Atrocity
Ein One Take ist immer dabei!
Special
Es ist ein Samstag im Frühherbst, der Pate für die schönsten Jahreszeiten-Kalender gestanden haben könnte. Beim Mittags-Spaziergang durch die Baden-Württemberger Weinregion können wir uns kaum sattsehen an dem bunten Laub, während die Sonne milde vom Himmel strahlt. Einen goldeneren Oktober kann es kaum geben.
Entsprechend geerdet treffe ich ein paar Stunden später in den Mastersound-Studios im Ludwigsburger Hinterland ein. Um den Eingang zum Studio zu finden, muss ich mich zwischen einem Garagentor und einem freistehenden Wohnhaus hindurchnavigieren und laufe prompt an der Tür vorbei. Ein gut gelaunter Luc Gebhardt (Gitarre) empfängt mich auf der Veranda und stellt mir kurz danach seine Freundin, Micki Richter (Gitarre) und seine Freundin vor. Während man über das neue ATROCITY-Album plaudert, insistiere ich: “Eigentlich will ich mich überraschen lassen, aber ich hoffe fest auf knallharten Todesmetal…”.
“Na, davon kannst Du ausgehen”, lässt eine tiefe Stimme aus dem Nebenraum vernehmen, bevor der Gastgeber und Band-Vorsitz Alex Krull der launigen Runde beiwohnt. Sofort bin ich begeistert von dem Mann, der völlig ungekünstelt und ohne jegliche Allüren den perfekten Gastgeber gibt. Während einer kurzen Studio-Tour erhalte ich Einblicke in die Entstehungsgeschichte dieses Ortes, und wir sprechen über gemeinsame Bekanntschaften, so klein ist die Welt. Nach und nach treffen die übrigen Gäste ein, und nach einer kurzen Einführung betritt die illustre Runde die heiligen Hallen, den Raum, in dem “Okkult III” seinen Feinschliff verpasst bekommen hat. Vor dem riesigen Mischpult in der Haupt-Regie nehmen wir lose verteilt unsere Plätze ein, während Alex Krull verkündet: “Bis auf zwei Leute, seid Ihr die ersten, die das Album hören werden, und ich bin wirklich gespannt, wie Ihr es findet.”
Wenige Bands haben derart entscheidende Einflüsse auf gewisse Entwicklungen innerhalb der Metal-Szene gehabt, wie ATROCITY, die mittlerweile seit 1985 nicht nur der Death-Metal-Anhängerschar ein Begriff sind. Neben Attributen wie Techno-Metal, kann die Band auf Kollaborationen mit DAS ICH, JOACHIM WITT oder OOMPH! zurückblicken. Dabei haben sich ATROCITY musikalisch selten wiederholt und sind ein Sinnbild für die oft zitierte Experimentierfreude vieler Künstler.
Jetzt erscheint mit “Okkult III” die letzte Folge einer Konzept-Trilogie, die bis ins Detail durchdacht ist. Schon mit dem Opener “Desecration Of God” wird ein Versprechen eingelöst: Death Metal wurde bestellt, Death Metal wird geliefert. Nach einem unheilvollen Intro, das wunderbar als Soundtrack für Horrorstreifen à la “Das Omen” passen würde, werde ich beinah aus der Ledercouch gerissen, so unvermittelt und mächtig setzt der Track ein. Was folgt ist ein Double-Bass-Massaker und heulende Gitarren. Am liebsten würde ich schon jetzt den beiden Saitenhexern um den Hals fallen. Das zweite Stück “Fire Ignites” setzt nahtlos an das Gemetzel an und ich gehe im Kopf einzelne Passagen für diesen Text durch, bleibe aber irgendwie an dem Mantra “Drums, Drums, Drums” hängen. Alex Krull stellt nach dem Songfinale die rhetorische Frage: “Ein guter Start?”, kann sich ein spitzbübisches Lächeln dabei aber nicht verkneifen. Die einstimmige Antwort muss er vorausgesehen haben.
Was folgt sind Stücke, die nicht bloß brachialen Death Metal transportieren, sondern wahrhafte Geschichten verarbeiten. Krull nutzt die Pausen immer wieder, um ein paar Worte zum jeweiligen Track oder eine Anekdote zu erzählen. So zum Beispiel zu “Born To Kill”, das vom ersten Weltkrieg handelt und für das auch ein Video-Clip produziert wurde. Man habe allerdings darauf geachtet, das stereotype Bild deutscher Soldaten nicht allzu sehr in den Fokus zu setzen und damit nicht für unangemessene Assoziationen zu sorgen. Die Band musste sich einst Vorwürfen, sie gehöre dem rechten Lager an stellen, weil sie deutsche Texte verwendete, als das noch nicht gesellschaftsfähig war. Damals zertrümmerte Krull während einiger Auftritte ein Hakenkreuz auf der Bühne. Nichtsdestotrotz berichtet er mit verschmitztem Blick, dass im “Born To Kill”-Video “der ein oder andere schon so ein Helmchen auf hat”. Man darf gespannt sein.
Mehr Death Metal geht beim folgenden “Bleeding For Blasphemy” nicht und das sehen außer Mastermind Krull alle Anwesenden genauso. Langweilig wird es während dieser Listening-Session zu keiner Sekunde. Das liegt einerseits an der dargebotenen Musik, die mit Deutsch-Englischen Lyrics (“Priest Of Plague”) ebenso funktioniert, wie mit liebevoll zusammengetragenen Sagen und Mythen. “Lycanthropia” ist so eine Nummer. In dem Lied wird die Geschichte von Peter Stubbe erzählt, der in ein Wolfsfell gehüllt, zum mittelalterlichen Massenmörder mutierte und letztlich in einem Werwolfprozess für schuldig erklärt und zum Tode verurteil wurde. Spontan beginne ich zu fabulieren, würde am liebsten blindlings den Knoten in meinen Haaren lösen und wild drauflos bangen, entsinne mich aber schnell wieder, dass dadurch der professionelle Rahmen dieser Veranstaltung schnell gesprengt sein würde.
“Das Herzstück der Platte stellt “Malicious Sukkubus” dar”, erklärt Krull zwischenzeitlich. Die darauf zu hörenden Stimmen von Elina Siirala (LEAVES‘ EYES, Krulls zweiter Band) und Zoë Marie Federoff (CRADLE OF FILTH) gehen unter die Haut. Der Song selbst bildet im ersten Moment ein atmosphärisches Gegengewicht zum bisher gehörten Material und tariert die Platte damit wunderbar aus.
Später erzählt Krull, dass die Arbeiten an “Okkult III” fast zwei Jahre in Anspruch genommen haben, weil die Band viel probiert hat. “Wir alle durchleben gerade sehr wechselhafte Zeiten. Wir konnten gar nicht wirklich damit rechnen, wann die Platte schließlich erscheinen wird. Die Zeit haben wir dann halt genutzt, die Songs dazu hatten wir ja. Es war eben wie bei einem guten Wein und hat ein bisschen Zeit gebraucht.”
Für “Faces From Beyond” wurde auch ein Video abgedreht, Micki Richter dazu: “Um die Gitarren einzuspielen, musste ich wirklich bis ans machbare Limit gehen.” Und in der Tat sprudelt der Song an vielen Stellen vor Virtuosität, die aber wohl nur den Ohren eines Gitarristen vorbehalten ist. Insgesamt fällt das fein abgestimmte Mastering auf, dass jedem Akteur seine Momente zugesteht, dabei aber nie in Ego-Gefrickel ausufert. Aus dem Augenwinkel sehe ich immer wieder, wie Alex Krull euphorisch mitswingt und bei bestimmten Momenten auch mal die imaginären Sticks der Air-Drums wirbelt. Wenn es um die Veröffentlichung seiner Musik geht, könnte der Mann eigentlich super souverän sein, an die er letzten Endes auch als Produzent selbst Hand angelegt hat. Stattdessen würde es mich nicht überrascht haben, wenn er die Songs heute das erste Mal gehört hätte, so mitreißend ist seine Freude.
“Okkult III” ist das mittlerweile elfte Studioalbum in der Geschichte der Band und – das lässt sich auch nach dem ersten Hören bestätigen – stellt eine erneute Evolutionstufe im ATROCITY-Vermächtnis dar. Dass sich die Band nie so richtig auf eine musikalische Ausrichtung festlegen wollte, ist vielleicht ein Grund dafür, dass sie bis heute eben nicht in aller Munde ist. Hört man umstrittene Alben wie “Werk 80” oder “Willenskraft”, nachdem die Erstlingswerke “Hallucinations” und “Todessehnsucht” auf dem Plattenteller lagen, wird dieser Umstand immer weniger nachvollziehbar. Dabei hat Alex Krull die musikalischen Taktwechsel gar nicht ohne Vorankündigung eingeläutet, immerhin wurde der brachiale Band-Start mit “Blut”, einem Konzeptalbum zu Krulls transylvanischen Wurzeln, abgemildert.
Das Finale von “Okkult III” läutet die Story eines polnischen Massenmörders ein, der Leichenteile seiner Opfer an die örtlichen Metzger verkauft haben soll. Alex Krull kündigt den dazugehörigen Song “Cypka” schwarzhumoristisch an: “Auf nach Stettin zum Würstelessen.” Mit einem industriellen Paukenschlag (“Teufelsmarsch”) endet “Okkult III” nach über einer Stunde Spielzeit, die mir aber irgendwie viel kürzer vorkam.
Später habe ich noch die Gelegenheit ein paar Wörter mit Alex Krull im Raum nebenan zu wechseln und gestehe ihm, dass ich seinerzeit ziemlich auf “Todessehnsucht” abgefahren bin und mir “Okkult III” deshalb am besten in den härteren Death-Metal-Momenten gefallen hat. Dadurch, dass Krull das Album selbst gemischt und gemastert hat, bestätigt er zwar die Annahme, dass man es nach dem damit verbundenen, x-fachen Abhören eigentlich nicht mehr hören kann. “Das war bei dieser Platte aber gar nicht so”, widerlegt er diese allgemein gehaltene These dann aber doch noch. “Die Produktion ist so fett und saftig. Du weißt schon, nicht dieses Klinische. Der natürliche Klang mit den fetten Gitarren, dem pumpenden Bass und den peitschenden Drums war uns extrem wichtig.”
Bei “Okkult III” sei vieles aus dem Bauch heraus entstanden und dennoch haben die Musiker mit viel Hingabe und Liebe zu Detail gearbeitet. Zwar gibt es natürlich auch immer mal First Takes und an die Vorstellung ein Album wie auf dem Reißbrett zu kreieren, mag sich der langhaarige Bandvorstand überhaupt nicht gewöhnen. Und genau deshalb habe man sich sehr viel Zeit genommen. “Natürlich habe ich aber vorab schon eine sehr klare Vorstellung von dem Klang.” Krull zeigt mir mit einem Anflug von Stolz in der Stimme die herumstehenden Gerätschaften und Amps. “Gerade beim Gitarrensound haben wir nichts dem Zufall überlassen. Wir haben alle möglichen Kombinationen aus Gitarren und Amps ausprobiert.”
Immer wieder lacht Alex und ist überhaupt bei bester Laune, wenn er über seine Musik spricht: “Es ist schon jedes Mal eine Herausforderung, eine Platte mit dem Anspruch zu machen, dass sie ein eigenständiges, in sich geschlossenes Werk ist. Und dann auch noch innerhalb einer Trilogie.” Im Rahmen der Okkult-Serie haben ATROCITY sogar ein Geocaching eingerichtet, bei dem es jeweils einen versteckten Song zu finden gilt. “Natürlich wollen wir auch nicht das schlechteste Album zuletzt rausbringen und noch einmal eine Schippe drauflegen. Da hat man sich selbst schon ordentlich Druck gemacht. Aber natürlich im positiven Sinne.”
Die Band gibt es mittlerweile seit 1985, wobei “das Feuer aber immer noch an ist”, wie es Krull beschreibt. “Den Großteil meines Lebens mache ich nichts anderes als Musik. Der Spirit und Drive ist noch da. Dafür muss ich aber nicht jedes Jahr eine Platte rausbringen, sondern es muss dann auch echt ein Fest sein, wenn alle paar Jahre mal ein ATROCITY-Album erscheint.” Deshalb übernimmt der, in seiner Freizeit auch als Wikinger agierende Hüne produktionstechnisch zwar die Verantwortung, behält die Vorlieben seiner Musiker aber im Blick.
ATROCITY gelten schon lange nicht mehr nur in der Metal-Gemeinschaft als die bunten Hunde, die Stile mixen und ihre Haut wechseln, wie andere die Unterhosen. Gerade die Kollaborationen mit Künstlern aus der Gothic-Szene sind ein Beleg dafür. Aber auch die vielen Besetzungswechsel haben in gewisser Weise einen Einfluss auf diese Entwicklungen innerhalb der Band. Allerdings ist ein wesentlicher Bestandteil für Alex Krull, dass ein neues Bandmitglied, die Seele atmen und das musikalische Erbe weiterführen muss. Dieses Erbe beinhaltet nach all den Jahren auch viele Geschichten, einen Lebensstiel, wie es Krull selbst ausdrückt. Immer wieder bedient er sich an Vergleichen zu seinem Lieblingssport, dem König Fußball und erzählt mit ungebremster Euphorie folgende Episode aus den Anfangstagen der Band: “1990, Fußball-Weltmeisterschaft in Italien und wir waren gerade in Florida bei Scott Burns im Studio. Wir sind zwischendurch immer rausgerannt und wollten sehen, wie unsere Mannschaft Argentinien wegputzt und er hat die Welt nicht mehr verstanden. Immerhin haben wir gerade unser Debüt-Album gemischt.”
Um bei Fußball-Metaphern zu bleiben: Nach den Aufnahmen, ist vor den Aufnahmen. “Die Frage ist sehr gut und auch berechtigt”, grätscht Krull dazwischen, besänftigt aber mit einem einladenden Lachen. “Zuerst werden wir aber endlich mal wieder auf Tour gehen. Wir spielen das erste ATROCITY-Konzert seit 2019. Diesbezüglich haben wir genügend Nachholbedarf und werden uns anschließend einem neuen Abenteuer widmen. Aber die Platte ist noch nicht abgeschlossen, da gehört der ganze Live-Zyklus für mich schon noch dazu.”
Abschließend bitte ich den Mann hinter den Reglern, die Okkult-Trilogie mit drei Worten zu beschreiben: “Dunkel. Episch. Brutal.” Inwiefern sich diese Attribute chronologisch der jeweiligen Veröffentlichung zuordnen lassen, bleibt jedem selbst überlassen.
Später belgeitet mich Alex Krull noch nach draußen, wo er unbedingt meine Frau begrüßen will. Sie nutzte die letzten Stunden für einen weiteren Spaziergang durch die grundehrliche Baden-Württemberger Weinregion im Frühherbst.