in Microbiology Today gekommen?«, fragt er mich.
Ich möchte nicht antworten, möchte am liebsten gar nicht über die Geschichte reden. Schließlich fliehe ich gerade vor meinem Leben in Deutschland. Aber ich hätte mir denken müssen, dass mich Dr. Anderson genauso durchleuchtet wie ich ihn.
Ich zucke mit den Achseln. »Ich habe mich auf einen Kollegen verlassen, der nicht sauber gearbeitet hat«, sage ich. »Ein Fehler, der mir nicht nochmal passieren wird.«
Ich hoffe, er nimmt mir die indirekte Ankündigung, jedes seiner Ergebnisse doppelt und dreifach zu prüfen, nicht übel. Ich habe einen Ruf verloren, und die Expedition ist mein Weg, diesen Ruf wieder herzustellen. Ich kann mich nicht blind auf jemanden verlassen. Selbst wenn dieser Jemand als der neue helle Stern unseres Fachgebietes gilt.
Ich beobachte, wie sich sein Mundwinkel kaum merklich verzieht. Offenbar hat er sich etwas anderes erhofft. »Das ist vernünftig«, sagt er trotzdem – aber er sagt es kalt. Es passt ihm nicht, dass ich vorhabe, mich nach bestem Wissen und Gewissen einzubringen.
Mir ist natürlich klar, warum: Die Erforschung einer neuen Bakterienart wäre für seine Karriere förderlicher, wenn er die Ergebnisse federführend oder gar allein veröffentlichen könnte.
Langsam wird mir klar, warum Dr. Anderson nur wenig echte Freundlichkeit für mich übrig hat. Mein Job wird es in den nächsten Tagen sein, ihn davon zu überzeugen, dass ich eine ernstzunehmende Wissenschaftlerin bin. Erst dann wird er auf Augenhöhe mit mir zusammenarbeiten.
Innerlich stöhne ich auf, aber ich habe damit gerechnet. Auch im Jahr 2018 bin ich es als Frau noch gewohnt, auf der Karriereleiter mehr Ellenbogen einsetzen zu müssen als meine männlichen Kollegen. Traurig, aber wahr.
Ich bin keine Expertin für Luftfahrt, aber der Pilot der Cessna scheint zu wissen, was er tut. Trotz heftiger Böen während des Anflugs, die mir den Mageninhalt kräftig durcheinanderwirbeln, setzt er die Maschine gekonnt sanft auf der Landebahn außerhalb von Grizzly Creek ab.
Ich versuche, geduldig zu sein, bis das Flugzeug steht und der Pilot uns sagt, dass wir uns abschnallen können. Aber es gelingt mir nicht. Zu unangenehm ist mir die Nähe zu Dr. Anderson auf der Rückbank, und zu aufgeregt bin ich, endlich an die Arbeit gehen zu können.
Ja, ich habe meine ganz speziellen Gründe gehabt, mich für die Expedition zu bewerben. Ja, ich nutze die Reise mitten ins Nirgendwo des nördlichen Kanadas, um vor Tobi zu fliehen. Und ja, ich brauche gute Ergebnisse und einen guten Artikel über die neue Bakterienart, um meine Karriere wieder auf die Beine zu stellen. Aber es gab noch einen Grund, mich auf die Stelle zu bewerben: wissenschaftliche Neugier. Ich liebe mein Fach, und eine neue Bakterienart an der Grenze zwischen Arktis und Subarktis findet man heute nicht mehr häufig.
Ich bin ungeduldig, als sich die Maschine nach der Landung für mein Empfinden regelrecht schleichend auf das Gebäude zubewegt, das hier in Grizzly Creek wohl Terminal, Ankunftshalle und Tower zugleich ist. Zumindest sehe ich durch die Fenster weit und breit kein weiteres Flughafengebäude. Im Gegenteil: ein Haus, daneben ein Hubschrauber, eine Start- und Landebahn, sonst nichts. An drei Seiten ist der Flughafen von Wald umgeben – Grizzly Creek liegt mitten im borealen Nadelwald, der hier trotz seiner fast arktischen Lage unheimlich dicht ist. Die vierte Seite verdeckt mir das Flughafengebäude, aber ich gehe davon aus, dass sich dahinter die Stadt befindet.
Noch auf der Rollbahn räume ich meine Sachen zusammen. Es vergehen gefühlt Stunden, dann bringt der Pilot die Maschine vor dem Gebäude zum Stehen und schaltet die Motoren aus.
»Da wären wir«, sagt er über die Lautsprecher und öffnet seine Tür.
Ich öffne meine und versuche, meine Beine aus dem engen Fußraum zu schälen. Noch wundere ich mich, wie ich die zweieinhalb Stunden Flugzeit ohne einen Krampf überstanden habe. Dann stehe ich und atme erleichtert auf. Den Flug über hat wohl doch eine gewisse Beklommenheit an mir genagt.
Ich ziehe meine schwarze Daunenjacke hinter mir her. Das Ding ist uralt, aber warm, und nur das zählt hier oben. Ich brauche einen Moment, bis ich die Jacke übergestreift und zugemacht habe. Das reicht der Kälte, um mit ihren eisigen Fingern nach mir zu greifen und mich erzittern zu lassen.
Der Pilot lädt mittlerweile unsere Taschen aus dem Kofferraum im Heck der Maschine. Ich greife mir meine und warte, bis Dr. Anderson fertig ist. Auch er ist erst ausgestiegen und hat sich dann etwas übergezogen – und sofort zu zittern begonnen.
Er holt einen Umschlag aus der Tasche seines Wintermantels. Darin zählt er einige Geldscheine ab, die er dem Piloten gibt. Er bemerkt, dass ich ihm dabei zuschaue.
»Unsere Spesenkasse«, sagt er. »Reicht, um den Piloten zu bezahlen und uns zwei Ferienwohnungen zu mieten. Für viel mehr aber nicht. Also Kassenzettel besser aufbewahren.«
Ich nicke. Dass es überhaupt eine Spesenkasse gibt und wir nicht aus eigener Tasche in Vorleistung gehen müssen, ist im wissenschaftlichen Bereich Luxus. In Deutschland wäre das nur für große Prestigeprojekte mit staatlicher Förderung möglich, nicht für eine Zwei-Mann-Expedition an den Rand der Zivilisation, so spektakulär der Bakterienfund auch ist.
Anderson sieht sich um, ich folge seinem Blick.
Neben dem Hauptgebäude stehen zwei Personen. Eine davon trägt eine Polizeiuniform mit Sheriffstern, die andere ist ein älterer Mann mit Regenjacke. Es regnet nicht, und ich frage mich, ob so eine Jacke nicht viel zu dünn ist. Die Leute, die hier wohnen, haben wohl eine dickere Haut als ich, die ihr ganzes Leben in der gemäßigten Zone verbracht hat.
Ich setze mich in Bewegung. Da sonst niemand mit uns im Flugzeug war, gehe ich davon aus, dass die beiden Männer unser Empfangskomitee darstellen. Im Gehen sehe ich mich nach Dr. Anderson um und stelle fest, dass er meine Initiative nicht gut findet.
Das ist mir egal. Formal sind wir beide gleichgestellt, es gibt in unserem Zwei-Menschen-Team keinen offiziellen Expeditionsleiter. Außerdem ist mir kalt und ich will ins Warme.
Ich gehe auf die beiden Männer zu, die auf uns warten. Um Dr. Andersons Methode von vorhin zu imitieren, setze ich ein hoffentlich gewinnendes Lächeln auf und strecke ihnen noch auf dem Weg die Hand entgegen.
»Ich bin Dr. Jennifer Meier von der Universität Bremen in Deutschland. Das ist mein Kollege Dr. Marcus Anderson von der Universität in Vancouver.« Mit der Hand, die ich nicht ausgestreckt halte, deute ich auf Anderson, der hinter mir antrabt.
Der Mann in der Polizeiuniform ergreift meine Hand mit einem kräftigen Händedruck und schüttelt sie. »Sergeant Cliff Nadiquak. Ich bin der hiesige Polizeichef.«
Erst als er seinen Namen nennt, erkenne ich, dass der Polizist kein Weißer ist. Ich beurteile Menschen nicht nach ihrer Hautfarbe, aber es war mir vorher nicht aufgefallen. Seine Gesichtszüge und sein Name zeigen eindeutig, dass er zu den First Nations gehört, den kanadischen Ureinwohnern.
Sergeant Nadiquak wendet sich seiner Begleitung in zivil zu. »Das hier ist Dr. Jacques Varneaux, unser Arzt. Er ist derjenige, der die Bakterien entdeckt hat. Und in seiner Praxis befindet sich das einzige Labor der Stadt. Er hat sich freundlicherweise bereiterklärt, Ihnen die Arbeit dort zu ermöglichen.«
Ich strecke auch ihm meine Hand hin. Er ergreift sie und drückt zu, doch im Gegensatz zum Händedruck des Sergeants ist seiner schwach und fahrig. Er lächelt mich nicht freundlich an, wie es Nadiquak getan hat, sondern nickt nur kurz. In seinem Gesicht sehe ich rote Wangen und eine Menge geplatzter Äderchen.
Dr. Varneaux scheint ein Faible für gewisse Flüssigkeiten zu haben.
Anderson, der mittlerweile angekommen ist, sagt nichts und bietet den beiden auch nicht die Hand an. Stattdessen nickt er ihnen nur kurz zu.
Eingebildeter Fatzke, denke ich mir.
»Ich muss mich leider entschuldigen«, redet der Sergeant weiter. »Grizzly Creek bereitet sich auf den Winter vor. Wie Sie vielleicht wissen, heißt das bei uns ein bisschen was anderes als sonst wo.«
In der Tat habe ich gelesen, dass die Stadt im Winter oft einige Wochen oder gar Monate von der Außenwelt abgeschnitten und auf sich allein gestellt ist.
»Deshalb habe ich momentan viel zu tun«, fährt Nadiquak fort. »Aber unser guter Dr. Varneaux fährt Sie zu Ihrer Unterkunft und gibt Ihnen eine kleine Tour durch die Stadt. Wenn Sie sich frisch gemacht und Ihre Bleibe bezogen haben, fährt er sie heute noch zu dem See, an dem er den Schleim gefunden hat.« Nadiquak nickt uns zu. »Also dann.« Er tippt sich an den Hut, dreht sich um und geht.
Ich wende mich dem Arzt zu. »Danke für Ihre Mühen, Dr. Varneaux.«
»Kein Problem, wirklich nicht.« Seine Stimme klingt rau und er redet mit einem starken Akzent. »Folgen Sie mir, bitte.«
Dr. Varneauxs Auto, ein alter, aber rüstiger Dodge, riecht nach Rauch und Abgasen. Als er den Motor anlässt und der Auspuff sofort einen kräftigen Schwall schwarzen Qualms in die Luft pustet, erkenne ich, woran Letzteres liegt. Der Grund für Ersteres ist nicht schwer zu erraten: Kaum sitzen wir im Auto, zündet sich der Arzt eine Zigarette an, die er aus dem Seitenfach der Fahrertür herauskramt. Zwei Züge und ein rasselndes Husten später setzt Varneaux den Wagen zurück und lenkt ihn vom Parkplatz des Flughafens auf die Straße, die hier endet und wohl nur einen Zweck hat: um aus der Stadt zum Flugplatz zu kommen.
Varneaux fährt gesittet und ruhig, für meinen Geschmack ein bisschen zu ruhig. Er ist einer dieser Fahrer, hinter denen man festhängt, die man aber auch nicht überholen kann, weil sie nur knapp unterhalb der Geschwindigkeitsbegrenzung fahren.
Die Heizung des alten Dodge fängt an zu arbeiten. Scheinbar hatte Varneaux nicht lange auf dem Parkplatz gestanden, sodass der Motor halbwegs warm geblieben ist.
Ich genieße die Wärme, die sie im Innenraum verteilt. Während der Arzt den Wagen über eine halb befestigte Landstraße lenkt, beobachte ich die Lichter der kleinen Stadt Grizzly Creek, auf die wir uns zubewegen. Andere Sehenswürdigkeiten gibt es hier nicht – der Flughafen liegt am Ende einiger bestellter Felder, die wir nun durchqueren, dahinter Wald und nichts als Wald.
Nur vor uns tut sich etwas. Lichter von fahrenden Autos. Werbeanzeigen blinken ihre Botschaften. Wir fahren an einem riesigen Lagerhaus vorbei; das übergroße Außenteil einer Klimaanlage zeigt, dass es temperiert wird.
»Was bewahren Sie denn da auf? Bärenschinken?« Anderson ist baff.
»Das ist unser Kühlhaus«, antwortet Dr. Varneaux. »Im Winter sind wir darauf angewiesen. Alles, was wir hier nicht selbst jagen können, müssen wir uns anliefern lassen, bevor der Schnee die Straßen dichtmacht.«
Schon bald fahren wir an einem Ortsschild vorbei, das ankündigt: »Grizzly Creek. Bewohner: 450.«
»Hat die Stadt wirklich genau 450 Bewohner?«, frage ich von meinem Platz auf der Rückbank. Ganz das Alphatier, für das ich ihn von Anfang an gehalten habe, hat sich Dr. Anderson natürlich den Beifahrersitz gesichert und mich hinten Platz nehmen lassen.
»Plus/minus«, antwortet Dr. Varneaux. »Früher wurde die Zahl auf dem Schild einmal jährlich aktualisiert. Aber als kaum noch Leute dazukamen und immer mehr Alte starben, hat die Verwaltung wohl beschlossen, dass das zu deprimierend ist. Grizzly Creek ist hoffnungslos überaltert. Der Durchschnitt liegt irgendwo bei 50.« Er lacht humorlos. »Früher, als ich hierhergezogen bin, hatte die örtliche Schule zwei Klassen für jeden Jahrgang. Heute zählt der größte Jahrgang 17 Schüler, und eine neunte Klasse gibt es gar nicht.«
»Sie kommen also nicht von hier?« Damit versuche ich, das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken. Auch wenn ich Dr. Varneaux gerne beim Erzählen zuhöre, habe ich keine Lust auf das pessimistische »Früher war alles besser« eines alten Mannes.
»Nein«, antwortet Dr. Varneaux. »Ich komme aus der Nähe von Montreal. Bin erst vor rund zwanzig Jahren hergekommen.«
»Was waren denn Ihre Gründe, in ein verdammtes Nest wie dieses zu ziehen?«, fragt Dr. Anderson. Wenig diplomatisch. Irgendeine Laus scheint ihm über die Leber gelaufen zu sein.
»Geht Sie nichts an«, grummelt Varneaux zurück.
Super, denke ich mir. Wenn das mit der Laune so weitergeht, werden das ja heitere drei Wochen.
Varneaux atmet einmal durch. »Schuldigung«, sagt er dann. »Hatte meine Gründe, herzukommen. Jeder hier hatte seine Gründe, an den Arsch der Welt zu ziehen. Es sei denn, man ist hier geboren.«
»Ziehen denn viele Leute hierher?«, frage ich. »Ich meine, ist das Verhältnis von hier Geborenen und Zugezogenen so ausgeglichen?«
»Liegt ungefähr bei zwei Dritteln zu einem Drittel, schätze ich. Ein Ort wie Grizzly Creek ist perfekt, um sich zu verstecken. An zwei, drei Monaten im Jahr kommt keiner raus und keiner rein. Wenn Sie jemand sucht, kommt er mit allergrößter Wahrscheinlichkeit nicht auf die Idee, ausgerechnet in Grizzly Creek nach Ihnen zu gucken. Und weil hier so viele Leute ihre kleinen und größeren Geheimnisse haben, fragt im Normalfall keiner danach, welche Leichen Sie im Keller haben.«
Wir fahren auf eine T-Kreuzung zu. Geradeaus scheint die Straße um die Stadt herumzuführen, links sehe ich die ausladenden Fassaden von Geschäftsgebäuden, die in so ziemlich jeder Stadt der Welt den Ortskern markieren.
Dr. Varneaux setzt den Blinker und biegt links ab.
»Zu ihrer Unterkunft für die drei Wochen geht es geradeaus, aber ich wollte Ihnen vorher meine Praxis und das Labor zeigen, in dem Sie arbeiten werden. Außerdem lernen Sie so unsere kleine Stadt kennen. Das hier ist übrigens die Hauptstraße.«
Ich weiß nicht, was ich erwartet habe, aber Grizzly Creek bietet mehr als gedacht. Ich sehe einen Supermarkt, einen Laden für Videospiele, ein Kino, ein Schwimmbad und eine Oben-ohne-Bar. Ich überschlage, was davon eine Stadt vergleichbarer Einwohnerzahl in Deutschland hätte. Wahrscheinlich gar nichts. Mit einer Tankstelle und einem Kiosk kann man sich in einem deutschen 450-Seelen-Nest glücklich schätzen.
Wir fahren weiter die Hauptstraße entlang. Ich beobachte, woran wir vorbeikommen. Ein Bekleidungsgeschäft. Ein großes Lagerhaus. Mehrere Bars. Eine Metzgerei. Ein Jagdwaffengeschäft.
»Lohnt sich das alles denn für 450 Einwohner?«, frage ich.
Varneaux zuckt mit den Schultern. »Eigentlich nicht. Aber wie Sie wissen, sind wir hier jeden Winter von der Außenwelt abgeschnitten. Da braucht es Ablenkung oder die Leute drehen durch. Außerdem kommen im Sommer und im frühen Herbst viele Touristen zu uns, um zu jagen oder weiter im Norden im Eis zu angeln. Die bringen immer eine Menge Geld mit.« Er seufzt. »Aber ich schätze, Sie haben recht. Auf Dauer lohnt sich das alles nicht. Ich gebe Grizzly Creek noch zwanzig Jahre, bevor es ausstirbt. Und damit gehöre ich zu den Optimisten.«
Wir fahren auf eine Kreuzung zu. Die vordere rechte Ecke beherbergt ein Geschäft für Anglerbedarf, auf der linken Seite wirbt eine Videothek mit »Angebot für den Winter: 2 Filme ausleihen, einen bezahlen«. Dabei habe ich gedacht, Videotheken wären in Zeiten von Streamingdiensten längst ausgestorben. Dann fällt mir ein, dass hier im Winter möglicherweise auch die Telekommunikation zusammenbricht, wenn es hart auf hart kommt.
Ohne Umschweife schießt mir das Bild eines Videothekenbesitzers in den Kopf, der mit einem Beil einen Telefonmasten zerlegt, um für Umsatz in seinem Laden zu sorgen.
Ich kichere. Anderson irritiert das, wie ich in seinem Gesicht erkenne, obwohl ich nur sein Profil sehen kann. Varneaux scheint hingegen zu glauben, dass ich über seinen Witz mit den Optimisten gekichert habe, und wirkt zufrieden.
»Da wären wir auch schon«, sagt der Arzt. Er deutet auf das Gebäude an der linken hinteren Ecke der Kreuzung. »Das ist meine Praxis. Im Anbau links davon sind mein Labor und meine Leichenhalle.«
»Ihre Leichenhalle?«, fragt Anderson.
»Was denken Sie denn, wer zuständig ist, wenn hier jemand ins Gras beißt?« Er lacht trocken auf, so trocken, dass sich das Lachen mit Raucherhusten vermischt. »Ich bin hier im Umkreis von achtzig Meilen der einzige Mensch mit medizinischer Ausbildung.«
»Scheint ein härterer Job zu sein, als ich erst angenommen habe«, sage ich.
»Geht so. Mal ist viel los, mal gar nichts. Hält sich die Waage.«
»Ich meinte auch eher, dass sie gleichzeitig Allgemeinmediziner, Pathologe, Rechtsmediziner und Laborant der Region sind.«
»Was soll ich machen? Außerdem mag ich die Abwechslung. Wenn man in einem Loch wie Grizzly Creek feststeckt, ist man um alles froh, was ein bisschen vom Alltag abweicht. Deshalb habe ich auch den Schleim untersucht.«
Er parkt seinen Wagen auf einem Platz, der mit »Reserviert für den Arzt« gekennzeichnet ist. Scheinbar ist es selbst hier notwendig, das Revier zu markieren, um nicht fünf Meter mehr gehen zu müssen.
Wir steigen aus und Dr. Varneaux weist uns den Weg in die Praxis, die wir über eine Seitentür betreten. Er macht das Licht an und ich sehe, dass die Praxis mindestens genauso gut ausgestattet ist wie eine durchschnittliche deutsche Notaufnahme.
Klar, sage ich mir. Geht hier ja nicht anders.
Ich frage mich, ob Dr. Varneaux von der Stadt Zuwendungen bekommt, um die Praxis so gut auszustatten. Wahrscheinlich ja, aber ich spreche es nicht laut aus. Mittlerweile habe ich mitbekommen, dass der Hase hier in Richtung Ignoranz läuft. Lieber nicht nachfragen, bevor jemand anders nach dir fragt.
Das ist mir nur recht. Schließlich habe ich wohl ähnliche Beweggründe wie die meisten Zugezogenen, obwohl mein Aufenthalt nur für drei Wochen geplant ist.
Er geleitet uns in den hinteren Teil des Gebäudes und öffnet eine Tür, an der »Labor« steht. Auch hier knipst er das Licht an und führt uns hinein.
Ich sehe mich um. Das Labor ist gut genug sortiert, um den ersten gröbsten Teil der Arbeit zu erledigen. Alles Weitere würde dann in Bremen beziehungsweise Vancouver geschehen müssen. Aber es gibt Mikroskope, Analysewerkzeuge, Zentrifugen und einen Computer. Das ist mehr, als ich erwartet habe.
Anderson seufzt. »Für den Anfang sollte es reichen.«
Ich überlege, wie lange es wohl dauern wird, bis ich ihn verprügeln möchte. Ich stöhne innerlich. Drei harte Wochen stehen mir bevor.
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