Mortiis
Kerkermusik aus den tiefsten Neunzigern

Special

Der Kollege Thorbrügge brachte es jüngst überspitzt auf den Punkt: „Dungeon Synth ist ein Surrogat für den Black Metal der Neunziger.“ Eine ganz ähnliche Beobachtung hat der Benutzer Orthanc in der Gruppe „Dungeon Synth“ auf Facebook gemacht:

„Dungeon Synth hat mir eine neue geheime Welt eröffnet. Nach Jahren, in denen ich in der Black-Metal-Szene unterwegs gewesen bin, habe ich endlich das hier gefunden. Verdammt, Dungeon Synth bringt mich zurück zu der Zeit, als ich ein Teenager war und gerade erst den Black Metal entdeckt habe. Das hier ist alles sehr „geheim“, genau wie damals der Black Metal.“

Kleine Auflagen, die primäre Nutzung von Tapes, wenig Perfektion, aber viel Leidenschaft und jede Menge Obskurität – die Parallelen sind unschwer zu leugnen, wenn man von offensichtlicheren Querverbindungen wie Ästhetik und Themenwahl in vielen, aber nicht allen Fällen einmal absieht. Über die Rolle von Håvard Ellefsen haben wir in diesem Zusammenhang in letzter Zeit mehrfach berichtet, unter anderem in Bezug auf das jüngst erschienene neue MORTIIS-Album „Spirit of Rebellion„(2020).

Heute möchten wir allerdings einen Blick zurück wagen, denn Omnipresence und Funeral Industries beschäftigen sich seit einiger Zeit vorbildlich mit dem Katalog von MORTIIS. Neben Vinyl-Varianten der Klassikeralben aus der Dungeon-Synth-Ära von MORTIIS, im Jargon von Ellefsen „Era 1“, erschienen jüngst auch einige hübsche Varianten als DIN A5-Digibook-CDs, welche hier genauer beleuchtet werden sollen. Alle Aufnahmen wurden in diesem Zuge restauriert und remastered.

Zur Recherche führten wir im Winter/ Frühjahr ein Gespräch mit Ellefsen, das auf der folgenden Seite beginnt.

Texte von: Sven Lattemann & Stefan Wolfsbrunn

Einordnung in die heutige Dungeon-Synth-Szene

Die Trennung von EMPEROR, zweifelsohne einer der wichtigsten Black-Metal-Bands in ihrer einflussreichster Schaffensphase war noch frisch, sollte für Håvard Ellefsen gleichzeitig der finale Schlussstrich unter das Thema Black Metal in seinem Leben sein.

„Auch heute höre ich kaum noch Black Metal. Vielleicht bin ich gelegentlich im gleichen Raum, wenn jemand ein aktuelles Black-Metal-Album abspielt, aber ehrlicherweise gibt mir diese Musik nicht mehr viel. Das beste Zeug wurde 1991-1995 gemacht, obwohl ich natürlich verstehe, dass sehr respektierte Künstler später kamen. Vielleicht bin ich einfach schlecht darin, das alles zu verfolgen.“

In den Credits von „In The Nightside Eclipse“ (1994) taucht ein gewisser MORTIIS als Texter von „Cosmic Keys To My Creations And Times“ und „I Am The Black Wizards“ auf, seine letzte Spur in der norwegischen Black-Metal-Szene. Aber warum weiter auf einem mit diesem Album (beinahe) definierten Genre verharren, wenn es neue Wege zu beschreiten gibt.

„Ich hätte nie gedacht, dass mein frühes Werk einen großen Einfluss haben wird. Grundsätzlich bin ich mir nicht sicher, wie groß die Wirkung wirklich ist, aber die Leute erzählen mir ständig, wie wichtig das alles ist. Das ist sehr schmeichelhaft, denn als ich 1992 mit dieser Musik an den Start ging, hatte ich keine Ahnung, ob das überhaupt zu etwas führt, geschweige denn, dass das ganze mal ein Subgenre wird. Allerdings denke ich nicht, dass ich dieses allein geschaffen habe, dafür braucht es mehr als einen Typen.“

Bescheidenheit ist eine Zier. Allerdings werden wir den Eindruck nicht los, dass MORTIIS dies alles doch relativ kalt lassen würde. Auf die Frage, ob er heutige Dungeon-Synth-Künstler wie MURGRIND oder FIEF kenne, antwortet Ellefsen entwaffnend ehrlich:

„Ich kenne sie und habe auch reingehört. Ich habe versucht ihnen Aufmerksamkeit zu schenken, aber ich bin ein Kind der frühen Achtziger, ein Hard-Rock-Kid, meine Wurzeln bleiben, also höre ich sehr viel aus dieser Zeit. Das klingt jetzt vielleicht paradox, da ich sehr viel Ambient-Musik mache. Vergiss aber bitte nicht, dass ich seit einer langen Zeit Industrial Rock und experimentelle Musik mache und dort meine Liebe zu Gitarren, Synths und Samples ausleben kann.“

Wo wir gerade von Synths sprechen. Zu Era 1-Zeiten, also in den Neunzigern, war Ambient-Musik noch echte Schwerstarbeit. Ohne moderne Computertechnologie bedurfte es anderer Methoden.

„Nun ja, ich hatte damals keine Ahnung was Sequenzer oder Midi-Programmierung ist, aber wenn du dich damit auskanntest, gab es auch damals schon Hilfsmittel um alles „einfacher“ zu machen. Aber das war schon hart damals, heute geht alles per Plug and Play, aber damals musste man schon wissen, was man überhaupt macht. Für mich gab es nichts davon. Ich habe mit einem Roland JV30-Keyboard angefangen, hatte einfach ein paar Ideen für Melodien im Kopf und habe mir dieses gemerkt. Dann kamen mehr Ideen hinzu und ich versuchte alles zusammenzuführen. Dazu schrieb ich mir den Songtitel auf, trennte die einzelnen Schichten in einem Farbsystem und fügte am Ende alles wieder zusammen. Das alles passierte auf Papier, wie eine Art primitives Notensystem, welches auf Kommentaren und Farbcodes basiert.

Manchmal, wenn ich die finale Aufnahme im Studio hörte, gab es gewisse Dissonanzen, welche ich dann manchmal, aber nicht sehr oft, abgeändert habe. Sicherlich ist die Aufnahmetechnik heute einfacher, allerdings ist das Konzept, gute Musik zu kreieren, gleich geblieben. Entweder du machst gute Musik oder halt nicht. Keine Technologie kann dich davon abhalten beschissene Musik aufzunehmen.“

Rückblick auf ausgewählte Alben: MORTIIS & FATA MORGANA

„Ånden som Gjorde Opprør“ (1994)

Nachdem im gleichen Jahr bereits das MORTIIS-Debüt „Født til å Herske“ erschienen war, folgte „Ånden som Gjorde Opprør“ auf dem Fuße. Dennoch ist die Entwicklung innerhalb von kurzer Zeit nicht zu übersehen.

„Dies war mein zweites Album. Das erste Album „Født til å Herske“ ist rund acht Monate früher entstanden, ich habe dieses im Dezember 1993 im Studio S, außerhalb von Oslo, aufgenommen. Viele norwegische Black-Metal-Bands haben dort ihre frühen Demos und EPs aufgenommen. Im Frühling 1994 bin ich nach Schweden umgezogen und mir wurde ein Studio in einer Stadt namens Tranås empfohlen, welches ein paar Stunden mit der Bahn entfernt lag. Zu dieser Zeit waren meine Beweggründe relativ einfach, ich wollte etwas Großes und Episches aufnehmen, anders als das ein wenig monotone und schwebende Debütalbum, ohne dabei die Atmosphäre und Geschichte des sich entspannenden MORTIIS-Universums zu vernachlässigen.“

Damit beschreibt Mortiis die Unterschiede zwischen „Født til å Herske“ und „Ånden som Gjorde Opprør“ sehr passend. „Ånden som Gjorde Opprør“ füllt die vielen Leerstellen des Debütalbums auf, addiert den Sound zu einer deutlich breiteren und selbstständig bewegenden Masse, welche für den MORTIIS-Sound der kommenden halben Dekade charakteristisch werden wird.

„Ich war seinerzeit beispielsweise sehr inspiriert von „Conan der Barbar“ und wollte meinen Sound erweitern und größer machen. Außerdem hing ich noch sehr stark am Black Metal, denn diese Musik war 1994 noch ein sehr junges Phänomen, zumindest wenn wir von der zweiten Welle sprechen.“

Inhaltlich spinnt das Album die Geschichte von MORTIIS weiter, welche später im Buch „Secrets of my Kingdom“ zusammengeführt wurde.

Mortiis auf dem Prophecy-Fest 2019

„Keiser av en Dimensjon Ukjent“ (1995)

Den Höhepunkt im Katalog von MORTIIS, zumindest bis zu diesem Zeitpunkt, stellt das im folgenden Jahr erschienene dritte Album „Keiser av en Dimensjon Ukjent“ dar. Der Sprung ist wesentlicher kleiner, als noch vom Debüt zu „Ånden som Gjorde Opprør“, „Keiser av en Dimensjon Ukjent“ ist mehr eine organische Weiterentwicklung auf Grundlage zuvor bereits definierter Prinzipien.

„Dies ist für mich immer das Schwesteralbum von „Ånden som Gjorde Opprør“, denn ich habe beide Alben in einem Zeitraum von ungefähr einem halben Jahr aufgenommen. Ich habe auf beiden Alben die gleichen Ideen umgesetzt. Das Album ist daher eine echte Fortsetzung, klingt im Rückblick aber insgesamt etwas weicher und atmosphärischer als „Ånden som Gjorde Opprør“. Allerdings, das ist sehr wichtig, gibt es ein besonderes Merkmal bei diesem Album. Ich habe nämlich den schwedischen Maler John Bauer (1882-1918) zu dieser Zeit entdeckt und zum ersten Mal seine Kunst für das Albumcover genutzt. Ich habe später noch häufiger Bilder von Bauer genutzt.“

Das etwas weichere Klangbild schält sich insbesondere beim zweiten Stück des Albums, dem Titeltrack, heraus, der atmosphärisch dicht und fast schmeichelnd zu den stärksten und gleichzeitig schönsten Tracks im Katalog von MORTIIS zählt. Ein zeitloser Klassiker, der auch nach 25 Jahren immer noch frisch und unverbraucht klingt. Patina? Betriebsbedingt gewollt und kein bisschen schmockig.

„Blood And Thunder“ (1995)

„‚Blood and Thunder‘ (1995) war eine Single, welche mit zwei Stücken begann, die ursprünglich als Intro und Outro für eine Death/Black-Metal-Band gedacht waren. Diese Band hat mich allerdings nie bezahlt, sodass mich Paulo Staver von Primitive Art Records, der damals im gleichen Ort wie ich lebte, dazu überredete eine limitierte 7″ mit diesen Stücken und einem coolen Poster herauszugeben.“

Ein Glück, denn insbesondere der Titeltrack zählt zu den ikonischen MORTIIS-Titeln und definiert wie kein zweiter in Kurzform die Funktionsweise des heutigen Dungeon Synths.

„Diese Platte war vermutlich die erste, welche ich vollständig zu Hause aufgenommen habe. Ich hatte mir einiges an Equipment von Roger Karmanik (Cold Meat Industry/BRIGHTER DEATH NOW) ausgeliehen und nahm „Blood And Thunder“ und FATA MORGANA damit auf. Dies alles fand in meiner kleinen Wohnung in Halmstad in Schweden statt, ich hatte keine Ahnung, was ich genau tat und genau das ist der Grund, warum die Aufnahmequalität der Originalaufnahmen so schlecht ist. Neulich haben wir diese Aufnahme restauriert und remastered und mit einigem Bonusmaterial zu einer wirklich coolen einseitigen 12″ zusammengebastelt, welche bei Funeral Industies erschienen ist.“

Der Unterschied dieser frischen Version zum Original ist soundtechnisch beachtlich. Die neue Version klingt aufgeräumt, weniger kratzig und sogar sehr druckvoll. Auch wenn die ursprüngliche Aufnahme zentnerweise trollischen Charme versprüht, eine Daseinsberechtigung kommt der von Jules Seifert restaurierten Fassung zweifelsohne zu. Zudem sind mit „Fear Feeders“ und „I Die In My Dreams“ zwei Bonustracks hinzugefügt worden, die allerdings als eher optional zu bewerten sind.

Von dieser neuen Auflage mit neu gemasterten Stücken und Bonustracks sind bisher drei verschiedene Versionen erschienen. Die von MORTIIS genannte Vinylvariante bei Omnipresence in Zusammenarbeit mit Funeral Industries, eine Kasettenversion bei Heidens Hart Records und eine Digipack-CD-Version bei Funeral Industries. Sicherlich keine essentielle Veröffentlichung der Era-1-Periode, dennoch sind insbesondere die beiden ursprünglichen Titel auf „Blood And Thunder“ für MORTIIS-Freunde echte Leckerbissen in Häppchenform.

Gut gealtert: Mortiis

Fata Morgana (1995)

„Die Wurzeln dieses Projekts gehen zurück auf eine Pause im Studio, als ich „Ånden som Gjorde Opprør“ (1994) aufgenommen habe. Dort stand ein altes (damals noch nicht so altes) Ensoniq SQ1-Keyboard, ich spielte etwas darauf und kam zu einigen guten Melodien, welche für kurze Songs gut funktionieren würden. MORTIIS war seinerzeit noch ein Projekt mit sehr langen Stücken, dies wollte ich nicht ändern, also gründete ich ein neues Projekt und schaute was passiert.“

Tatsächlich ist der Unterschied zwischen FATA MORGANA und MORTIIS sehr gering, was sich durch die enge zeitliche Verknüpfung der klassischen Era-1-Alben und „Fata Morgana“ leicht erklären lässt. Insbesondere die ersten Stücke sind sehr eng an das übrige Schaffen dieser Zeit angelehnt. Ellefsen bestätigt dies:

„Musikalisch könnte FATA MORGANA auch MORTIIS sein, zumindest in dieser Zeit. Zwei Stücke des Albums, nämlich „Purple Sky“ und „The Last Rainbow King“ sind direkt vom MORTIIS-Konzept inspiriert. Ich war damals einfach noch nicht bereit für ein Konzept mit kurzen Stücken, also habe ich ein Nebenprojekt daraus gemacht. Heute würde ich ein MORTIIS-Album daraus machen.“

Mit dem Titeltrack an vierter Stelle öffnet sich jedoch der musikalische Horizont von FATA MORGANA und offenbart, welche Ideen und Konzepte Håvard Ellefsen in den kommenden Jahren, nach der Era-1-Periode, verfolgen würde. Die B-Seite, wenn wir die Vinyl-Neuauflage von Omnipresence und Funeral Industries betrachten, hüllt den Hörer dann wieder in klassische MORTIIS-Klänge. Ein interessantes Album und würdiger Vertreter im Gesamtkanon dieser Periode.

Exkurs – Cintecele Diavolui

The Devil´s Songs Part I – Dance of The Dead (1996)

CINTECELE DIAVOLUI – „The Devil’s Songs – Part I“

Unter der Projekt-Bezeichnung CINTECELE DIAVOLUI veröffentlichte Håvard Ellefsen 1996 erstmalig die Geschichten des Vampirs Vukodlak. Zunächst wurde die EP unter dem Label Dark Dungeon Music als 10″-Vinyl und später als CD herausgebracht. 1998 dann nochmal unter dem Dach des mittlerweile eingestellten schwedischen Labels Cold Meat Industry wieder veröffentlicht, ein Label, das sich ansonsten hauptsächlich mit Industrial und Neofolk befasste (die bekannten Dark/ Neo-Folker ROME brachten hier auch ihre ersten Gehversuche auf den Weg). Die experimentellen, beinahe surrealen Kompositionen dieses MORTIIS-Exkurses gehören sicherlich nicht zu den essentiellen Arbeiten von Herrn Ellefsen, da ihnen etwas der Fokus fehlt (man höre beispielhaft das Ende von „Soulless“), offenbaren aber eine interessante, ja GOBLINuesque („Suspiria“) Seite des Musikers.  Alle 90er-Versionen sind seit mehr als 20 Jahren ausverkauft, die aktuelle Version ist remastered und gepresst als 12″-Format erstmalig verfügbar.

The Devil´s Songs Part II: One Soul Less For The Devil

CINTECELE DIAVOLUI – „The Devil’s Songs – Part II“

Die Songs auf diesem Album waren bislang nur verfügbar auf der lange ausverkauften, extended CD-Version von „The Devil’s Songs“, die von Dark Dungeon Music und Cold Meat Industry herausgebracht wurde. Der Song „The Devil Must Kill“ wurde sogar nur auf der Label-Compilation von Cold Meat Industry – „Absolute Supper“ – herausgebracht.

„Diese Titel wurden kurz nach den initialen fünf Titeln von „Part 1: Dance of The Dead“ aufgenommen. Sie sind deutlich experimenteller und verlassen sich sehr auf ihre Atmosphäre. Eine Ausnahme ist nur „The Devil Must Kill“, das ein bisschen später und eigenständig aufgenommen wurde. Der Song geht wieder ein bisschen zurück auf die ursprünglichen „The Devil’s Songs“-Klänge und ist der einzige Titel, den CINTECELE DIAVOLUI je mit Gesang aufgenommen haben.“

Hier macht sich der Cold Metal Industry-Einfluß bemerkbar: Ausladene Klanglandschaften, Sprachsamples, wenig greifbare Melodie und absoluter Minimalismus herrschen vor. Ein ungewöhnliches, aber auch austauschbares Werk – mal abgesehen von dem treibenden Rhythmus von „The Devil Must Kill“ mit seinen schrägen Vampir-Lyrics und aufgesetztem Akzent.

Quelle: Interview mit Mortiis 2020
05.04.2020
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