Konzertgänger im Überblick
Schau mal, wer da mosht
Special
Ohne Scheiß. Seien wir mal ehrlich. Ihr kennt sie doch alle oder habt sie bereits einmal kennengelernt. Ach egal. Was wäre ein Konzert, ein Festival, ein Gig ohne sie? Langweilig mit Sicherheit. Wir brauchen sie. Jeder Gig lebt natürlich von der Band, am Leben hält ihn jedoch die Crowd. Und was da so alles in front of stage herumwirbelt. Ich sag euch das. Die buntesten Wesen. Kaum auszuhalten. Aber gut. Und nötig. Spannend. Und wichtig. Und alles.
Ich habe das mal festgehalten. So rein informativ, für alle. Damit am Ende keiner sagen kann, er sei nicht vorgewarnt gewesen. Ich will da keine Beschwerden hören. Ich habe mein Nötigstes getan. Ein bisschen Haar-Wedler, ein bisschen Superfan, ein bisschen von allem sind wir doch am Ende alle, oder? Also kommt mit mir in das wilde Reich der Pits dieser Welt. Denn alle sollten wissen: Wer mosht denn da?
Das Violent-Dancing-Kid
Das Violent Dancing, platt von Google übersetzt: heftiges Tanzen, ist in der Tat wirklich heftig und kann einem zuweilen auch heftigst auf den Brenner gehen. Beschäftigen wir uns also im Folgenden einmal mit den Violent-Dancing-Kindern. Diese kleinen, süßen Racker wirken auf den ersten Blick wie die fröhliche Kindergartengruppe „Regenbogen-Zerstörer“ auf Ritalin-Entzug. Charmanteste Eigenschaft eines Violent-Dancing-Kids ist es nämlich, sich mit unkoordinierten Zuckungen, Armbewegungen und Sprüngen durch den Moshpit zu pflügen. Rechts und links gucken – eher nein. Wild um sich schlagen wie ein Supermarktkind an der Kasse, wenn es die Überraschungseier von Mama nicht bekommt – eher ja. Oberste Vorsicht ist geboten: Der kleine Violent-Dancer will nur spielen und beißt in den seltensten Fällen.
Riskiert man einen Ausflug in sein Territorium könnten jedoch unfreiwillige blaue Flecken die Folge sein. Sicher ist man leider nirgends vor diesen putzigen, wilden Kerlen. Auch wenn man sich am Rande aufhält, kann es vorkommen, dass sich ein Objekt aus der Gruppe des Pits entfernt und alleine weiter hinten neben dir steht. Mit Zuckungen und Faustschlägen in die Luft versucht so ein kleines verirrtes Kerlchen nur seine Gruppe wiederzufinden. Hier ist das kleine Violent-Dancing-Kid sehr dankbar, wenn man es genervt und mit den Worten „Alter gehts noch?“ wieder zurück in Richtung Rudel zurückschiebt.
Anbei ein kleines Fallbeispiel:
Der Surfer-Boy
Ja natürlich, nichts geht über einen gepflegten Crowdsurf. Den Body getragen von tausend Händen, also wenn’s gut läuft. Wenn’s eher semi-optimal läuft, dann sind es weitaus weniger Hände und der schmierige Boden der Location bedrohlich nahe. Dem Exemplar hier, im weiteren Verlauf nur „der Surfer-Boy“ genannt, scheint dieses Risiko völlig egal zu sein.
Die ersten Drumschläge ertönen, und er ist in seinem Element. Die Crowd ist sein Südpazifischer Ozean, die Hände seine Wellen. Da ist es ihm rotzegal, dass er sich bereits zum dritten Mal innerhalb der letzten drei Songs die Nase blutig angeschlagen hat, der Blutdruck gefährlich gen unterirdisch gesunken ist und sein Shirt … ja verdammt. Er hatte doch vorhin noch ein Shirt an. Der Surfer-Boy in seinem ureigenem Element. Unaufhaltsam springt er immer wieder rein in die wogenden Wellen des Pits. Selbst die mitleidigsten und genervtesten Blicke der Sanitäter im Umkreis von 100 Kilometern können ihn nicht aufhalten. Er ist die Kate Winslet am Bug der Titanic mit ausgebreiteten Armen. Es fehlt nur noch ein geschluchztes „Ich fliege, Jack“.
Die Eiskönigin – Völlig verfroren
Kalt, kälter, eiskalt. Ladies und Gentlemen. Wir präsentieren: Die Eiskönigin oder auch kurz Eisblock. Was hier schief gelaufen ist, und warum es einfach immer wieder passiert, dass man auf diese Gattung trifft – oh Mann, kein Plan. Es kann die geilste Stimmung ever im geilsten Club der Stadt mit der geilsten Band auf der Bühne sein und ja, ums nochmal zu verdeutlichen, spielen diese gerade ihr geilstes Set ever. Alles am feiern. Alle? Wirklich alle?
Nein. Auftritt Eiskönigin. Da kann es noch so sehr rütteln und wackeln im Pit, noch so sehr Breakdowns hageln. Die Eiskönigin steht neben dir mit starren Blick.
Fast emotionslos lässt sie Song für Song an sich vorüberziehen. Markenzeichen: vor der Brust verschränkte Arme. Bewegungsfreude: Minus 10. Das einzige, das ab und an als Gefühlsausbruch zu erkennen ist, ist die eine Augenbraue, die die Eiskönigin eventuell kurz mal etwas nach oben zieht. Genießt diesen Moment, wenn ihr ihn an ihr erkennt. Es ist das Höchstmaß an Ekstase, das die Prinzessin in der Öffentlichkeit zeigt. Ein kostbarer Augenblick, der schnell vorüberzieht. Ganz besonders gut kommt hier ein tiefsinniger Spruch wie „Hey, hab mal bisschen Spaß. Lach doch mal.“ Kann man machen, ist aber sehr dünnes Eis. Denn mit dieser Queen ist nicht so einfach „let it go“ angesagt.
Das Girlfriend
Es ist Date-Night, aber seine Lieblingsmetal-Band ist seit Ewigkeiten mal wieder live in der Stadt. Also Kerzen in die Handtasche gepackt und das romantische Knuddel-Wuddel in eine abgeranzte Venue verlegt.
Vorher war er natürlich Kumpel und hat ihr noch eben ein schnelles Briefing verpasst. Mit den Worten „Ach guck mal, Mausi, Blackened Death Metal hat so schöne Texte“, hat er ihr noch fix zwei, drei Quotenballaden der Band rausgesucht. Zum Probehören, damit Mausi sich später auch auskennt und mitsingen kann und sich, und das ist wahrscheinlich das Wichtigste: nicht erschreckt. Sie, eher die Fraktion DAVID GUETTA und – wenns mal etwas härter sein darf – gerne auch mal SILBERMOND steht nun in der Menge neben ihrem feiernden Metal-Freund. Während er von einem Ohr bis zum anderen strahlt, hat das Girlfriend sich für die nächsten zwei Stunden für das Bitch-Face entschlossen. Schnell wird es ihr zu laut, zu stickig, zu voll. Aber sie hält tapfer durch und sich an ihrer Michael Kors-Handtasche fest.
Fragende Blicke seinerseits, ob sie auch Spaß haben würde, werden überreaktionär mit einem in die Luft gereckten Daumen und gequältem Lächeln beantwortet. Spätestens beim letzten Song sind ihr dann entschieden zu viele Bierspritzer auf der Handtasche gelandet und das Girlfriend zerrt ihren Metaller mit den Worten „Ach Schatz, lass ma los, ich bin voll müde“ weg von seiner geliebten Band. Die Spezies Girlfriend findet sich interessanterweise oftmals in der Nähe der Eiskönigin, da selbige Verständigungsgrundlage. Nämlich null.
Der Die-Hard-Fan
Seien wir ehrlich, sie werden natürlich dringlichst gebraucht. Keine Party ohne Gäste. Kein Gig ohne Fans. Der Die-Hard-Fan hält das empfindliche, zerbrechliche Konstrukt der Flora und Fauna auf einem Konzert zusammen. Seine Daseinsform ist somit durchaus berechtigt. Der allgemeine Die-Hard-Fan ist mit dem bloßen Auge ohne Fernglas deutlich erkennbar. Er ist der Erste, der mit einem Freudengebrüll die Hände in die Luft reißt, wenn die Band auf der Bühne Position bezieht. Um seiner Freude tieferen Ausdruck zu verleihen, werden in Abwandlung der klatschenden Hände auch mal die Fäuste in die Luft gerissen.
Besonders bezeichnend ist seine Textsicherheit. Es gibt keine Zeile, die er oder sie nicht inbrünstig und voller Hingabe mitsingt. Unterbrochen vom ständigen Skandieren des Bandnamens, nur um sicher zu gehen, dass die Menschen auf der Bühne nicht plötzlich selber vergessen, wer sie nochmal waren. Ertönen die ersten Klänge des absolut liebsten Lieblingssongs seiner Band sucht der Die-Hard-Fan Kontakt zu weiteren seiner Gattung. Mit Tränen in den Augen wird sich in die Arme gefallen und auf die Schultern geklopft. Diese Szene wiederholt sich unzählbar oft. Hey, er ist Die-Hard-Fan.
Jeder verdammte Song ist sein absoluter liebster Lieblingssong. Und so kann man aus der Ferne tiefe, emotionale Momente erleben, die manch einer nicht mal bei seinem eigenen Hochzeitstag an den Tag legen würde. Das Erscheinungsbild ziert eine Vielzahl von Band-Logo-Aufnähern und/oder im schwächsten Fall ein Band-Shirt. Im härtesten aller Fälle hat sich der Die-Hard-Fan das Logo der Band nach altem Stammesritus als Tattoo für immer auf die Haut zimmern lassen. Aktuell laufen noch Forschungen, ob es sich bei solchen Exemplaren gleichzeitig um die Rudelanführer dieser Superfans handelt. Am Ende des Gigs ist noch mal Vorsicht geboten. Mit pantherähnlicher Geschmeidigkeit und Schnelligkeit pirscht er sich an den Merchandising-Stand heran, um ein weiteres unschuldiges T-Shirt oder einen Aufnäher zu erwischen. Mit frisch gerissener Beute und adrenalinverschleierten Augen verschwindet der Die-Hard-Fan daraufhin wieder im Dunklen der Nacht.
Der Social-Media-Mensch
„Hoch die Hände!“ beziehungsweise „Hoch das Smartphone!“ heißt es beim Social-Media-Menschen. Dieses Wesen ist totally busy, also bitte nicht stören. Na ja, meistens wird er eher dich stören. Und zwar wenn er genau vor deiner Nase über die volle Setlist-Länge sein Smartphone hochhält, um den besten Konzertmitschnitt aller Zeiten zu erstellen. Als Beweis, dass er auch wirklich selber da war, müssen natürlich noch ein bis eintausend Selfies mit der Bühne im Hintergrund gemacht werden. Nein, dreh dich ruhig ständig von der Band weg, dreh dem Ganzen Spektakel ruhig mehrmals den Rücken zu. Der Rest um dich herum findet deine Döner-Spieß-Drehungen ja auch überhaupt nicht nervig.
Während hier und da mal ein privater Schnappschuss oder ein kleines Video aufgenommen wird, ist der Social-Media-Mensch hektisch dabei, fast den ganzen Gig aufzuzeichnen. Da wird geflucht und bis zum Geht-nicht-mehr am Smartphone herumgefummelt. Zoomen, justieren, neu einstellen. Nur um später das beste neueste Video live und in Farbe auf YouTube hochdonnern zu können. Als Beobachter ist man fast sogar verwundert, warum er nicht seine eigene Filmcrew hier angeschleppt hat.
Parallel werden neben den Videos noch Facebook-Live-Übertragungen gestartet und WhatsApp-Sprachnotizen an alle Lieben zu Hause verschickt. Hallo Mutti, mir gehts gut. Wetter top. Musik laut. Essen schmeckt. Gruß und Kuss. Ohne Scheiß, wer freut sich denn nicht über eine angenehm verrauschte, grottenschlechte Sprachnachricht mit brüllenden Menschen. Ja genau. Der Social-Media-Typ hat es halt drauf. Drauf, einem ordentlich auf die Eier zu gehen. Während wir in aller Ruhe ohne Phone vor den Augen die Band genießen, findet dieser Kollege erst wieder Ruhe, wenn sich der Upload-Ladebalken auf 99% zubewegt. Tja, Video killed the radiostar.
Der Dauerwellen-Schüttler
Ich habe größten Respekt. Respekt vor einer Gruppierung, bei der ich mich oftmals frage, inwieweit sich hier noch funktionierende, einwandfreie Halswirbel in diesen Menschlein befinden. Der Dauerwellen-Schüttler (oder auch: Hairy-Escalator) wartet vielleicht maximal die ersten Gitarrenjauler ab und ist dann nonstop in Bewegung. Oder sagen wir besser, er bringt sein Haupthaar in Bewegung. Da wird die letzte Repair-Kur so derbe aus den frisch geföhnten Löckchen geschüttelt und gewirbelt, gekreist und geschwungen. Geheadbangt und trocken durchgeschleudert. Jedes marktführende Shampoo-Model wäre neidisch beim Anblick der im diffusen Licht fliegenden Haare.
Der Dauerwellen-Schüttler gibt alles, verbringt aber circa 99,9 Prozent des Konzerts mit den Händen auf den Knien, vorne übergebeugt. Sichtfeld somit maximal eingeschränkt. Aber Hauptsache, er hat Spaß. Wer ungern Haare in seinem Bierbecher findet oder nicht so darauf abfährt, dass einem in 5-Sekunden-Abständen ständig eine wilde Mähne ins Gesicht gepfeffert wird und man auf einmal selber Haare im Mund hat, nicht die eigenen, wohlgemerkt, der sollte dann doch eher relativ schnell Abstand vom Dauerwellen-Schüttler nehmen. Dank seines sportlich kreisenden Kopf-Nackenbereiches ist dieser auch in der Menge recht schnell zu identifizieren.
Da hier die vollste Konzentration auf den perfekten rhythmischen Headbang liegt, ist ein Ansprechen des Schüttlers kaum bis selten möglich. Erst am Ende des Gigs, hebt er seinen Kopf wieder an, und man erkennt sein wahres Gesicht, welches er unter leichten Schmerzen, aber dennoch grinsend verzieht. Sich den Nacken reibend und auf Kopfschmerzen freuend bindet der Dauerwellen-Schüttler mittels weniger Handgriffe und einem kleinen, süßen Zopfgummi seine Mähne wieder zusammen und vereinbart den nächsten physiotherapeutischen Termin, um Entlastung für seine Halswirbel zu schaffen.
Der Bier-Athlet
Der Club ist randvoll, es ist kein Zentimeter mehr Platz, alles steht eng auf eng. Aber er schafft das Unmögliche (hier bitte epische Melodie summen). Ladies und Gents, we proudly present: Der Bier-Athlet.
Er schafft es, sich mit sechs bis zehn Bierbechern in seinen Pranken gezielt durch die Menge zu drängen. Einziges Ziel: seine Buddys mit Stoff zu versorgen. Ein mütterlicher Instinkt, der Respekt verdient und an artistischer Darbietung kaum noch zu überbieten ist. Aber seien wir ehrlich, auch der Bier-Athlet ist nicht jeden Tag auf höchstem sportlichem Niveau unterwegs und zeigt auch mal seine schwachen Momente. Da kann unterwegs leider dann doch Bierbecher Nummer 5 unglücklich entgleiten und platschend zu Boden gehen.
Der Bier-Athlet bahnt sich seinen Weg und zieht dabei nicht selten eine Schneise des Verderbens. Das überschwappende Gerstengetränk trifft Pullis, Shirts und Handtaschen unschuldiger Mitmenschen. Davon lässt er sich jedoch nicht aus der Ruhe bringen. Mit einem genuschelten „Oh Sorry, aber ich muss da mal durch“, kämpft er sich weiter voran. Seine persönliche orgasmusähnliche Erfüllung hat der Bier-Athlet dann, wenn er final bei seinen Leuten ankommt und er die Bierbecher, mittlerweile nur noch halbvoll, wie die olympische Fackel, feierlich abgeben kann. Dafür erntet er anerkennende Schulterklopfer, bis er merkt, dass nun alle ein Bierchen haben, bis auf ihn. Aber der Bier-Athlet scheut keinen Wettkampf, atmet tief durch und mit einem Kampfesschrei stürzt er sich wieder in die Menge Richtung Tresen. Sportlicher Ehrgeiz vom Feinsten.
Die Toiletten-Tussis
Ach Ladies, ja ihr steht auf harte Typen, auf Bad Boys. Geht deshalb lieber zu einem AUGUST BURNS RED-Konzert als zu Justin Bieber. Und da findet man euch. Ihr zauberhaften Wesen, ihr Toiletten-Tussis. Während der Frontman auf der Stage gerade seine persönliche Bundesjugendspiele-Urkunde erarbeitet, seine Kollegen an Gitarre und Drums sich die Seele aus dem geschundenen Körper schrammeln und zimmern, seid ihr hier. Auf der Damen-Toilette der Venue. Ihr steht in Grüppchen vor den Waschbecken-Reihen und quiekt im Chor vor euch her, wie toll der Frontmann doch heute wieder aussieht, wie viele Muskeln der Drummer hat und was für schöne Augen der Bassist.
Während der Toilettengang während eines Gigs für jeden anderen eher bedeutet „Rein-Raus-Bloß-Nix-Verpassen-Ah-schnell-das-ist-ein-geiler-Song“, haben diese Damen auf der Toilette eine Talkrunde ins Leben gerufen, nach der sich Markus Lanz die Finger lecken würde. Während der Labello des Friedens umhergereicht wird, muss definitiv noch das heutige Outfit der Menschen auf der Bühne besprochen werden und gedanklich eine Power-Point-Präsentation angefertigt werden. Nein, dass die Künstler, um die es gerade geht, nicht eventuell, aber nur vielleicht, live und ganz nah da draußen sind und sich gerade die linke Niere abarbeiten, gerät dabei völligst in Vergessenheit.
Auch ein freundliches „Ey Ladies, da draußen spielt die Musik (im wahrsten Sinne des Wortes),“ kann eine derartige Gesprächsrunde kaum zerschlagen. Wenn allerdings ein Mädel mit den Worten „Boah, jetzt singt er mit nacktem Oberkörper weiter“, die heiligen Hallen betritt, kommt Wallung in die Gruppe. Panische Hektik wie beim Schlussverkauf bei H&M. Unter Kreischen und Quietschen bahnen sich die Toiletten-Tussis wieder ihren Weg nach draußen. Und auf dem Waschbeckentisch bleibt ein halb aufgebrauchter, einsamer Labello des Friedens zurück.