Filter
Live @ Big Jump mit Richard Patrick
Special
FILTER live in Deutschland, noch vor Ende des Jahrtausends? Ok, das mit dem Jahrtausend ist grober Unfug, aber wer FILTERs ersten Auftritt seit Jahren hierzulande erleben wollte, noch bevor das Jahr 2010 zuende ging, der musste nach Leipzig kommen. Der Radiosender Jump feierte sein zehnjähriges Jubiläum und hatte sich kurzerhand noch FILTER ins Boot geholt, die neben ROONEY, WHITE LIES und MANDO DIAO die Bühne entern sollten. Zum Glück ergab sich auch die Gelegenheit, vor dem Gig nochmal kurz bei Richard Patrick vorbeizuschauen und ihn mit ein paar Fragen zu löchern.
Es ist der 18. Dezember 2010, Deutschland befindet sich offiziell im Schneechaos. Früher nannte man das mal schlicht ‚Winter‘, doch heutzutage sehen sich Boulevard- und bürgerliche Presse schon bei ersten Minustemperaturen genötigt, Superlative in die Schlagzeilen zu klatschen. Der Weg nach Leipzig lässt sich glücklicherweise ohne Hindernisse oder Verzögerungen bewältigen, S-Bahnen (zumindest die, die nicht aus Berlin stammen) halten immer noch mehr aus, als ICEs.
Das Jump-Radio feiert an diesem Abend seinen zehnten Geburtstag und hat ins Haus Auensee zur großen Party eingeladen. Nur hätte mich das überhaupt nicht tangiert, wäre da nicht kurz vorher die Überraschungsmeldung in mein Mail-Postfach reingeflattert. Als ich noch im September mit Richard Patrick ausführlich über FILTERs neues Album „The Trouble With Angels“ gesprochen hatte, meinte er damals, dass eine europäische Tour im Frühjahr 2011 möglich, aber noch nichts in trockenen Tüchern wäre.
Und nun sitze ich hier. Auf dem Sofa. Mit Richard Patrick im Haus Auensee, eine Stunde vor seinem Auftritt. So sehr ich mich über den allerersten Auftritt von FILTER auf europäischem Boden seit „The Amalgamut“ freue, so sehr strahlt auch der Frontmann einer Band, die sich im August kaum großartiger hätte zurückmelden können. Es war gar kein richtiges Comeback nach „Anthems For The Damned“, es war quasi eine Wiedergeburt. „The Trouble With Angels“, so der Konsens der meisten Fans, vereinte alles, was einst „Short Bus“, „Title Of Record“ und „The Amalgamut“ so erfolgreich gemacht hatte.
„Die Fans mögen das Album einfach, alle mögen es. Kein anderes Album von uns wurde je besser empfangen.“
Man hört aus diesen Worten den berechtigten Stolz, aber auch Erleichterung heraus. FILTER hatten es, wie jede Band die mit einem erfolgreichen Debüt gesegnet ist, nicht gerade einfach. Es gibt unter den Fans viele Fraktionen: die, die „Short Bus“ nahezu vergöttern, die „Title Of Record“ für den Zenit der Band halten und solche, die „Anthems For The Damned“ schon für den Abgesang hielten. Vor allem aber gab es viele, die es in der langen Zeit nach „The Amalgamut“ endlich wieder nach echtem FILTER-Stoff sehnte. Richard hatte sich damals gegen die Welttournee und für sich selbst entschieden – und wies sich selbst in die Reha ein. Es war der Punkt, an dem er vor der Entscheidung stand: Entweder raus aus dem Leben mit Drogen und Alkohol oder der totale Absturz. Seine Songs waren zu wenig subtilen Hilfeschreien geworden und wurden trotzdem millionenfach gespielte Megahits. „Take A Picture“ hat jeder schon irgendwann mal im Radio gehört, doch für Richard, so erzählt er, war es im Prinzip eine Botschaft an seine Familie.
„Hey, dad, what do you think about your son now?“
Heute hören wir Songs wie „Drugboy“ oder „The Inevitable Relapse“, in denen sich Richard so offen wie nie zuvor äußert. Er zeigt mir seine Tätowierung auf dem rechten Unterarm, „September 28, 2002“, der Tag, der sein Leben verändern sollte, der Beginn vom Neuanfang. Richard hat viel zu erzählen, hat unzählige Erfahrungen gemacht, Abstürze erlebt und über den Rand des Abgrunds geschaut. Er gibt nicht den Geläuterten, den Wiedergeborenen, er weiß was er durchgemacht hat und will all diese Geschichten nun erzählen, weitergeben. Schon immer waren seine Texte eng an sein eigenes, wildes Leben gekoppelt, in denen sich tausende seiner Fans selbst entdecken konnten – doch so menschlich und nah wie auf „The Trouble With Angels“ war man ihm noch nie. Es ist nicht die Richard-Patrick-Show, es geht ihm um das große Ganze. Er zeigt mir auf seinem Handy Fotos seiner beiden Kinder, erzählt von der Verantwortung, die er für sie hat und die er zu keinem Preis der Welt aufgeben würde.
„Drogen können Dich in einen wahren Rausch versetzen, die chemische Reaktion in deinem Hirn trifft dich wie gleißendes Sonnenlicht – und du fühlst dich unbesiegbar, wie ein Gott. Genau so können sich dich aber auch in ein tiefes Loch reißen, aus dem du nicht mehr herauskommst.
Nichts, was Drogen bewirken könnten, würde mich heutzutage mit Glück erfüllen. Ich bin glücklich.“
Vielleicht ist „The Trouble With Angels“ tatsächlich eine Art zweiter Abschluss seiner Reha, eine Station seines Lebens, die er nach einem langen Weg endlich erreicht hat. Mit Bob Marlette traf er auf den Produzenten, den er schon vor zehn Jahren hätte treffen müssen, erzählt Richard. Er lobt Marlette in höchsten Tönen und spricht von ihm mit einem Respekt, der nicht nur mich davon überzeugt, dass FILTER wohl mit keinem anderen Produzenten mehr in Zukunft arbeiten werden. Marlette, so Richard, war gleichzeitig Muse und auch Vollender, der ‚finisher‘. Er war es, der Richard wie in einer therapeutischen Sitzung an die Anfänge seines musikalischen Lebens brachte. Therapie im Studio.
„Nach „Anthems For The Damned“ habe ich von vielen Fans gehört, dass sie den ‚crazy Rich‘ zurückhaben wollen. Marlette hat mir dabei geholfen, den jungen Richard in mir wiederzuentdecken, den Wahnsinn der Vergangenheit zurück in meine Musik zu bringen. ‚Schreib was du kannst‘ – und ich kann es immer noch wie ‚crazy Rich‘!“
Der Tourmanager winkt kurz und zeigt dann auf die Uhr. „45 minutes ‚till showtime!“ Richard und die Band müssen sich jetzt langsam auf ihren Gig vorbereiten. Wie sie es überhaupt hierher geschafft haben, will ich noch wissen. Zur großen „Big Jump“ Feier geben sich ROONEY, die WHITE LIES und MANDO DIAO die Ehre, FILTER kamen dann ganz überraschend knapp zwei Wochen vorher noch zum Billing dazu. Wie ich von Richard erfahre, waren die Leute von Jump wohl sehr angetan von den ersten Singles des neuen Albums, vor allem „No Love“, und haben die Band deshalb einfach gefragt, ob sie kurz vor Weihnachten noch Zeit hätten, in Deutschland zu spielen.
„Sie waren wirklich begeistert vom neuen Album und haben uns eingeladen. Ich habe sie noch gefragt, ob sie sich da wirklich sicher sind, denn immerhin sind wir ziemlich heavy im Vergleich zu den anderen Bands. Doch sie wollten uns auf jeden Fall dabei haben – und deshalb sind wir heute hier!“
Als ich durch den Backstagebereich zurück in den Konzertsaal gehe, komme ich gerade noch rechtzeitig zu den letzten Songs der WHITE LIES. Den Auftritt der Kalifornier ROONEY hatte ich vorher fast komplett verfolgen können, auch wenn mir diese Band bis dato völlig neu gewesen war. Die fehlende Verbindung im Hirn wurde geknüpft, als sie zu ihrem Song „When Did Your Heart Go Missing?“ ansetzten. DIE waren das also. Die Single war bereits drei Jahre alt und wurde immer noch regelmäßig im Radio gespielt. Damit klangen sie in meinen Ohren zumindest vertrauter als mit ihrer neuen Single „I Can’t Get Enough“, die zumindest hierzulande weitaus weniger Airplay genossen hat.
Dass ich die WHITE LIES an diesem Abend fast komplett verpasst habe, war zwar schade, aber das Gespräch mit Richard ein doch mehr als angemessener Ausgleich. Wer die Briten noch nicht kennt, und sich einen musikalischen Zeitsprung von JOY DIVISION zu den EDITORS und INTERPOL vorstellen kann, sollte sich unbedingt deren Album „To Lose My Life“ anhören. Live hatten die Songs gleich noch viel mehr Zunder, und überhaupt hatten die WHITE LIES an diesem Abend die Trumpfkarte in punkto Sound gezogen. Perfekter Mix, der Mann am Mischpult inmitten des begeisterten Publikums hatte magische Finger. Als dann endlich FILTER auf die Bühne traten, führten sie die auf Indie Rock eingestellte Konfiguration dann auch schnell ad absurdum, denn sie waren wirklich heavy.
„ARE YOU READY TO MAKE SOME NOISE?“
Die Bühne wurde in blaues Licht getränkt und Richard hatte ein älteres Band-Hoodie an, für das ich am nichtvorhandenen Merchstand glatt meine gesamte Geldbörse leergeräumt hätte. Gleich als ersten Song krachten sie „The Inevitable Relapse“ in die Menge. Was hat dieser Song nicht für Gegenwind erfahren, als er sozusagen als erstes Lebenszeichen im Juli auf die Fans losgelassen worden war. Er zeigte FILTER mit kräftiger „Short Bus“-Schlagseite, einem fetten Riff und beinhartem Schlagwerk und brannte ein Ausrufezeichen in den Boden. Doch während viele Fans schon ein vorzeitiges Freudenfeuerwerk abgefackelt hatten, mokierten sich viele über den Autotune-Effekt, den Richard in gerade mal acht Takten auf seine Stimme gelegt hatte. Wie konnte nur? Autotune, das ist für viele Rockfans das Gift des Pop-Mainstreams, genauso wie für viele Metalfans Trigger Betrug am Hörer sind. Kurz zuvor hatte mir Richard noch gesagt, dass es im Nachhinein vielleicht doch nicht die richtige Wahl für die Single gewesen war. Da waren die Hardcore-Fans, und dann hören sie im ersten FILTER-Song nach drei Jahren Pause Richards Stimme mit Autotune-Effekt. Für solcherlei Erbsenzählerei konnte ich, der ich ebenfalls langjähriger FILTER-Fan bin, jedoch nicht begeistern. Denn wenn FILTER für eines standen, dann Experimente und Innovation.
„Ich habe es damals, als Grunge DAS Ding war, gewagt, einen Drumcomputer auf einem Rockalbum zu verwenden. Lass Dir das mal auf der Zunge zergehen: Kein einziger Schlagzeugton auf „Short Bus“ wurde von einem Menschen eingespielt. Und heute verwende ich für mickrige acht Takte Autotune und die Leute regen sich auf – dabei haben wir mit FILTER längst alle Regeln des Rock gebrochen. Und ist das nicht die eigentliche Botschaft von Rockmusik – Regeln zu brechen?“
Genau wie das Album vereint das Set dieses Abends einiges vom Besten, was FILTER in ihrer langen Karriere vorzuweisen haben. Vom neuen Album werden selbstverständlich die stärksten Stücke gespielt, darunter „Drugboy“ und der heimliche Nummer-Eins-Hit „No Love“. Aber auch „Fades Like A Photograph“, diese emotionale Rockballade, die in Roland Emmerichs Superkatastrophenfilm „2012“ neue Hoffnung machte, durfte nicht fehlen. Wie auf der Albumversion verzichtete die Band hier auf die härteren Gitarrenklänge. Da MANDO DIAO die unbestrittenen Headliner beim Big Jump waren, staunte ich doch sehr, wieviele FILTER-Fans sich trotzdem, sozusagen auf fremden Terrain, im Haus Auensee eingefunden hatte. Vor allem in der Mitte und am Fotograben hatten sie sich versammelt, und Richard bedankte sich bei ihnen, indem er wie auf allen Konzerten ganz dicht an sie heran kam, machte sogar Fotos mit Kameras der Fans. Ohne Zweifel waren FILTER an diesem Abend die kontaktfreudigste Band, und auch Rob Patterson stieg mit seiner Gitarre hinab.
„Fades…“ hatten sie gespielt, um auch den Indie-Fans ein bisschen ‚mellow stuff‘ zu bieten – eine kleine Überraschung wurde dann allerdings „Take A Picture“. Nicht, weil Rob Patterson ausgerechnet nach den ersten Takten die Saite riss, sondern weil sie im Original sehr akustiklastige Nummer ordentlich aufdrehten. Sowas erlebt man nur live, nicht mal auf einer B-Seite der damaligen Singles. Angenehm überrascht wurde ich auch von „Jurassitol“ und „(Can’t You) Trip Like I Do“, zwei ausgewiesenen Soundtrackklassikern. Von „Title Of Record“ gab es außerdem standesgemäß das wuchtige „Welcome To The Fold“ und das von Richard als „Discosong“ angekündigte „The Best Things“, bei dem das Synthesizer-Playback zwar schön durch die Boxen röhrte, aber die Saiteninstrumente hier insgesamt ihren schwächsten Moment erlebten. FILTERs Rocksound passte einfach nicht ins Soundkonzept und viel leider auch extrem basslastig aus – leider nicht so, dass es den aufgeheizten Körper angenehm vibrieren lässt sondern eher als Klangschlucker, der die Riffs von Rob Patterson und Bassist Phil Buckman stellenweise mundtot machte.
Zum Schluß der knapp einstündigen Show waren FILTER dann beim Ziel ihrer musikalischen Reise angelangt, der Bandhymne schlechthin, dem Song, den selbst die Menschen kennen, die noch nie in ihrem Leben von dieser Band gewusst haben: „Hey Man Nice Shot“. Diese unverwechselbare Basslinie, das bedacht einsetzende Schlagzeug, und dann dieser energetische Turn, mit dem screaming Richard den Song in eine wahre Bestie verwandelt – herrlich, auch nach dem gefühlten tausendsten Mal, den man diesen Song schon gehört hat. Ein FILTER-Konzert ohne diesen Song wäre wie ein Tag ohne Morgen, wie Sex ohne Orgasmus, er darf einfach nie fehlen.
Was sonst auch nicht fehlen darf: Die Band am Merchstand, wenn die Vier geduldig mit den Fans plaudern und Autogramme schreiben. Dafür war an diesem Abend keine Zeit. Kaum waren FILTER von der Bühne verschwunden, wurde bereits für MANDO DIAO umgebaut, während der Konzertsaal noch ein Stück voller wurde. Mir blieb nun selbst nicht mehr viel Zeit – wollte ich noch den Luxus einer Rückfahrt genießen und nicht durch die winterkalte Nacht mit eingefrorenem Bart stapfen, musste ich die letzte S-Bahn erwischen.
Die Schweden hatten sich für die Big Jump Feier jedenfalls etwas Besonderes ausgedacht. Wer auf MANDO DIAO á la „Dance With Somebody“ stand, musste auf die energetische Seite der Band heute verzichten. Mit vier Streichern waren sie angereist (trotz der Verkettung einiger wetterbedingter Umstände) und präsentierten ihre Songs im akustischen Gewand. Nach zehn Minuten war für mich Abmarsch angesagt, und mit einem Rest FILTER im Ohr ging es nach Hause. Wenn sie im Frühjahr zurückkommen, können sich die europäischen Fans auf etwas gefasst machen!
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