Stephan Ahlers-Möller
Exklusive Preview zu Debüt-Roman "Aus dem Eis"
Special
Aus: Stephan Ahlers-Möller: Aus dem Eis. Kapitel 1.
Es ist anderthalb Wochen her, dass ich am Flughafen in Whitehorse war. Nageln Sie mich nicht auf das genaue Datum fest. Ich fürchte, ich habe in den letzten paar Tagen die Orientierung verloren. Das betrifft auch mein Zeitgefühl.
Egal. Ich stand am Flughafen in Whitehorse, der Hauptstadt des Yukon, ziemlich weit im Süden. Das ist die größte Stadt in dem ganzen Territorium und damit die einzige, die über einen Verkehrsflughafen verfügt. Wenn man den Rest des Gebiets mit einem Flugzeug erreichen will, muss man in so ein kleines Ding mit Propeller steigen, eine Cessna oder so.
Früher hätte ich mich sowas nie getraut. Früher habe ich zu viel Angst vor dem Tod gehabt. Aber die letzten Wochen und Monate haben mich abgehärtet. Wissen Sie, ich hatte mit diversen Problemen zu kämpfen, beruflicher und privater Natur. Das tut hier zwar noch nichts zur Sache, aber ich erwähne es, weil es im Laufe der Geschichte eine gewisse Rolle spielen wird.
Schauen Sie mich nicht so an! Ich weiß, was Sie denken, Sheriff. Sie halten mich für eine verrückte Alte, die irgendwelche Eisangler dummerweise in Ihrem Zuständigkeitsbereich aufgegabelt haben. Aber glauben Sie mir, Sie wären auch ein bisschen verwirrt, wenn Sie gesehen und erlebt hätten, was ich in den letzten Tagen gesehen und erlebt habe.
Aber der Reihe nach. Alles begann friedlich am Flughafen in Whitehorse.
Ich stehe am Terminal. Dort bin ich ziemlich allein auf weiter Flur. Flughäfen sind normalerweise die pure Hölle für mich, weil sie nur so vor Menschen wimmeln. Ich mag es nicht, in Menschenmassen zu stehen. Aus zwei Gründen fühle ich mich in der Hauptstadt des Yukon trotzdem einigermaßen wohl – oder zumindest wohler, als in den letzten paar Monaten.
Zum einen ist der Flughafen von Whitehorse keineswegs mit den großen Airports der Welt zu vergleichen, die ich auf meiner Reise schon hinter mich gebracht habe. Losgeflogen bin ich fast einen Tag vorher in Bremen, meiner Heimatstadt, von wo aus ich nach Frankfurt am Main geflogen bin, dann weiter nach New York City, schließlich nach Montreal und dann nach Whitehorse. Bis auf Bremen und Whitehorse sind all diese Flughäfen kleine Städte für sich, und im Gegensatz zu Whitehorse ist selbst Bremen noch ein Mega-Airport.
Hier ist kaum etwas los. Die wenigen Menschen, die mit mir in der Maschine aus Montreal gesessen haben, scheinen alle nicht weiterfliegen zu wollen. Zumindest stehe ich mit Ausnahme von ein paar Geschäftsmännern und einer Gruppe Touristen allein in der Halle, in der die Passagiere der kleineren Propellermaschinen abgefertigt werden, die sie weiter ins Landesinnere des Yukon bringen.
Der zweite Grund für mein gutes Gefühl ist, dass ich mich zum ersten Mal seit Monaten sicher vor meinem Ex-Mann Tobi fühle. Kurz nach der Hochzeit hat er sich als Arschloch entpuppt, was ich so lange ausgehalten habe, bis es um mein Kind ging. Anschließend habe ich mich scheiden lassen … was er nicht auf sich sitzen lassen wollte.
Am Flughafen warte ich auf meinen Kollegen für die Expedition: Dr. Marcus Anderson ist wie ich Mikrobiologe, wobei er sich auf das Feld der Bakteriologie spezialisiert hat. Während ich also theoretisch für alles zuständig bin, was in der Biologie in die Größenkategorie »Mikro« fällt, ist er Bakterienforscher … obwohl meine Spezialisierung innerhalb der Mikrobiologie dieselbe ist.
Dr. Anderson und ich sind die beiden Auserwählten, die es im Auftrag der Universität von Vancouver in den Yukon verschlagen hat. Ein Angler, der Arzt ist und sich somit halbwegs mit Biologie auskennt, hat dort in der Nähe des Städtchens Grizzly Creek »eine Art Schleim« entdeckt, wie er sich ausgedrückt hat. Die Proben, die er entnommen hat, haben tatsächlich eine neue Art von Bakterien enthüllt, wie es scheint. Dr. Anderson und ich haben den Auftrag, das zu bestätigen, die Bakterienart in ihrem natürlichen Umfeld zu beobachten und zu systematisieren.
Ich stehe in der fast leeren Abfertigungshalle und sehe mich um. Ich habe keine Ahnung, wie Dr. Anderson aussieht. Im Vorfeld habe ich ihm eine E-Mail geschrieben, ihm erklärt, wie ich aussehe und dass ich mich darauf freue, mit ihm zusammenzuarbeiten.
Das war keine Lüge. Dr. Anderson gilt als einer der kommenden Stars seines Gebietes. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er seinen eigenen Lehrstuhl bekommt. Sein Ruf ist der eines Allrounders: Er ist fachlich brillant und bringt gleichzeitig das diplomatische und politische Gespür mit, das man benötigt, um es in der akademischen Welt ganz nach oben zu schaffen.
Sein Interesse an meiner Person schien jedoch begrenzt zu sein. Auf meine E-Mail kam nur eine kurze Antwort: Er käme dann und dann mit einer Maschine aus Vancouver am Flughafen von Whitehorse an und komme dann zu mir, da meine Maschine aus Montreal früher da wäre. Er würde wohl warme Kleidung tragen.
Das war alles, was er mir geschrieben hat. Ich kann noch nicht einschätzen, ob er einfach kein Interesse hat, mit einer Kollegin aus Deutschland zu sprechen – vielleicht sieht er mich ja als Klotz am Bein –, oder ob er sich vorher auch ein Bild von mir gemacht hat und deshalb so kurz angebunden war.
Wenn er sich über mich informiert hat, ist er garantiert über den Fauxpas gestolpert, der mir vor einem Jahr passiert ist. Aber dann würde er ganz sicher verstehen, warum ich diese Förderstelle für internationale Zusammenarbeit in der Forschung brauche. Und warum mir eine neu entdeckte Bakterienart gut in die Karten spielt: weil ich meine Karriere retten muss.
Die Beschreibung, dass Dr. Anderson »wohl warme Kleidung« tragen würde, hilft mir nicht weiter. Es warten in Whitehorse nicht viele Personen auf ihre Anschlussflüge, aber alle hier tragen warme Winterkleidung, mich eingeschlossen. Grizzly Creek, die Kleinstadt, in der wir während unseres Aufenthaltes wohnen und arbeiten sollen, befindet sich nur wenige Meilen von der arktischen Zone entfernt. Offiziell gilt das Gebiet um die Stadt herum als subarktisch. Das stimmt insofern, als dass die Ortschaft mitten in den letzten Wäldern Kanadas liegt, bevor es ein Stück nördlich nur noch Eis und Schnee gibt. Spätestens im Oktober hält dort aber das arktische Klima Einzug.
Ein hochgewachsener, schlaksiger Mann kommt auf mich zu. Er hat einen mit Haargel gestylten Kurzhaarschnitt und trägt eine Brille mit dickem, schwarzem Rand. Der Reißverschluss seines Wintermantels ist geöffnet, darunter blitzt ein perfekt geschnittener schwarzer Anzug hindurch.
Er lächelt mich freundlich an, während er auf mich zuschreitet, aber seinen Augen sehe ich an, dass es nicht echt ist. Ein typisches Politikerlächeln, das wie alles an ihm den Eindruck von einem Typen vermittelt, der sich so gibt, dass es ihm Vorteile bringt.
»Dr. Meier?«, fragt er geschäftsmäßig.
Er ist bis auf wenige Schritte herangekommen und streckt mir seine Hand entgegen. Ich ergreife sie und zwinge mich ebenfalls zu einem Lächeln.
»Ja, genau«, antworte ich. Ich habe meine Bewerbung für die Forschungsexpedition auf Englisch verfasst und kann die Sprache flüssig lesen und schreiben. Nun soll ich zum ersten Mal seit gefühlten Ewigkeiten Englisch sprechen und krame nach den richtigen Worten. »Schön, Sie zu treffen, Dr. Anderson«, fällt mir als Begrüßungsfloskel ein.
»Die Freude ist ganz meinerseits«, antwortet er. Perfekt und makellos, wie alles an ihm. »Haben Sie sich schon schlaugemacht, wo wir hinmüssen?«
Die notwendigen Freundlichkeiten sind ausgetauscht, da geht er zur Tagesordnung über. Ich kann nur hoffen, dass er in den nächsten drei Wochen, auf die die Expedition ausgelegt ist, etwas auftaut. Sonst wird die Zusammenarbeit sehr anstrengend.
»Ja«, sage ich und suche in meinem Hirn nach den korrekten Worten. Nach einem »Ähm«, um mir etwas Zeit zu verschaffen, spreche ich weiter: »Da vorne müssen wir zur Abfertigung.«
Ich deute auf einen Schalter, an dem noch kein Personal steht. Da wir allein in der Cessna fliegen werden, wird sich wohl niemand dorthin verirren, solange wir uns nicht anstellen. »Anschließend können wir direkt zum Flugzeug durch. Eine viersitzige Cessna.«
Er nickt. »Gut«, sagt er und hebt meine Tasche auf, die ich zwischen meinen Füßen abgestellt habe. Dabei kommt er mir seltsam nahe, was sich unangenehm intim anfühlt.
»Was ist?«, fragt er.
Scheinbar stand mein Unwohlsein in meinem Gesicht.
»Ach nichts«, antworte ich. »Vielen Dank, sehr freundlich von Ihnen.«
»Ich bin als Gentleman erzogen worden.« Er lächelt.
Den ersten Eindruck eines schmierigen Karrieremenschen kann ich trotz dieser eigentlich netten Geste nicht ablegen.
»Gehen wir?«, fragt er.
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