Gravenhorsts Graveyard
The hottest show in the world must go on

Special

2020 sollte ein emsiges Jahr in der KISStory werden. Nachdem 2019 schon die Abschiedstournee begonnen wurde und durch Nordamerika, Europa und Asien führte, sollte sie in diesem Jahr fortgesetzt werden. Neben den Kernmärkten in Nordamerika und Europa stand dabei auch erstmals Südamerika auf dem Reiseplan. Doch es kam anders.

Während die Shockrocker Anfang des Jahres in den USA unterwegs waren, verbreitete sich munter das Coronavirus. KISS sagten zunächst alle Meet & Greets ab, woraufhin gewitzelt wurde, dass das Virus wirklich gefährlich sein muss, wenn sich Gene Simmons dadurch Einnahmen entgehen lässt. Schließlich fand die Tour mit einem Konzert in Lubbock, Texas am 10. März ihr vorläufiges Ende. Die anderen Auftritte wurden in der Folge verlegt. Danach blieb es im KISS-Camp ruhig, bis dann am 20. November die Bombe platzte: Weil 2020 so beschissen war, wird es mit einem großen Knall beendet. Daher soll am Silvesterabend unter dem Motto „KISS 2020 Goodbye“ nochmal ein Konzert stattfinden.

Wie von den US-Amerikanern gewohnt, wird dabei nicht an Superlativen gespart: Es soll 50 Kameras geben und VR-Elemente, dazu Pyrotechnik in Wert von 1 Millionen US-Dollar. Ein völlig neues Konzerterlebnis, wie es vorher noch nie dagewesen sein soll. Und das natürlich von niemand geringeren als einer Band, die in der Rock-And-Roll-Hall-Of-Fame ist. Dieser Verweis entbehrt nicht einer gewissen Ironie, haben sich die Bandmitglieder vor der späten Aufnahme 2014 abfällig über diese Institution geäußert, während diese durch die Nicht-Aufnahme von Tommy Thayer und Eric Singer die aktuelle Besetzung abgewertet hat.

„KISS 2020 Goodbye“ ist nichts für den unkultivierten Pöbel

Weil natürlich vorher noch niemand eine so opulente Livestream-Show gespielt hat, wird der Zugang natürlich auch nicht 10 oder 20, sondern 40 US-Dollar kosten, was aber immer noch nicht viel ist. Zumindest ist das der Preis für den gemeinen und unkultivierten Pöbel, der sich nur das Konzert ansehen will. Für diejenigen, welche die Show angemessen erleben möchten, gibt es im Platinum-VIP-Paket neben der Aufzeichnung des Konzerts auf allen möglichen Datenträgern und diversen Kleinscheiß für die Vitrine auch Karten für eine geplante Kinoaufführung des Konzerts im nächsten Jahr.

Stattfinden soll diese Großereignis im Atlantis Dubai, einem gigantischen Hotelkomplex, der sich auf der Palm Jumeirah, einer künstlichen Insel, befindet. 1.539 Zimmer, 3.500 Angestellte und ein Listenpreis von 530€ für ein Doppelzimmer sind nur einige der Fakten, die ich schnell von Wikipedia übernommen habe. Das Konzert soll vor 3.000 Zuschauern stattfinden. Wenn man zu diesem exklusiven Kreis gehören will, dann muss man mindestens fünf Übernachtungen im Atlantis buchen. Der Preis dafür liegt im mittleren vierstelligen Bereich.

Ein überhöhtes, überteuertes Event in einem wirtschaftsstarken, aber mäßig demokratischen Staat bei gleichzeitigen dreisten Versuch, eigene Wirtschaftsinteressen während einer Pandemie durchzusetzen. Warum würde es mich nicht wundern, wenn im Abspann des Streams irgendwann der Name Gianni Infantino auftauchen würde. Aber gut, bevor es wieder allzu judgy wird, sollten wir einen Blick auf das Hygienekonzept werfen.

Von Trump und der Bundesliga

Gene Simmons nannte das Konzert in trumpscher Überheblichkeit „The safest live event you can imagine.“ Tatsächlich wird ein hoher Aufwand gefahren, der das Hygienekonzept der Bundesliga übertrifft. Neben diversen medizinischen Personal stehen 6.000 Corona-Tests zur Verfügung.  Während der momentan laufenden Proben wird die Band täglich getestet. Dazu kommen die Maßnahmen des Hotels und des Emirats. Wer nach Dubai einreist, muss einen negativen PCR-Test vorlegen. Vonseiten des Hotels kommen ausführliche Desinfektionen und Wärmebildkameras dazu. Statt einer Maskenpflicht gibt es für Gäste nur das Gebot, sie doch bitte zu tragen. 

Das mag durchdacht klingen, hinterlässt aber dennoch einen faden Beigeschmack. Inmitten dieser Pandemie, die gerade auf ein neues Hoch zusteuert, sorgt die Band für ein Zusammentreffen von mehreren tausend Menschen aus verschiedenen Ländern, was die Lockdowns in den verschiedenen Heimatländern konterkariert. Die Restriktionen beim Konzert sind eigentlich nur mäßig relevant, da alle Konzertbesucher mehrere Tage in dem Resort mit dessen reaktiven Hygienebestimmungen verbringen. Dies stellt ein nicht unerhebliches Infektionsrisiko dar.

Wen intressiert schon Pressefreiheit

Das Konzert hat zudem eine starke politische Dimension, bei der man nochmal ganz besonders über die Rolle der Vereinigten Arabischen Emirate reden sollte. Denn tatsächlich ging die Initiative zu diesem Konzert von den arabischen Monarchen und dem Hotel aus. Während also die ganze Welt (außer Großbritanien) runterfährt, kann dieses Land zeigen, dass dort aber noch ein Stück Normalität möglich ist. Dann mag das Land auf der Rangliste der Pressefreiheit zwar nur noch auf Rang 131 liegen, darf sich dann aber mit der heißesten Show der Welt rühmen.

Unter dem Strich hat „KISS 2020 Goodbye“ viele Parallelen zu einer Fußball-Weltmeisterschaft. Es findet zu überteuerten Preisen und ohne Rücksicht auf das Weltgeschehen in einem zwielichtigen Staat statt. Und ähnlich wie der Profifußball, so haben sich auch KISS deutlich von ihrer Anhängerschaft entfremdet. Vor 45 Jahren setzten sie ihren Fans aus der Arbeiterschaft mit ‚Detroit Rock City‘ ein musikalisches Denkmal, nun zeigen sie nochmal deutlich, dass Geringverdiener nur noch Fans zweiter Klasse sind. Ich möchte den Schlusssatz meiner Besprechung des Konzerts in Hannover letztes Jahr noch einmal anbringen: Es wäre nur allzu ratsam, wenn die Herren Simmons und Stanley ihre Pressemitteilungen ernst nehmen und ihre Karriere in den nächsten paar Jahren mit einer großen Verabschiedungsrunde ausklingen lassen.

17.12.2020
Exit mobile version