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Nachgehakt – wie gut ist "The Congregation" wirklich?

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Vor Kurzem hat das vierte LEPROUS-Studiowerk „The Congregation“ beim Kollegen Rasmus Peters die Höchstwertung abgeräumt. Da drängt sich ein Redaktionsspecial ja geradezu auf. Deswegen haben vier unserer Redakteure die Platte nochmals auf den Prüfstand gehoben, um die Frage aller Fragen zu beantworten: Wie gut ist das Album wirklich?

Das Format kennt ihr bereits von den Checks der aktuellen ARCHITECTS– und BLOODBATH-Scheiben: Im Sinne bestmöglicher Objektivität beantworten alle Redakteure dieselben Fragen. Für „The Congregation“ haben wir diesmal die Prog- und Experimental-Experten der Redaktion zusammengetrommelt: Das Album begutachten Nadine Schmidt, ausgewiesene Kennerin des modernen Metal-Segments, Falk Wehmeier, Redakteur mit Hang zu allem, was aus der Reihe fällt, Alex Klug, Synth-Nerd und Prog-Liebhaber sowie Anton Kostudis, Leiter des Modern- und Post-Metal-Ressorts. Ob die vier Redakteure ihrem Kollegen beistimmen, erfahrt Ihr im Folgenden. Viel Spaß beim Lesen!

Anton: „Tight wie Arsch auf Eimer.“ Das waren in der Tat meine ersten Gedanken, als „The Price“ die Platte mit markantem Riffing eröffnete. Als Mr. Solberg dann die ersten „Ah-Ahs“ intoniert hatte und im Refrain schließlich bratzelnde Keys das finster-massige Gitarrenfundament umspielten, schossen mir zudem Begrifflichkeiten wie „Frische“, „Fortschrittlichkeit“ und „Eigensinn“ durch den Kopf.

Falk: Da ich den Opener „The Price“ bereits vor Veröffentlichung des Albums durch das zugehörige Video kannte, war der Einstieg in „The Congregation“ keine echte Überraschung – allerdings war „The Price“ das auch nicht gewesen: Das sind unverkennbar LEPROUS; und sie setzen fort, was sie mit „Coal“ begonnen haben.

Nadine: Klar strukturiert und aufgeräumt, aber gleichzeitig reichhaltig und ungewöhnlich, wie der Blick durch ein musikalisches Kaleidoskop. Anregend und fordernd, dieses Werk kann niemand in einem Durchgang erfassen und schon gar nicht verstehen. „Somewhere, someone, must bow“ singt Einar Solberg im Song „Third Law“ und momentan darf sich die gesamt Prog-Gemeinde mal ganz tief vor den Norwegern LEPROUS verbeugen.

Alex: Ein Album, das ganz klar unter aktiver Mitgestaltung des großartigen Drummers Baard Kolstad (u.a. BORKNAGAR, GOD SEED, ICS VORTEX, ABBATH) entstanden ist. Das Resultat ist eine proggy-ausgearbeitete, aber nicht minder von treibenden Rhythmen dominierte Platte. Da ist jemand endlich in der richtigen Band angekommen.

Nadine: „Rewind“! Ohne mich in Details zu verlieren: 7:07 Minuten Vollkommenheit – und zwar in allen Belangen. Baard fügt „The Congregation“ generell eine andere Note hinzu und war sicher die optimale Besetzung für den vakanten Posten am Schlagzeug. LEPROUS liefern hier einen Epos, das die Boxen zum Beben bringt und zeigt, dass Musik ein Gefühl ist. Wenn Einar „I am hollow…“ singt, fühlt man sich tatsächlich in andere Sphären versetzt. Was hier transportiert wird, kann man nicht mit Worten erklären – kauft euch „The Congregation“ und erlebt den Trip selbst. Beobachtet, wie sich die Gänsehaut auf eurem kompletten Körper ausbreitet und lacht von da an über das, was andere Musik nennen.

Falk: Meines Erachtens ist „The Flood“ der stärkste Song des Albums – weil er alle Stärken LEPROUS‘ vereint: Zu Beginn balladesk, nahezu fragil – im weiteren Verlauf ist der Track nicht nur progressiv und sperrig, sondern verknüpft diese Attribute mit der LEPROUS’schen Dynamik, die den Song zu einem der abwechslungsreichsten Stücke des Albums macht.

Anton: Ich bleibe bei „The Price“. Das Eröffnungsriff kriege ich seit dem ersten Durchlauf nicht mehr aus dem Kopf. Zudem vereint der Song in fünf Minuten alles, was LEPROUS heuer auszeichnet: Zerbrechlichkeit, Wucht, düstere Atmosphäre und spielerisches Format. Kurz dahinter kommt „Moon“. Weil es sich mit seinem besonderen Flair und Charakter deutlich von den anderen Stücken abhebt.

Alex: Ebenfalls „The Price“. Natürlich macht man es sich leicht, den Opener als stärksten Song anzuführen, doch die angedjentete, später von Synthesizern wiederholte Eröffnungspassage fasst „The Congregation“ bestens zusammen.

Nadine: Die Länge. Da LEPROUS eine Flut von Eindrücken über uns ergießen, kommen die hinteren Songs zu kurz, denn selbst als aufnahmefähiger Hörer kommt man schnell an seine Grenzen. Die Stimme ist gewöhnungsbedürftig und wird sicher von einigen auch als Schwäche ausgelegt werden, auch wenn sie natürlich genau in den unvorhersehbaren Komos von LEPROUS passt. Diese beiden Faktoren könnten dazu führen, dass ein Großteil der Hörer nicht zum Höhepunkt findet.

Alex: Mögen LEPROUS inzwischen auch eine beträchtliche Eigenständigkeit entwickelt haben, mit dem gängigen Prog-Metal-Problem des mangelnden Abwechslungsreichtums haben sie jedoch immer noch etwas zu kämpfen. Natürlich erwartet hier niemand, dass Song für Song dank mitreißendem Ohrwurmcharakter hängen bleibt. Doch manch poppigem Refrain zum Trotz verschwimmen nach elf Songs auch gern mal die Grenzen. Hat aber ja irgendwie auch etwas für sich. Im Übrigen darf Einar Solberg auch gern noch ein paar andere Keyboard-Sounds (wie z.B. auf „Down“) auspacken. Gerade der Vorgänger „Coal“ bot da etwas mehr Abwechslung als das grenzenlose Synthesizer-Dauerprogramm.

Anton: Ich weiß, dass ich dem Mann damit Unrecht tue, dennoch: Solbergs Gesang geht mir irgendwann auf die Nerven. Im Einzelnen ist seine Performance herausragend, am Stück eine leichte Belastung. Das allerdings ist höchst subjektiv und gilt daher wohl nicht als Argument. Tatsache ist aber, dass der Mittelteil des Albums in puncto Konsequenz und Genialität etwas abfällt. Bis zu „Rewind“ ist alles super, dann kommt eine längere, weniger konsequentere Phase, bis zum Schluss „Moon“ und „Down“ das starke Finale einleiten. Einfacher gesagt: Die Platte hat Kracher, an denen ich mich nicht satthören kann, aber auch diverse Songs, die mich einfach nicht vollends überzeugen.

Falk: Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass „The Congregation“ im Laufe seiner Spielzeit qualitativ ein wenig „abnimmt“ – das mag natürlich daran liegen, dass meine für derart progressiven und sperrigen Metal zuständigen Synapsen irgendwann gesättigt sind und einfach nicht mehr aufnehmen können, aber das wäre mir bei LEPROUS tatsächlich neu. Ich schätze eher, dass sie sich bei aller Abwechslung und Dynamik irgendwann selbst im Weg stehen. War „Bilateral“ noch stilistischer „Sturm und Drang“, festigten LEPROUS bereits mit „Coal“ ihren eigenen Stil, den sie auf „The Congregation“ weiter verfeinert haben – sie können damit aber auch nicht ganz vermeiden, dass sich ein paar klitzekleine Längen einschleichen. Das ist natürlich Gejammer auf hohem Niveau, überrascht mich aber ein wenig.

Anton: Die Bandbreite ist enorm. Von gänzlicher Zurückhaltung bis hin zu ausladenden, energischen Parts deckt die Scheibe das gesamte Spektrum ab. Keys und Gitarren ergänzen sich prächtig und spielen sich immer wieder den Ball zu, nichts wirkt dabei überladen – gerade Songs wie „Moon“ und „Rewind“ sind dramaturgische Kleinode.

Falk: Aus technischer Sicht fahren LEPROUS einmal mehr alles auf, was sie zu bieten haben – daher läuft „The Congregation“ in Sachen Abwechslungsreichtum beinahe außer Konkurrenz. Die Kunst, die LEPROUS bereits auf „Bilateral“ durchblicken ließen, auf „Coal“ in den Vordergrund stellten und nun auf „The Congregation“ (vielleicht sogar etwas zu sehr) verfeinern, ist, bei aller Liebe zur Abwechslung einen homogenen musikalischen Ausdruck zu finden. Den bietet „The Congregation“ ohne den geringsten Zweifel – und setzt damit einen beeindruckenden Kontrast zu der gebotenen technischen Variabilität.

Nadine: Eher weniger abwechslungsreich. Ein System ist erkennbar, was nicht bedeutet, dass es nur ansatzweise exportierbar wäre. LEPROUS gehören zu den wenigen Bands, bei denen mir keine passende Referenz einfallen will. Alles auf „The Congregation“ ist sehr rhythmusbetont, sehr elegisch und dementsprechend liegt der Fokus hier nicht auf den Gitarren und freidrehenden Soli. Abwechslung besteht also im Tausch, Aufbau, Transformieren und dem Durchwirbeln der verfügbaren Rhythmusfragmente, die mal härter und mal weicher aufschlagen.

Anton: Da ich die Herrschaften bereits live bewundern durfte und daher weiß, dass sie ihre Kompositionen nahezu perfekt auf die Bretter bringen, freue ich mich unglaublich auf die nächste Show – egal, welche der neuen Songs es am Ende in die Setlist schaffen. Hätte ich die Wahl, würde ich neben mehrfach erwähnten „The Price“ vor allem auf „Third Law“ setzen – dieser Refrain muss live einfach nur gewaltig sein. „Rewind“ und „Down“ sind sicher starke Songs, die aber auch ihre Längen haben. Wahrscheinlich aber wird erstgenannter aufgrund seiner Theatralik und Gänsehaut-Momente wohl der Schlusstrack bei den kommenden Shows werden. Würde ich drauf wetten.

Nadine: „The Price“, „Third Law“ und „Rewind“ – wohl die mit Abstand beste Albumeröffnung, die ich jemals gehört habe. Was LEPROUS mit diesem Triple auffahren, ist bemerkenswert. Rhythmusversetzter Refrain, dumpfe Bläser als Basis und eine Intensität, die den Hörer komplett abschießt. Alleine mit diesen knapp 19 Minuten setzen LEPROUS schon mehr an Einfallsreichtum und Können um, als manche Bands in ihrer kompletten Karriere. Allein Baard Kolstad an den Trommeln ist unglaublich sehens- bzw. hörenswert.

Falk: Leider ist mir bis jetzt die Gelegenheit verwehrt geblieben, LEPROUS live zu sehen – daher kann ich das nur bedingt einschätzen. Ich denke aber, dass aufgrund ihrer treibenden Dynamik vor allem „Third Law“ und „Rewind“ exzellente Live-Stücke sein dürften. Aber auch „Slave“ besitzt durch seinen Mitsing-Refrain sicher Potential für die Bühnen dieser Welt.

Alex: Vom Artwork gehen zwar etwas negativere Stimmungen aus, als die Musik letztendlich vermittelt, aber alles ist besser als der 2013er Kristallschädel des Todes. Kann man also schon so machen.

Nadine: Inhaltlich mag das Artwork passen, aber wer „The Congregation“ nicht kennt, wird eine andere Art von Musik erwarten und nicht unbedingt anspruchsvollen Prog. Etwas Verschachteltes oder Architektonisches hätte den Hörer eher geleitet, letztendlich hat auch das Bandlogo wenig Aussage und suggeriert keinen Anspruch. Für den Genuß der Platte und zur Untermauerung der Qualität von LEPROUS ist das natürlich absolut sekundär und nichts weiter als ein belangloser Fakt.

Anton: Da ich – heute darf ich das ja sagen – noch aus der Generation der CD-Sammler stamme und folglich keine opulenten Picture-Vinyls im Schrank stehen habe, ist mir das Artwork bei Alben nicht so wichtig. Ist es schön und besitzt Wiedererkennungswert – fein. Ist es furchtbar, aber die Musik erstklassig – ist mir das am Ende herzlich egal. Das Artwork von „The Congregation“ ist zweifelsfrei stimmig und transportiert eine düstere, wirre und auch nachdenkliche Stimmung, welche sich ohne Frage auch in der Musik und den Texten widerspiegelt. Andererseits ist es kein Design, welches aus der Masse wirklich heraussticht. Solide, würde ich sagen.

Falk: Die Produktion ist schlicht und ergreifend perfekt: Sie besitzt die nötige Schwere, ohne undynamisch oder flach zu klingen. Gleichzeitig bietet sie allen beteiligten Instrumenten und Einars Stimme genug Raum, sich zu entfalten. Respekt.

Alex: Ohne Frage steril, aber nicht zu steril. Für die charakteristisch rhythmischen Momente absolut angemessen und LEPROUS-typisch, für ausladende Balladen wie „Lower“ etwas intensitätsschmälernd.

Anton: Die Produktion ist fantastisch – zeitgemäß, aber nicht zu steril. Ich selbst hätte wohl bei den Gitarren noch etwas Biss draufgegeben – das hätte sich dann allerdings womöglich mit den Keyboards nicht vertragen. Wurscht. Beim Sound passt alles.

Falk: Neun Punkte. LEPROUS sind (auch) mit „The Congregation“ nahe an der Perfektion – aber eben noch nicht ganz da. Leider kann das Album nicht auf voller Länge die Qualität der ersten vier Songs halten – wenngleich auch die vermeintlich „schwächeren“ Songs weite Teile der Prog-Metal-Welt alt aussehen lassen.

Anton: Acht Punkte. „The Congregation“ ist zweifelsfrei ein großartiges Album, das aber – komplett am Stück gehört – nicht immer mitreißt.

Nadine: Neun Punkte. Die Messlatte hängt hoch, sehr hoch. Aber ich bin mir sicher – LEPROUS können noch mehr.

Alex: Acht Punkte. Live-Performance abwarten, bestimmt versteckt sich hier noch der eine oder andere „Grower“.

15.06.2015
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