Hit or Shit?
Kamelot – "The Awakening"

Special

„The Awakening“ = Shit

Irgendwann gegen Ende der Neunziger und die gesamten Nuller-Jahre hindurch waren KAMELOT einmal diese amerikanische Band, die mit ihrer eher europäisch klingenden Melange aus Progressive- und Power Metal neben einem absoluten Ausnahmesänger namens Roy Khan (CONCEPTION) dieses gewisse kompositorische Etwas hatte. Sämtliche KAMELOT-Alben von “The Fourth Legacy” bis “The Black Halo” strotzten vor überirdischen Einfällen und unsterblichen Genre-Klassikern der Marke “The Shadow Of Uther”, “Forever”, “Center Of The Universe” oder “Soul Society”. Mit dem immer noch sehr starken “Ghost Opera” folgte das Stellen der Weichen für die aktuelle Tendenz der Band; mit dem schwächelnden und zerfahrenen “Poetry For The Poisoned” schließlich der Abgesang Roy Khans von der Band. Seitdem läutete “Silverthorn” eine neue Ära der Band ein und obwohl viele apologetisch gesinnte Fans recht haben, wenn sie meinen, dass sich objektiv so viel gar nicht geändert hat und insbesondere Tommy Karevik ein ebenbürtiger Nachfolger für Roy Khan ist, sind die marginalen Unterschiede der “neuen” KAMELOT doch signifikanter, als von vielen wahrgenommen.

Der eben benannte Umstand macht es übrigens notwendig, folgenden Disclaimer vorwegzuschicken: So richtig “shit”, also so shitty, wie ich zum Beispiel NANOWAR OF STEEL im Soundcheck fand, ist das neue Album von KAMELOT natürlich nicht. Dafür ist die Band immer noch zu talentiert. Angesichts der früheren Einzigartigkeit, die zuletzt immer mehr zugunsten eines geradezu sensationalistisch anmutenden Sounddesigns und einer totgerittenen Corporate Identity verwässert wird, ist die Enttäuschung nur recht groß.

Gemeint ist, was in vielen Blättern und beispielsweise auch in den Kommentaren von Markus‘ Review zu “The Awakening” zu lesen ist: Die seit “Ghost Opera” gefundene und mit “Silverthorn” perfektionierte Formel wird von KAMELOT nunmehr zum mindestens dritten Mal vollständig bei sich selbst geklaut: Lila-pinkes-Computer-Artwork, dick aufgetragene Sascha-Paeth-Produktion, eine ganze Armada von Gastsänger:innen aus der Pop- und Plastik-Metal-Welt und dazu Konserven-Orchestrationen, die so schmierig sind, dass man ihnen kaum entkommen kann. Dazu wirkt die Tracklist wie am Reißbrett geplant: Standard-Ballade, Standard-Stampfer, Standard-Uptempo-Song, Standard-Intro und -Outro. Das alles erinnert erschreckenderweise an die gleiche repetitive Formel, mit der Tobias Sammet seit Jahren seine AVANTASIA-Platten zusammenlieblost; wobei KAMELOT-Gitarrist Thomas Youngblood wenigstens immer noch über ein breiteres kompositorisches Vokabular verfügt.

Um es zu illustrieren: Nachdem “The Awakening” im Prinzip exakt so einsteigt, wie “Silverthorn”, “Haven” und “The Shadow Theory”, ist “One More Flag In The Ground” ein perfektes Beispiel dafür, wie man eine unspektakuläre Songidee durch eine Überproduktion künstlich aufblasen kann. Die schwülstigen Orchestrationen in “Opus Of The Night” haben wenig Identität und klingen wie aus einer Stock-Datenbank gecopypastet. Bei “Midsummer’s Eve” klauen KAMELOT ganz ungeniert im eigenen Balladenfundus und demonstrieren ihren Abstieg zur gewöhnlichen Wald-und-Wiesen-Modern-Power-Metal-Band mit dem nervigen “New Babylon”, mit dem sie wohl demonstrieren wollten, dass jede Band des Genres unbedingt ein zweitklassiges Rip-off von Carl Orffs “Carmina Burana”-Chor braucht. (Da dieses Phänomen im Power Metal sehr häufig auftaucht, schlage ich vor, es künftig pragmatischerweise einfach als “Rip-Orff” zu bezeichnen.)

Damit wir die Polemik wieder verlassen und endlich auf den Punkt kommen: Ärgerlich ist nicht, dass “The Awakening” ein per se schlechtes Album ist. Ärgerlich ist die Verarsche, die KAMELOT seit Jahren abziehen. Um ja nicht zu viele Fans zu verlieren, veröffentlicht die Band einfach vier Mal hintereinander die gleiche Platte, nur jedes Mal ein bisschen schwächer. “The Awakening” ist die erste Scheibe, bei der zumindest mir auch nach mehreren Durchläufen kein einziger Song, nicht mal eine einzige Hook im Gedächtnis geblieben ist. Dazu wirkt alles an dieser Platte so aufdringlich und auf Effekt gebürstet, dass “The Awakening” ungefähr eine ähnliche künstlerische Subtilität und emotionale Differenzierung hat wie die “Twilight”-Verfilmungen.

Nun gehen schlechte Alben wie gesagt erheblich anders, doch die kaum verheimlichte Kalkulation und das penetrante Drehen um die eigene Achse haben KAMELOT in den letzten Jahren zwar einige Anhänger:innen gewinnen, aber auch viele verlieren lassen. Wer die letzten Alben allesamt gut bis sehr gut fand, wird auch “The Awakening” mögen. Ich hingegen ziehe mich jetzt mit meiner “Faust”-Lektüre in ein gotisches Studierzimmer zurück und lege die glorreichen Konzeptepen “Epica” und “The Black Halo” noch mal auf.

(Johannes Werner)

„The Awakening“ = Hit

Die Konstellation KAMELOT mit Sänger Roy Khan, der gerade wieder CONCEPTION wiederbelebt hat, waren tatsächlich etwas Besonderes. Eine amerikanische Ausnahmeband, die mit europäisch klingenden Progressive, Symphonic / Power Metal zahlreiche unsterbliche Klassiker veröffentlichte.

Und dass KAMELOT einmal mit einem anderen Sänger als Khan funktionieren könnten, konnte man sich kaum vorstellen, wollte man sich auch nicht. Aber das Leben in all seinen Facetten läuft nicht immer, wie man es sich wünscht. Die Wege trennten sich, und wir Fans hatten Glück in doppelter Hinsicht: Anstatt hinzuwerfen machten KAMELOT weiter, und mit Tommy Karevik von SEVENTH WONDER fand man einen starken neuen Sänger. Dieser verdiente sich zunächst auf der 2011er Europatour als Gastsänger neben Gastfronter Fabio Lione (RHAPSODY OF FIRE) seine Sporen und übernahm jeden Abend einen kompletten Song. Technisch sind Karevik und Khan auf demselben Level, Karevik ist in Stil und Ausdruck recht ähnlich. Objektiv änderte sich nicht allzu viel, subjektiv ging zugegebenermaßen ein wenig an Magie verloren. Dennoch, Karevik ist eine talentierte Goldkehle und war vermutlich die bestmögliche Wahl für den Posten.

Kontinuität ist das Stichwort. Der „neue“ Sänger ist längst etabliert. „The Awakening“ ist bereits das vierte Album mit seiner Stimme in über 10 Jahren. Und was die Kritik an der detailversessenen Produktion von Sascha Paeth anbelangt, der gute Mann produziert KAMELOT bereits seit „The Fourth Legacy“ (1999) und weiß natürlich, wie die Band klingen muss. Den bunten Reigen an Gastmusikern kennen wir ebenfalls spätestens seit „The Fourth Legacy“, und stilistisch bleiben sich KAMELOT eigentlich auch ziemlich treu. Das ebenso bombastische wie clever arrangierte „The Awakening“ lebt von viel Abwechslung, einer gesunden Portion Kitsch (das gehört auch dazu!) und bleibt dabei erfreulicherweise selbst in einem von Nachahmern und kreativem Mittelmaß überfluteten Subgenre noch spannend. Das ist die Professionalität, die KAMELOT haben. Sie haben ihre Nische und die pflegen sie.

KAMELOT können eingängige Ohrwürmer schreiben wie das hymnische „One More Flag In The Ground“ zum Beispiel, ein veritabler Hit der gleich zündet mit starkem Refrain und geschickt eingewobenen orientalischen Skalen. „Opus Of The Night (Ghost Requiem)“ ist der zweite Teil von „Ghost Opera“ (2007), dramatisch intoniert, spannt musikalisch den Bogen aber auch zurück zu „The Black Halo“ (2005). Als für die Khan-Anhänger die Welt also noch in Ordnung war. Für Kritik eignen sich natürlich immer Balladen. „Midsummer’s Eve“ ist natürlich etwas kitschig und etwas Breitwand-Disney, aber das können KAMELOT auch bereits seit „A Sailorman’s Hymn“ von „The Fourth Legacy“ (1999).

„The Awakening“ strotzt nur so voller vielschichtiger Orchestrierungen, vielseitigem Gitarrenspiel, kraftvollem Gesang und Dramatik. Trends oder moderne Ausrichtungen tangieren KAMELOT nicht. KAMELOT klingt in jeder Sekunde nach KAMELOT, ohne sich wirklich selbst zu kopieren. „The Awakening“ hat seinen Platz in der reichhaltigen Diskografie der Band verdient.

(Markus Endres)

Hit oder Shit? Manche Veröffentlichungen werden sehr unterschiedlich aufgenommen – auch bei uns in der Redaktion. Um beiden Seiten eine Stimme zu geben, soll dieses Special-Format regelmäßig zu ausgewählten Platten aufgelegt werden. Nicht immer ganz objektiv, aber sicherlich häufig polarisierend und kontrovers.

30.03.2023

Redakteur | Koordination Themenplanung & Interviews

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