Iron Maiden
Der lange Weg zu "Brave New World"

Special

250.000 Menschen. 250.000 Menschen stehen vor der Bühne, jubelnd und feiernd, als IRON MAIDEN am 19. Januar 2001 ihre „Brave New World“-Tour beim Rock In Rio Festival beenden. Es ist der vielleicht größte Headlinerauftritt, den die Band in ihrer bisherigen Karriere bestritten hat. Diesem triumphalen Moment geht ein steiniger Weg voraus. Der lange Weg zu „Brave New World“, dem vielleicht wichtigsten Album der Heavy-Metal-Veteranen seit dem Ende der 80er.

Zurück in die Vergangenheit

Dieser Weg beginnt fast ein ganzes Jahrzehnt zuvor. Nach dem allenfalls mittelmäßigen „No Prayer For The Dying“ und dem etwas besseren „Fear Of The Dark“ kündigt Frontmann Bruce Dickinson 1993 seinen Ausstieg bei IRON MAIDEN an. Er will sich fortan stärker auf seine Solokarriere konzentrieren und andere musikalische Genres erkunden. Bei seiner finalen Show verschwindet er – wie könnte es anders sein? – in einer Eisernen Jungfrau.

Dazu kommt, dass Bandleader Steve Harris in einer privaten Krise steckt, da ihm die Scheidung von seiner damaligen Ehefrau bevorsteht. Auf Grund der großen Belastung von allen Seiten sieht der kreative Kopf kaum eine Perspektive für seine Band. Der bis dahin unumstößliche Kahn IRON MAIDEN droht zu sinken.

Bei einem Treffen der verbleibenden Mitglieder steht das Ende der Band im Raum. Der sonst zurückhaltende Gitarrist Dave Murray aber sorgt für den entscheidenden Paukenschlag. Sein Motto ist „Scheiß auf Bruce“. Murray sieht nicht ein, warum die gesamte Band den Kopf in den Sand stecken sollte, nur weil ihr Frontmann keine Lust mehr hat. Damit ist das Feuer wieder entfacht.

Die unendliche Suche

Anschließend sichtet die Band zahllose Demos von Sängern, die für den Posten als Dickinsons Nachfolger in Frage kommen. Die Wahl fällt schlussendlich auf Blaze Bayley von WOLFSBANE. Zwischen 1994 und 1998 nehmen IRON MAIDEN mit ihm „The X-Factor“ und „Virtual XI“ auf. Beide Alben bleiben kommerziell weit hinter früheren Erfolgen zurück. Auch die Hallen, in denen die Band auftritt, werden zunehmend kleiner – und sind trotzdem nicht ausverkauft.

Zudem kämpft Bayley häufig mit stimmlichen Problemen. Die anspruchsvollen Stücke aus dem Backkatalog der Band treiben ihn live an seine Grenzen. Immer öfter müssen IRON MAIDEN Shows absagen. Um ihre Karriere wieder auf Kurs zu bringen, fasst Manager Rod Smallwood einen Entschluss. Bruce Dickinson muss zurückkehren.

Der verlorene Sohn wiederum legt dafür das perfekte Timing an den Tag. Mit „Accident Of Birth“ besinnt er sich 1997 auf seine Wurzeln und liefert klassischen Heavy Metal ab. Außerdem befindet sich im Line-up seiner Band Gitarrist Adrian Smith, der IRON MAIDEN schon 1990 verlassen hatte. Gemeinsam geben sie den Fans ihrer ex-Band auf „Accident Of Birth“ das, was sie wollen. 1998 legen sie das nicht minder starke „The Chemical Wedding“ nach.

IRON MAIDEN ziehen Konsequenzen

Steve Harris ist über diese Entwicklung alles andere als begeistert. Für ihn gibt es immer nur eine Richtung: nach vorne. Den alten Frontmann um eine Rückkehr zu bitten, widerstrebt Harris‘ Philosophie, nicht in der Vergangenheit zu verweilen. Nach einigem Hin und Her lässt er sich trotzdem zu einem Treffen breitschlagen.

Die lange Zeit, in der Smallwood Harris und Dickinson bearbeitet hat, zahlt sich aus. Im Wohnzimmer des gemeinsamen Managers sprechen sich die beiden zum ersten Mal ernsthaft über ihre Gefühle aus, arbeiten die Trennung auf und schmieden Pläne für eine gemeinsame Zukunft. Es ist Dickinson, der als Erster von einem neuen Album spricht. Der Erste, der davon spricht, dass IRON MAIDEN nicht zum Nostalgieact verkommen dürfen. Damit sichert er sich Harris‘ Aufmerksamkeit. Noch dazu lockt für beide Seiten die Aussicht, endlich wieder große Arenakonzerte und Festivals statt kleiner Clubs zu spielen.

Zur Vereinbarung rund um Dickinsons Rückkehr gehört ebenfalls die Wiederaufnahme von Adrian Smith in die Band. Anstatt seinen zwischenzeitlichen Ersatzmann Janick Gers zu entlassen, machen IRON MAIDEN fortan mit drei Gitarristen weitere. Harris hatte sich diese Besetzung ohnehin immer gewünscht. Nur zwei Tage nach dem entscheidenden Treffen veranlasst die Band eine Fotosession, um das neue, alte Line-up der Öffentlichkeit zu präsentieren.

Einmal um die Welt und zurück

Bevor es an neues Songmaterial geht, starten IRON MAIDEN 1999 mit der „Ed Hunter“-Tour durch. Anlass der Tour ist die Veröffentlichung des gleichnamigen Videospiels nebst Best-Of-Album. Auf den Konzerten erleben die Fans eine Wiedergeburt ohne Gleichen. Dickinson kann plötzlich selbst die schwierigsten Stellen aus „Run To The Hills“ problemlos singen. In der Vergangenheit musste er die Gesangslinien live oft abändern. Dazu kommt eine Agilität, wie sie die Bühnenperformance der Band schon lange nicht mehr hatte.

Einen ersten Höhepunkt der neuen MAIDEN-Ära stellt ihr Auftritt in Paris am 09. September desselben Jahres dar. Das erste Konzert der Tour auf europäischem Boden ist mit 17.000 Zuschauenden im Palairs Omnisports de Paris-Bercy ausverkauft. Die Setlist durften die Fans im Vorfeld der Konzertreise durch ein Online-Voting mitbestimmen. Dadurch stehen Klassiker wie „Hallowed Be Thy Name“ und „Powerslave“ gleichberechtigt neben Songs aus der Blaze-Bayley-Ära. Ein Umstand, der Fans aller Schaffensphasen zur Ekstase bringt. Die Fanchöre hallen nach dem Ende des Konzerts noch lange durch die Nacht.

Doch das ist nur der Anfang. Schließlich haben IRON MAIDEN ein Versprechen einzulösen, das sie sich selbst gegeben haben. Sie wollen keine Nostalgieshow werden. Dafür muss nach der „Ed Hunter“-Tour ein neues Album her. Als erstes steht die Frage nach einem geeigneten Produzenten im Raum. Martin Birch, der sich für alle Klassiker der Band verantwortlich zeigt, ist schon längst im Ruhestand.

IRON MAIDEN brauchen den richtigen Mann

Zahllose Gerüchte machen die Runde. Wird es etwa Roy Z, der Dickinson schon bei „Accident Of Birth“ und „The Chemical Wedding“ zu Erfolgen verhalf? Oder macht doch Bob Rock das Rennen? Immerhin hat er MÖTLEY CRÜE und METALLICA zu ihren erfolgreichsten Alben überhaupt verholfen. Am Ende fällt die Entscheidung auf Kevin Shirley, der in der Vergangenheit mit Größen wie AEROSMITH, RUSH und JOURNEY gearbeitet hat. Die Arbeiten an „Brave New World“ beginnen.

Im Studio gibt sich Shirley deutlich gelassener als einst Martin Birch. Er lässt allen Bandmitgliedern gleichermaßen seine Aufmerksamkeit zu Teil werden, analysiert die bandinterne Dynamik präzise und reagiert entsprechend. Dazu kommt, dass IRON MAIDEN mehr denn je als Einheit agieren.

Frühere Alben der Band waren oft von Steve Harris‘ Songwriting geprägt. Auf der neuen Platte ist er zwar weiterhin federführend, lässt seinen Kollegen aber mehr Raum als zuvor. Mit „Blood Brothers“ befindet sich auf „Brave New World“ nur ein Song, den Harris im Alleingang komponiert hat. Das erklärt den Abwechslungsreichtum der Platte.

„Brave New World“ trumpft auf

Neben melodischen Riffrockern wie der ersten Single „The Wicker Man“ befinden sich auf der Platte auch progressiv angehauchte Stücke wie „Dream Of Mirrors“ und das melancholische „The Thin Line Between Love And Hate“. Damit deuten IRON MAIDEN bereits an, welche Entwicklung ihr Sound in den kommenden Jahren nehmen wird.

Anders als die beiden Vorgänger versprüht „Brave New World“ keine düstere Stimmung. Stattdessen prägen Aufbruchsgefühle den die Songs. Damit gibt das Album die Atmosphäre im Studio wieder. Anders als noch in der klassischen Phase der Band gibt es keinerlei Egoprobleme. Das Ziel, mit einem zeitgemäßen Album ein Zeichen zu setzen, schweißt IRON MAIDEN eng zusammen. Einige bierselige Pubabende helfen dabei ebenfalls.

Am 29. Mai 2000 ist es endlich soweit. Das langersehnte neue Studioalbum steht in den Läden. Fans wie Fachpresse reagieren durchweg begeistert auf „Brave New World“. Die wenigen kritischen Stimmen finden kaum Gehör. Lieber erfreuen sich Metalheads weltweit daran, dass IRON MAIDEN endlich an ihre Glanzzeiten anschließen. Die Band stoßt derweil auf hohe Chartplatzierungen, Goldauszeichnungen und die Aussicht auf eine große Welttournee an. Die „Brave New World“-Tour – der europäische Abstecher läuft unter dem Slogan „Metal 2000“ – verzeichnet Besucherzahlen von mehr als zwei Millionen Menschen.

IRON MAIDEN sind wieder ganz oben

Als IRON MAIDEN ihr Headlinerset beim Rock In Rio Festival 2001 beenden, blicken sie auf zwei im positiven Sinne turbulente Jahre zurück. Der Auftritt beweist endgültig, dass die Band wieder an der Spitze der Heavy-Metal-Szene steht. Folgerichtig erscheint ein Mitschnitt des Konzerts anschließend als Doppelalbum und DVD.

Mit „Brave New World“ gelingt es der Band nicht nur, alte Fans zu begeistern. Sie gewinnen auch eine ganz neue Generation für sich. Ihrem eigenen Anspruch, nicht in der Vergangenheit zu verweilen, werden sie nicht nur gerecht, sondern sprengen alle Erwartungen. 20 Jahre später hat die Platte nichts von ihrer Kraft eingebüßt. Und IRON MAIDEN sind weiterhin ein nicht zu stoppendes Heavy-Metal-Schlachtschiff.

29.05.2020

"Irgendeiner wartet immer."

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