Lingua Mortis Orchestra
Listening-Session zum Debütalbum des neuen RAGE-Orchester-Projekts
Special
Bereits im Sommer 2010 verkündeten RAGE, ihre Orchester-Ambitionen künftig als eigenes Projekt unter dem LINGUA-MORTIS-ORCHESTRA-Banner fortzuführen. Dass das quasi-selbstbetitelte Debütalbum „LMO“ erst rund drei Jahre später erscheinen würde, hätten die Musiker damals selbst nicht gedacht. Wir folgten der Einladung ihres Labels Nuclear Blast ins schwäbische Donzdorf, wo die Scheibe Anfang Mai erstmals der versammelten Metal-Presse vorgestellt wurde und für einige herunterklappende Kinnladen sorgte.
„Metal.de kenn ich – also schreib keinen Scheiß, ich les das!“ begrüßt mich Drummer André Hilgers lachend, als ich ihn und Bassist/Sänger Peavy wenig später zum Interview treffe. Doch das ist leicht gesagt, wenn man versucht über Songs zu schreiben, die so komplex und anspruchsvoll geraten sind, dass man ihnen nach einem einzelnen Hördurchgang unmöglich gerecht werden kann. Auf Anhieb bin ich aber schwer begeistert und finde „LMO“ wesentlich überzeugender als das letzte RAGE-Album „21“. „Ich nehm das mal als Lob,“ freut sich Peavy. „Das sind wirklich die besten Stücke, die wir seit Menschengedenken gemacht haben, finde ich. Schon von der Komposition der Songs her sind das echte Hammerdinger!“
Dabei ist das in BLIND GUARDIANs „Twilight Hall Studios“ von Gitarrist Victor Smolski und Charlie Bauerfeind produzierte Album noch gar nicht richtig fertig. „Wir sind eigentlich schon wieder eine Woche über dem Abgabetermin drüber,“ erklärt Peavy, „aber wir schaffen das grade so. Victor ist mit dem Mix noch nicht ganz fertig und die eine Woche Verzögerung macht den Kohl nicht fett.“ So gibt es heute also nur den vorläufigen Mix, der aber bereits einen amtlichen Eindruck hinterlässt und keine Zweifel an der Qualität des Songmaterials erlaubt.
Los geht es mit düsteren Didgeridoo-Klängen und Chorgesang. Der Opener „Cleansed By Fire“ führt behutsam und nacheinander die einzelnen Stimmen ein, die den LINGUA-MORTIS-ORCHESTRA-Sound definieren. Das Orchester steigert sich immer weiter, bis schließlich auch Bass, Gitarre und Schlagzeug einsetzen und den ohnehin hohen Power-Level noch weiter steigern können. Wer dachte, dass orchestrale Unterstützung einer Metal-Band ihre Härte nimmt, der darf sich hier eines besseren belehren lassen. Dem LINGUA MORTIS ORCHESTRA gelingt das Kunststück, noch eine ganze Spur härter aufzutreten als man es von RAGE bisher kannte. Dabei kommt aber auch die Dynamik nicht zu kurz. Die weiblichen Gesangsstimmen bilden einen schönen Kontrast zu Peavys gewohnt rauem Organ und ein ruhiger Bläser/Geiger-Part bereitet den Boden für eine progressiv-frickelige Solo-Einlage von Victor Smolski. Und auch wenn die Band es bestreitet, vermeine ich dabei vereinzelte Zitate aus dem früheren Orchesterwerk von RAGE zu erkennen, ohne dass sich die Band dabei ernsthafte Selbstplagiats-Vorwürfe gefallen lassen müsste.
Der Übergang zu „Scapegoat“ erfolgt nahtlos, dabei erschlägt die gewaltige Sound-Walze den Zuhörer im ersten Moment geradezu. Hier gibt es noch weniger Bombast, noch mehr Härte, die sich in einem hymnischen Bridge/Refrain-Teil effektvoll entlädt. Das Stück ist eines der simpleren auf dem Album, was aber im Grunde nicht viel heißen will. Kaum zu glauben, dass die Jungs das Material in vergleichsweise kurzer Zeit arrangiert und eingespielt haben. André: „Für die ganze Session an sich hatten wir nur vier Wochen Zeit und sind mit dem Endmix, wie du vorher mitbekommen hast, noch gar nicht fertig – also ‚wir‘ heißt eigentlich Victor und Charlie.“ Peavy: „Wir haben natürlich vor diesen vier Wochen schon Sachen aufgenommen gehabt, aber das war schon die heiße Phase.“
Im ersten Moment etwas deplatziert wirken die futuristischen Electro-Sounds, die uns zu „The Devil’s Bride“ bringen. Das Stück tönt wieder etwas bombastischer und verfügt über einige wahrhaft epische Melodien, zudem liegt die Betonung stark auf den weiblichen Gesangsparts. Obwohl es das LINGUA MORTIS ORCHESTRA dem Zuhörer alles andere als leicht macht, packen sie den Zuhörer und lassen ihn nicht mehr los. Man merkt RAGE ihre langjährige Erfahrung als Vorreiter im Metal-meets-Orchester-Bereich überdeutlich an, alles passt perfekt zusammen. „Wir haben jetzt auch das Gesamtwerk zum ersten Mal komplett gehört, weil wir einfach so wenig Zeit hatten, dass Victor noch bis spät in der Nacht im Studio saß und heute ganz frisch mit dem Tape angekommen ist,“ gesteht André. „Ich bin selber auch positiv überrascht, wie fett jetzt dann letztendlich doch alles geworden ist.“
Eine kleine Verschnaufpause kommt da durchaus gelegen. „Lament“ gibt sich als Ballade wesentlich zugänglicher als der Rest des Songmaterials und dürfte als Single-Auskopplung prädestiniert sein. Peavy singt samtweich, die weibliche Gesangsstimme wirkt vielleicht schon eine Spur zu poppig. Nichtsdestotrotz verleiht die Orchester-Unterstützung der bewusst simpel gehaltenen Nummer angenehm viel Tiefgang. Für ganz große Emotionen sorgt gegen Ende der extrem eindringliche zweistimmige Gesang und auch Victors Gitarrensolo erinnert eher an AOR und Stadion-Rock als an frickelige Prog-Eskapaden.
Das kurze Instrumentalstück „Oremus“ bereitet den Zuhörer sanft darauf vor, dass es gleich wieder richtig zur Sache gehen wird. Das Gitarrensolo zu Beginn wird zu Victors David-Gilmour-Moment und erinnert an die Spätphase von PINK FLOYD, das Song-Fundament bilden hingegen sphärische Synthie-Teppiche.
Wie perfekt Band und Orchester harmonieren zeigt sich auch im Aufbau von „Witches‘ Judge“, wo Bass, Gitarre und Schlagzeug einen geradezu klassischen RAGE-Groove als Unterbau legen, während Melodieführung und Spannungsaufbau der verschachtelten Nummer beinahe vollständig dem Orchester obliegen. Dabei übersieht man allzu leicht das brilliante Riffing, das dem gleichermaßen druckvollen wie melodisch eingängigen Stück zugrundeliegt. „Das sind lauter verminderte Akkorde,“ zeigt sich Peavy von der Komposition seines Gitarristen, der ohnehin für einen Großteil des Materials verantwortlich zeichnete, begeistert. „Das ist so ein geile, eingängige Hookline, aber so ungehörig – ich hab noch nie so ein Riff gehört! Das ist irgendwie einfach begnadet.“
Seinen Höhepunkt erreicht der albumübergreifende Spannungsbogen aber erst im Folgestück „Eye For An Eye“. Nirgendwo kommt „LMO“ einem Film-Soundtrack so nahe wie im Intro des auf einem treibenden Groove basierenden Stücks. Die fantastische Refrain-Melodie sorgt auf subtiles Weise für Gänsehaut-Feeling, brennt sich dabei ins Gehör ein und verleitet unweigerlich zum Mitsingen. „Das Stück ist wirklich wie so ein kleines Musical, nicht?“ freut sich auch Peavy. Nach einem ruhigen Bridge-Part als Verschnaufpause leitet die Bombast-Nummer in ein fulminantes Song-Finale über, bei dem Band und Orchester noch einmal ihre Klasse demonstrieren, bevor Orgelklänge in den letzten Song überleiten.
„Afterglow“ ist – nomen est omen – eine Art Coda, die durch den Einsatz wabernder Synthie-Samples einen klaren Bezug zur Gegenwart herstellt. Spannend ist aber vor allem auch die geisterhafte Clean-Gitarre, die im Intro sehr akzentuiert zum Einsatz gebracht wird. Das Stück sorgt für einen ruhigen, nachdenklichen Ausklang, hat seine poppigen Momente und überzeugt mit Gänsehaut-Melodien und einer herrlich unprätentiösen Gitarren-Arbeit im Solo-Part. Das finale Riffing erinnert dabei einmal mehr völlig unverkennbar daran, dass wir im Grunde eben auch ein RAGE-Album vor uns haben. Im Outro werden dann noch einmal die Didgeridoo-Klänge vom Anfang der Scheibe aufgegriffen. Der Kreis schließt sich also und man möchte spontan nach der „Repeat“-Taste suchen, um diese brilliante Orchester-Metal-Scheibe noch einmal in ihrer vollen Pracht genießen zu können.
Als Bonus-Songs für die Special-Editions von „LMO“ hat das LINGUA MORTIS ORCHESTRA zwei Klassiker von RAGEs „Welcome To The Other Side“-Album mit Orchesterunterstützung neu aufgenommen. Und obwohl „Straight To Hell“ und „One More Time“ zweifellos großartige Songs sind, fällt hierbei doch deutlich auf, dass die Orchesterparts sich nicht so harmonisch einfügen, sondern etwas aufgesetzt wirken. Zwei interessante Neuinterpretationen also, über die sich die treuen Fans freuen werden, aber eben nicht so unverzichtbar wie die originären LMO-Stücke.
Alles in allem sind RAGE auch in ihrer neuen Inkarnation als LINGUA MORTIS ORCHESTRA ihrem Ruf als Vorreiter der Metal-meets-Orchester-Bewegung hundertprozentig gerecht geworden. Wo man gerade noch dachte, in diesem Bereich wäre bereits alles gesagt, liefern sie einen wahren Augenöffner ab, der das Zeug zur neuen Referenz im Symphonic-Metal-Bereich hat und an der sich zukünftige Werke vergleichbarer Bandkonzepte nun messen lassen müssen.
Bleibt zum Schluss nur noch die Frage, wie es in Zukunft sowohl mit LINGUA MORTIS als auch mit RAGE weitergehen wird. André: „Erstmal muss das Album erscheinen, dann werden wir auf Tour gehen und müssen einfach abwarten, was passiert. Wir wissen ja gar nicht, ob das boomt und wir vielleicht nächstes Jahr Millionäre sind. (lacht) Nein, wir versuchen jetzt erstmal mit LINGUA MORTIS eine neue Band zu etablieren, das ist für uns alle ein neues Baby. Oder besser ein Diamant, den der Peavy in den Neunzigern ausgegraben hat, und Victor hat jetzt angefangen ihn zu schleifen. Ich bin dazu gekommen und ich bin froh, ein Teil dieser Band zu sein, nicht nur bei LINGUA MORTIS, bei RAGE sowieso. Wir werden einfach sehen, was passiert, es gibt keinen Plan.“ Immerhin können RAGE im nächsten Jahr bereits auf dreißig Jahre Bandgeschichte zurückblicken. Peavy: „Da wollen wir irgendwas machen, da gibt es auch schon einen Haufen Ideen, aber es ist noch keine wirkliche Entscheidung gefallen.“
Langweilig wird es im Hause RAGE also sicherlich nicht. André: „Ich will nicht sagen, wir erfinden uns selbst immer neu, aber wir machen es definitiv nicht langweilig für uns. Wenn das Album jetzt einschlägt, werden wir uns nächstes Jahr vielleicht darauf und Ende des Jahres auf 30 Jahre RAGE konzentrieren und dann vielleicht das Jahr darauf ein neues Album machen. Um deine Frage einfach mal konkret zu beantworten: Wir planen nicht, jetzt jedes Jahr irgendetwas neues zu machen. Wenn wir die Möglichkeit haben, nächstes Jahr mit dem LINGUA MORTIS ORCHESTRA noch ein paar Shows zu spielen, dann werden wir das natürlich machen. Parallel dazu werden wir bestimmt auch ein paar RAGE-Sachen machen, wo wir dann definitiv bestimmt keine Orchestersachen mehr spielen, weil die können wir ja jetzt auch mit LINGUA MORTIS spielen.“
Wer weiß, wie es mit dem LINGUA MORTIS ORCHESTRA weitergehen wird. Wäre es im Falle eines überwältigenden Erfolgs sogar denkbar, dass man RAGE einfach still und heimlich zu Grabe tragen und nur noch im Rahmen des Orchesterprojekts weitermachen wird, wie man es bereits bei SAVATAGE und dem TRANS-SIBERIAN ORCHESTRA erleben konnte? André: „Ich denke mal, ich spreche für uns alle, wenn ich sage, dass wir uns da gar nicht festlegen und uns keinen Stress machen. Wir haben von Nuclear Blast aus auch keinen Stress, wir warten jetzt erstmal ab, wie das Album einschlägt. Wenn es bei allen so einschlägt wie bei den sechs Leuten, mit denen ich heute gesprochen habe, dann können wir ganz beruhigt abwarten, was passiert.“