Metallica
Das meint die Redaktion zu "72 Seasons"

Special

Gelungenes Alterwerk? Hit oder Shit? Fragen über Fragen stehen in Verbindung mit der neuen METALLICA-Platte „72 Seasons“. Das Konzeptwerk über die ersten 18 prägenden Jahre im Leben eines Menschen stellt Hörende in vielerlei Hinsicht vor eine Herausforderung – nicht nur wegen der satten Spielzeit von 77 Minuten. Sieben Jahre nach „Hardwired…To Self-Destruct“ zeigen METALLICA wieder einmal, dass sie trotz mancher Parallelen nie dasselbe Album zweimal aufnehmen. Jannik Kleemann, Steffen Gruß, Jan-Ole Möller und Michael Klaas sezieren „72 Seasons“ bis ins letzte Detail.

Mit welcher Erwartungshaltung bist du an „72 Seasons“ herangegangen?
Wie gefällt dir die stilistische Ausrichtung?
Welcher ist der beste und welcher der schwächste Song auf „72 Seasons“?
Wie bewertest du das Album insgesamt?
Wieviele Punkte vergibst du?

Mit welcher Erwartungshaltung bist du an das Album herangegangen?

Jannik: Ich war schon gespannt. „Death Magnetic“ finde ich bis heute abseits der etwas zu laut geratenen Produktion sehr gut und „Hardwired… To Self-Destruct“ hat auch einige feine Songs. Zudem besuche ich das Hamburg-Konzert und daher sind METALLICA gerade wieder präsenter in meinem Kopf als die letzten Jahre. Ebenfalls dazu beigetragen hat sicherlich auch die 4. Staffel von „Stranger Things“ (ohne spoilern zu wollen).

Steffen: Bei einer Band wie METALLICA mit einer bestimmten Erwartungshaltung an ein neues Album heranzugehen, ist immer schwierig bis kaum möglich. Es sei denn, man möchte es aus Prinzip schon gut oder scheiße finden. Bei mir war es weder noch. Nach dem ersten Vorgeschmack mit dem überproduzierten, jedoch trotzdem oldschool klingendem Kracher „Lux Aeterna“, hatte ich jedoch die Hoffnung, dass das Album allgemein stärker in Richtung Frühphase geht.

Jan Ole: Nach „Hardwired… To Self-destruct“ habe ich vielleicht eine weitere Entwicklung der etwas melodischeren Herangehensweise, die METALLICA in ihren Stil miteingebracht haben, erwartet. Hetfield hat mit Gesangsharmonien experimentiert und hat seine deutlich veränderte Stimmfarbe passender eingesetzt, anstatt zu versuchen, die glorreichen 80er Jahre aufleben zu lassen. Ich habe mich definitiv auf eine Weiterentwicklung dessen gefreut.
Was mir allerdings von Anfang an Zähneknirschen bereitet hat, ist die Produktion. Wie die letzten Alben erwarte ich einen undynamischen, sehr komprimierten und stark bearbeiteten Sound. Zudem haben METALLICA einen Drummer, der seine Toms meist für Deko hält, also habe ich mich auf ein Snare-Inferno der besonderen Art vorbereitet.

Michael: Herr Rothe bat mich, meine Formulierungen im Zaum zu halten, daher fasse ich es kurz und schmerzhaft: Ich habe eine nondeskriptive Schlaftablette erwartet, genauso wie die letzte Platte.

Wie gefällt dir die stilistische Ausrichtung?

Jannik: Mir persönlich ist da ein bisschen zu wenig Thrash Metal drin. Das Argument des Alters der Musiker lasse ich da mal nicht gelten, andere Thrash-Bands gleichen Alters kriegen das ja auch noch hin. Ich bin keiner, der nach der „…And Justice For All“ alle Scheiben kacke fand, aber der Stil auf dem Album ist insgesamt doch etwas generisch geraten. Nicht schlecht, aber auch nicht herausragend.

Steffen: Nach den folgenden Singles wurde schnell klar, dass es nicht die erhoffte stilistische Rückkehr zu den Anfangstagen im modernen Soundgewand wird. Als Vergleich lässt sich hier wohl am besten der Vorgänger „Hardwired“ nennen. Schnelle Banger, wie das bereits erwähnte „Lux Aeterna“, „Too Far Gone“ und der Titelsong stehen zwischen vielen Midtempo-Stücken und schleppenden Stampfern wie „You Must Burn!“. Klar dürften es gerne ein paar schnelle Nummern mehr sein, aber da ich den Vorgänger mit ein paar Abstrichen mochte, habe ich auch hier nicht viel auszusetzen.

Jan Ole: Die Amalgamation aus den verschiedenen Abschnitten ihrer Karriere gefällt mir gut. Sie verwenden verspielte Thrash-Einflüsse ihrer frühen Jahre, bluesige Riffs aus der „Load/ReLoad“-Ära und den Melodie-affinen Gesangslinien der letzten Jahre. Wäre die Mischung im Kontext des Songwritings gut angewandt worden, wäre „72 Seasons“ ein durchaus gutes Album geworden.

Michael: Es klingt buchstäblich wie die „Load“-/“Relaod“-Ära mit etwas mehr Elan, aber dafür noch weniger Charakter.

Welcher ist der beste und welcher der schwächste Song auf „72 Season“ und warum?

Jannik: Bester Song: Lux Aeterna & If Darkness Had A Son; Schwächster Song: You Must Burn!

Steffen: Beim besten Song muss ich schon wieder „Lux Aeterna“ nennen. Der Song hat so viel frische Energie wie schon lange nicht mehr und erinnert vor allem bei den Riffs am meisten an die frühe Achtziger-Phase.
Der schlechteste Song ist für mich leider „You Must Burn!“. Die Gitarren erinnern zwar gelegentlich angenehm an „Sad But True“, jedoch zieht sich der Song für mich allgemein zu schleppend dahin und besitzt nicht im Mindesten die Eingängigkeit des erwähnten Klassikers.

Jan Ole: Bester Song: „Lux Aeterna“. Kurz, schnell, schmerzlos und ohne großen Schnickschnack. Die erste Single „Lux Aeterna“ ist ein wirklicher Lichtblick der Scheibe. Klar, es gibt auch Abstriche bei diesem Song. Hammetts Solo wirkt sehr phantasielos und die Parallelen zwischen „Lux Aeterna“ und „Hit The Lights“ können kaum geleugnet werden. Dennoch ist es eingehender, wuchtiger und spaßiger Song, den ich definitiv nicht skippen würde.
Schwächster Song: „If Darkness Had A Son“. Huch, eine weitere Vorabsingle. Im Intro bekommen wir einen simplen Rhythmus, den METALLICA als Plattform nutzen, um das Hauptthema zu etablieren. Zunächst leitet Hammett ein melodisches Lick ein, das für den Rest des Songs nicht wieder benutzt wird. Die nächste Entscheidung ist, dass wir nach knapp einer Minute ein nicht allzu spannendes Riff etabliert haben und gedenken, den Kram mit einem unglaublich virtuosen Hi-Hat-Break runterzubrechen, nur um mit dem Einstieg der Drums den ganzen Blödsinn nochmal aufzubauen. Alles in allem ist „If Darkness Had A Son“ ein absoluter Clusterfuck an schlechten Songwriting-Ideen.

Michael: Da das Album nur passagenweise gefällt, kann ich zum besten Track keine Aussage machen. Ebensowenig zum schlechtesten, da alles so gleich klingt.

Wie empfindest du das Album insgesamt?

Jannik: METALLICA leisten sich keinen großen Durchhänger, lassen das ein oder andere Mal aufhorchen und haben einige ohrwurmige Refrains im Gepäck. Auf der anderen Seite ist der Wiedererkennungswert einiger Songs aber auch nicht wirklich gegeben, diverse Songs hätten spielzeittechnisch etwas gestrafft werden können (wie auch schon bei „St. Anger“) – es gilt mein METALLICA-Problem. Wäre ich auf die Scheibe, auch wenn sie an sich ordentlich ist, aufmerksam geworden, wenn nicht METALLICA vorne draufstehen würde? Ich bin mir nicht sicher.

Steffen: Ich mag es. Es ist nicht mit den ersten fünf Überalben vergleichbar. Aber das muss es auch gar nicht sein. Der Vorgänger war zwar ein Stück abwechslungsreicher und hatte die größeren Einzelhits, jedoch ist „72 Seasons“ am Stück für mich stärker und damit das beste Werk von METALLICA seit vielen Jahren.
Klar, die Produktion ist gerade bei den Drums ein gutes Stück zu klinisch geraten. Den Kritikpunkt muss man nennen. Auch, dass vielleicht ein paar Songs zu viel auf dem Album sind und manche Stellen zu sehr wie ein gestrecktes Riff-Potpourri wirken. Nicht jede Idee muss es auf ein Album schaffen. Aber diesen Kritikpunkt muss sich die Band ja seit den Neunzigern (zugegeben oft berechtigt) gefallen lassen.

Jan Ole: „72 Seasons“ hat durchaus großartige, spaßige und interessante Momente. Seien es Abschnitte an denen Hetfield seine volle Vocalrange ausnutzt, wir Gesangsharmonien zu hören bekommen oder die stilistische Ausrichtung des Albums. Doch im Kontext des allgemeinen Songwritings der Scheibe finden wir diese Lichtblicke leider selten. Viel zu oft wirkt der Aufbau oft nach Copy & Paste. Die ähnlichen Tempi helfen nicht weiter. Des Weiteren wird sich alten Ideen bedient. „Lux Aeterna“ ähnelt „Hit The Lights“ und das Thema der Strophe von „Sleepwalk My Life Away“ ist eine leicht abgewandelte Inversion von „Enter Sandman“. Am Ende gleichen sich Stärken und Schwächen dennoch auf „72 Seasons“ aus, auch wenn mein Fokus jetzt sehr auf den Schwächen des Albums lag.

Michael: Man findet hier und da ein paar Momente, wo mal ein bisschen was Geniales aufblitzt wie der Anfang von „Sleepwalk My Life Away“, bevor der Track zu einer „Enter Sandman“-Kopie degeneriert, oder die MOTÖRHEAD-Vibes von „Lux Æterna“ gefallen. Und der Refrain von „Chasing Light“ ist ganz nett. Aber ansonsten klingt das Album, wie mindestens ein Kommentator unter der Review schon angemerkt hat, wie von einer KI generiert. Für eine Band von der Größe und mit den Ressourcen halte ich das für inakzeptabel. Daher macht es mich umso wütender und trauriger, dass so viele sich damit zufrieden geben.

Wie viele Punkte vergibst du?

Jannik: 6 von 10

Steffen: 8 von 10

Jan Ole: 5 von 10

Michael: 3 von 10

27.04.2023

"Irgendeiner wartet immer."

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