Hit or Shit?
Metallica - "72 Seasons"

Special

„72 Seasons“ = Hit

Jetzt mal ehrlich. Wer von uns hat METALLICA nicht schon mindestens einmal abgeschrieben? Für einige war ja schon das schwarze Album zu weichgespült, für viele andere fing der Absturz dann mit „Load/ReLoad“ an und fand schließlich in „St. Anger“ seinen krachenden Tiefpunkt. Wobei das Album tatsächlich einige Fans haben soll, die sich gerüchteweise in den Abendstunden auf dem Wertstoffhof Herne-Süd treffen, um verzückt dem Kreischen der Müllpressen zu lauschen. Wirklich niemand konnte hingegen mit „Lulu“ etwas anfangen und wird dermaßen konsequent totgeschwiegen, dass es nicht einmal in unserem Archiv etwas dazu zu finden gibt.

Ruft man sich alle Tiefpunkte der Band ins Gedächtnis, ist „72 Seasons“ wahrer Balsam für die Seele. Wie auch schon „Death Magnetic“ und „Hardwired… To Self-Destruct“ ist das Album eine respektable Weiterführung der Trademarks von METALLICA. James Hetfield ist schließlich immer noch ein charismatischer Sänger, Kirk Hammett ein guter Gitarrist, Rob Trujillo am Bass eine Sensation und Lars Ulrich trotz aller Unkenrufe kein schlechter Schlagzeuger, sowie als Motor der Band unverzichtbar.

Einige der besten METALLICA-Songs überhaupt

Das Quartett steckt immer noch voll musikalischer Genialität. Sicherlich kann man sich fragen, ob die Welt wirklich 77 weitere METALLICA-Minuten gebraucht hätte. Es ist auch nicht jeder Track ein Volltreffer, aber auch kein einziger Totalausfall dabei. Ganz im Gegenteil finden sich mit „Shadows Follow“, „Sleepwalk My Life Away“ und „Inamorata“ einige der besten METALLICA-Songs überhaupt auf dem Album.

Sicher, da kann man lästern, dass die am gleichen Tag erschienene OVERKILL mehr Pfiff hat. Aber vielleicht will man ja auch mal für fünf Minuten nicht die Fresse poliert bekommen, sondern eine stinknormale Metal-Platte auf hohem Niveau genießen. Genau das ist „72 Seasons“; einfach guter Stoff, der nicht vorgibt, mehr zu sein als er ist. Völlig gegenteilig verhält sich die Kritik an dem Album, die seit Jahrzehnten nichts außer Reproduktionen von „…And Justice for All“ akzeptiert.

„72 Seasons“ steht in keiner Bringschuld

Um es abschließend noch einmal mit der Ehrlichkeit zu versuchen: „72 Seasons“ reicht natürlich nicht an die alten Klassiker von METALLICA ran, ist vor allem viel zu lang und stellenweise müßig. So viel schlechter als die ollen Kamellen aus den Helmut-Kohl-Jahren ist die Platte aber auch nicht.

Vielleicht sollte sich der ein oder andere Kritiker eingestehen, dass eine Band nicht dafür verantwortlich gemacht werden kann, wenn sie ihn nicht zuverlässig in jene Tage zurückversetzt, in denen er mit dem schwarzen Album im Walkman auf dem Mofa zur ersten Flamme getuckert ist. Vor allem dann nicht, wenn es musikalisch größtenteils einfach passt.

Oder wie siehst du das, Oli?

 

„72 Seasons“ = Shit

Lieber Marc. Als Angehöriger des Heavy-Metal-Universums einer längst ergrauten Generation werde ich mit folgender Aussage, im Gegensatz zu Deinem eigentlich nachvollziehbaren Wunsch, sicherlich viele Anhänger finden: Wenn man METALLICA hört, dann will man ohne Unterlass die Fresse poliert bekommen. Das hat die Band seinerzeit auch mit Songs wie „Sanitarium“ oder „Fade To Black“ trotz vermeintlichem Power-Balladen-Anstrich nämlich allein wegen dem bedingungslosen Sound hinbekommen. Will ich das nicht, dann höre ich einfach nicht METALLICA.

James Hetfield ist alt geworden, Lars Ulrich bleibt ein Schulkind

Wenn man so möchte, dann lässt sich die gesangliche Evolution Hetfields natürlich als positiv beleuchten. Gleichzeitig hat der Mann aber jeden Biss verloren und gerade die oft unkontrollierten Wutausbrüche aus der Anfangszeit sind nun endgültig aus dem Soundkatalog der Band verschwunden. Gleichzeitig lässt Lars Ulrich mit seinen Statements pausenlos die Luft scheppern, anstatt einen nennenswerten Beitrag zum leider fehlenden Abwechslungsreichtum im Songwriting zu liefern. Stop! Das bis zur Unerträglichkeit getriggerte Schlagzeug ist ja mittlerweile auch zu einem METALLICA-Trademark geworden.

METALLICA wollen zu viel

Warum finden so viele Menschen eigentlich so eine Freude an „Sleepwalk My Life Away“? Bis auf den guten Bass-Auftakt ist der Track ein Abfallprodukt aus den Resten vom vermaledeiten „Enter Sandman“. Ein weiteres Beispiel für die zurückgehende Kreativität gefällig? „Shadows Follow“: Wenn ich ein ordentliches Thrash-Brett hören will, lege ich die Plattennadel drei Mal hintereinander auf die erste Rille von „Damage Inc.“. Nebenbei wird der Song im Refrain zu einer peinlichen Pseudo-Mainstream-Offenbarung. Natürlich fallen die teilweise klug inszenierten, sehr klassischen Gitarren positiv ins Gewicht, die nicht selten schöne Heavy-Metal oder gar Stoner-Rock-Anleihen besitzen. Wenn das ewige Solo-Gegnidel einsetzt, bleibt von diesen schönen Momenten nur noch eine kurze Erinnerung und man möchte ob der unnötigen Überlänge eigentlich jeden Song skippen.

Die 72 Wiederholungen auf  „72 Seasons“

Apropos Gitarren: Fette Hetfield-Riffs sind zugunsten schwerer Groove-Rhythmen auch zur Nebensache geworden, dafür klopft Hammett eigentlich nur noch uninspiriert eine Pentatonik nach der anderen, verzerrt das mit dem Wah Wah, verschleiert damit aber kaum seine Lustlosigkeit. Der Mann kann es eigentlich besser, aber vielleicht ist langsam die Zeit für einen Tapetenwechsel gekommen.

Was METALLICA retten kann, ist eine Tour, die sich ausschließlich den Songs der Schaffensperiode von 1983 – 1988 widmet. Denn live ist Hetfield eine Instanz, Rob Trujillo ein Biest, Hammett ein Profi und sogar Ulrich ein Energiebündel.

16.04.2023
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