„Alle sollen kommen können.“
Inklusion auf dem ROCKHARZ 2024

Special

Mal ehrlich, vor einem Festivalbesuch macht man sich meistens einen Kopf, ob alles klappt mit der Anfahrt, ob man nichts vergessen hat, wie das Wetter wird, man hofft, dass sich das Auto nicht festfährt und, und, und.

Jetzt stellt euch dieses Gefühl der Unsicherheit vor, wenn man körperlich eingeschränkt ist und daher bestimmte Dinge im Alltag braucht, um zurechtzukommen – beispielsweise auf einen Rollstuhl angewiesen ist. Kommt man überall durch, gibt es barrierefreie Toiletten und Duschen, was passiert, wenn etwas am Rollstuhl kaputtgeht? Probleme, die vermutlich viele dazu bewegen, doch nicht zu einem Festival zu fahren.

Auf dem ROCKHARZ-Festival soll sich das mit dem im Jahr 2022 ins Leben gerufenen Projekt „Kultur für alle“ ändern. Ziel ist es, dass jeder das Festival besuchen kann, egal welche individuellen Einschränkungen die Person hat.

Dabei geht der Fokus des Projektes weit über die üblichen Rollitribünen hinaus, wie uns Projektleiter Björn Schulz im Gespräch erzählt. Selbst auf den Rollstuhl angewiesen, begann vor einigen Jahren sein Austausch mit den Organisatoren des ROCKHARZ. Hier konnte er zunächst wertvolle Tipps geben, um den Zugang für Menschen mit Behinderung zu erleichtern – ging dann aber mit seinem Engagement noch weiter. The rest is history.

Unterstützende Angebote geben Sicherheit

Die Veränderungen, die seitdem auf dem ROCKHARZ Einzug gehalten haben, sind vielfältig. Neben dem wohl einmaligen Inklusionscamp mit eigener Rezeption samt Bändchenausgabe gibt es barrierefreie Eingänge zum Infield und zum Merch-Stand. Auch am Autogrammstand von metal.de haben wir mittlerweile eine barrierefreie Lösung parat.

Falls tatsächlich technische Probleme auftauchen, wie zum Beispiel ein Defekt am Rollstuhl, ist das Sanitätshaus Werner & Habermalz aus Goslar vor Ort, das neben einem Reparaturservice auch Leihrollstühle und -gehhilfen anbietet – ehrenamtlich! So berichtet Björn stolz von einem Pärchen, dass sich im letzten Jahr nur getraut hätte anzureisen, weil sie gelesen haben, dass ein Sanitätshaus und ein Pflegedienst vor Ort sind.

Seit 2023 ist zudem die Lebenshilfe Braunschweig mit einem großen Pflegeteam vor Ort, das in diesem Jahr deutlich aufgestockt wurde und mittlerweile 35 Personen zählt. Pflegedienstleiterin Anke Greite berichtet, dass ihr Team in der Lage ist, Personen jeglicher Pflegestufen die Umgebung zu bieten, die sie für ein unbeschwertes Festivalerlebnis brauchen.

Der Kontakt kam über das Festival „Rock in Rautheim“ zustande, dem größten Inklusionsfestival im Rock- und Metal-Bereich, das die Lebenshilfe in Braunschweig selbst veranstaltet.

ROCKHARZ-Inklusionscamp als Vorbild

„Kultur für alle“ will ein Leuchtturmprojekt sein, es will Know-how zusammentragen und festhalten, das am Ende nicht exklusiv für das ROCKHARZ gedacht ist, sondern dabei helfen soll, Inklusion auf allen Festivals des Landes voranzutreiben.

Trotz der umfangreichen Maßnahmen, die es bereits auf dem Festival gibt, ist das Ende der Fahnenstange noch längst nicht erreicht. Erstmalig ist beispielsweise ein besonders ausgerüsteter Pflegecontainer im Einsatz, der die Arbeit des Pflegeteams erleichtert und eine angemessene Betreuung besonders pflegebedürftiger Menschen überhaupt erst ermöglicht.

Jedes Jahr werden die Möglichkeiten im Inklusionscamp und auf dem gesamten Festivalgelände erweitert. 2024 lag beispielsweise ein neuer Fokus auf den Möglichkeiten für blinde und sehbehinderte Menschen. In Kooperation mit dem Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband hat das ROCKHARZ erstmals eine neue App getestet, die die Navigation auf dem Festivalgelände auch ohne Begleitperson ermöglichen soll.

Markierungen an Stolperstellen und QR-Codes mit den Speisekarten der Food-Stände gibt es ohnehin bereits. Angebote für Hörgeschädigte und für Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen sind ebenfalls umgesetzt und sollen in Zukunft erweitert werden.

Die Resonanz und auch der Dank an die Helfenden des Projekts ist groß. Viele trauen sich nur aufgrund der tollen Arbeit des Teams, erstmals ein Festival zu besuchen. Auch wir konnten immer wieder die große Dankbarkeit spüren, die das gesamte Team von „Kultur für alle“ erreicht.

Viel geschafft und immer etwas zu verbessern

Camp-Gast Klaus erläuterte uns im Gespräch, dass Camp und Umgebung seit dem vergangenen Jahr einen großen Entwicklungssprung gemacht haben: neuer, breiterer Eingang zum Camp, eine Überdachung der Rollitribüne und Sitzbänke für die Begleitpersonen. Hier hat das ROCKHARZ 2023 kritisches Feedback eingeholt, um Verbesserungsmöglichkeiten zu erkennen.

Ein Vorschlag kommt dann aber doch von Klaus: Die Unebenheiten auf dem Gelände seien herausfordernd. Es würden zwar Holzspäne zum Ausgleich eingesetzt, aber vielleicht geht da noch mehr, ebenso bei einer Überdachung der VIP-Tribüne. Aber das ist Jammern auf hohem Niveau, gibt er lachend zu.

Auch beim Fachkräftemangel kann das Projekt punkten: Aus dem Ausbildungsverbund sind 15 Auszubildende vor Ort, die sich die Einsatzzeiten für ihre Ausbildung anrechnen lassen können. „Bundesweit ist das einmalig“, so Pflegedienstleiterin Anke.

Einige Azubis sind zum ersten Mal auf einem Festival und haben privat nicht viel mit Metal zu tun. Dafür stürzen sich die jungen Menschen aber mit viel Engagement in das Abenteuer der Arbeit unter Extrembedingungen mit Rund-um-die-Uhr-Betreuung. So erhalten die Auszubildenden außerhalb der sonst üblichen Lehr- und Praxiszeiten ein spannendes Angebot.

Klar ist somit aber auch: Inklusion kostet Geld und ist nicht einfach nur als „Wohltätigkeit“ zu verstehen. Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor Ort müssen ordentlich bezahlt werden. Auch die technischen Hilfsmittel wie der moderne und einmalige Pflegecontainer sind alles andere als preiswert. Das ROCKHARZ macht hier viel möglich, eine gemeinnützige GmbH ist aktuell in Gründung.

Natürlich und sehr gern könnt auch ihr dem Projekt „Kultur für alle“ unter die Arme greifen – ganz einfach via Crowdfunding.

Text: Sven Lattemann und Mirko Pidde

Quelle: Interviews mit Björn Schulz und Anke Greite
28.07.2024
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