Experimental Music
eine Einführung
Special
Jeder bekommt irgendwann einmal diese eine Frage gestellt: Was hörst du für Musik? Dabei antworten manche sehr präzise, während andere gerne behaupten, sie würden querbeet alles hören. Dabei können richtige Grabenkriege ausbrechen. Denn viele sind sich einig: Ihre Lieblingsmusik ist auch die Beste. Doch vielleicht ist Musik einfach ein wertfreies Produkt ihrer Zeit. Das gilt besonders für Experimental Music.
Doch was ist Musik und was darf sich als solche bezeichnen? Gibt es gute und schlechte Musik? Vielleicht sind wir nicht alle so tolerant, wie wir denken. Manchmal ergibt es Sinn, über den Tellerrand zu schauen und sich dem Unbekannten, gar dem abstrakten zu stellen. Genres gibt es inzwischen wie Sand am Meer. Die experimentelle Musik als alleinige Musikrichtung zu bezeichnen, ist dabei recht schwierig.
Wo Experimental Music seinen Ursprung hat, ist schwer zu sagen. Jede Zeit brachte ihre Größen hervor, die wiederum bestimmte Musikrichtungen salonfähig machten oder gar ins Leben riefen. Die Kategorisierung erfolgte prompt und gewisse Musikrichtungen dominierten beziehungsweise dominieren noch heute die Masse. Mehr und mehr Subgenres entstanden, wodurch sich die Einteilung immer komplizierter gestaltete.
Was ist Experimental Music überhaupt?
Es geht weniger darum, was experimentelle Musik ist, sondern was sie bezwecken möchte. Die Künstler brechen mit konventionellen Genredefinitionen und überschreiten ihre Grenzen. Experimentelle Musik ist ein weit gefasster Begriff und umschließt viele verschiedene Aspekte.
JOHN CAGE war ein Komponist aus den frühen 1900ern, der bis heute als der Vorreiter für Experimental Music gilt. Er brachte mit “Music Of Changes“ ein Album heraus, das sich bis heute keinem klaren Genre zuordnen lässt.
Das Werk entstand durch Zufallsoperationen, die für kompositorische Entscheidungen zuständig waren. JOHN CAGE nahm dazu das I Ching-System zur Hilfe. Es fungiert im Daoismus als Orakel und trifft Vorhersagen für das kommende Jahr.
Zufallsbasierte Komposition
Die Darstellung erfolgt durch eines von 64 Orakel-Hexagrammen. Diese setzen sich aus Yin und Yang zusammen, wobei Yang mit einem durchgezogenen und Ying mit zwei kleinen Strichen gekennzeichnet ist. Die Kombination unterteilt sich wiederum in acht Trigramme, welche alle eine jeweils eigene Bedeutung haben.
Die Komposition war zufallsbasierend, da CAGE durch Münzwürfe, Orakeltexte und somit Handlungsmöglichkeiten für sich erschloss, die auf dem I Ching-System basieren. Der Künstler sagte dazu: „Es ist solchermaßen möglich, eine musikalische Komposition zu machen, deren Zusammenhang frei ist von individuellem Geschmack und Erinnerung und gleichermaßen von Literatur und Traditionen der Künste.
Musik mit einem Würfel schreiben
Mit dem oben genannten Vorgehen lassen sich verschiedene, unzählige Kompositionen erschließen, die im weitesten Sinne disharmonisch klingen können. Das Prinzip der musikalischen Unbestimmtheit nennt sich auch Indeterminate Music oder Aleatoric Music.
Ein anderes Beispiel wäre “Birds On The Wire“ von JARBAS AGNELLI. Ziel ist es, eine vorbestimmte Quelle als Ausgangsmaterial zu nutzen, über die der Künstler keine Macht hat. Die Vögel symbolisieren in dem Stück die Noten und ihre Position auf den Kabeln einen Ton. Weil AGNELLI nicht bestimmen kann, an welchen Orten sich die Vögel vorzugsweise aufhalten, entstehen die wildesten Kombinationen.
Das gewährleistet zwar Zufälle in der Komposition, jedoch nicht in der Performance an sich. Hier kommt das Würfelprinzip zum Einsatz. Vorgeschriebene Stücke und Musikfetzen stehen für eine bestimmte Augenanzahl. Nach einem Wurfdurchgang bestimmt der Zufall die Position des kurzen Songauszuges.
Alles ist Musik
Heutzutage existieren neben allgemeingehaltenen Klassifikationen auch speziellere Genredefinitionen, die zum experimentellen Bereich zählen. Beispiele hierfür wären Drone (Metal) und Noise. Der Ausdruck advantgardistische Musik deckt trotzdem noch einen Großteil der unkonventionellen Acts ab. Dabei bleibt es schwierig, klare Grenzen zu ziehen.
Der japanische Untergrundartist MERZBOW ist ein Produkt der freien Musikdefinition. Aus selbst gebastelten Instrumenten und martialisch klingenden Synthesizern kreiert er eine Gewalt an verzerrten und lauten Geräuschen. Ab hier würden einige behaupten, dass das lediglich überproduzierter Lärm wäre. Andererseits beweist die Anwesenheit des Sounds selbst die Existenz von Musik und sieht die Kunst im Detail. Denn auch hier verfolgt der Künstler ein System, das er live aufführen müsste.
Wer einmal die Entstehung von zwei herausragenden Experimental-Music-Alben verfolgen möchte, der sollte sich die Making-Ofs zu “Savage Sinusoid“ und “Spirituality And Distortion“ von IGORRR auf YouTube anschauen.
Gleiches gilt für PEDESTRIAN DEPOSIT, die zusätzlich auf visuelle Darstellungen setzen. Die Atmosphäre rückt in den Vordergrund und die Songs wirken erst Live komplett. Nicht nur Geräusche verursachen einen Sound, sondern auch rein visuelle und klanglose Komponenten können eine Art des musikalischen Ausdrucks sein.
Das wirkt zunächst etwas Paradox, erfreut sich jedoch heutzutage großer Beliebtheit. Viele moderne K-Pop-Songs legen ihren Fokus ebenfalls auf komplexe Choreografien. Fast wie eine hübsch verpackte Werbung. Ohne diese würde ein großer Teil der Identität des Genres fehlen.
“4‘33“ von JOHN CAGE fordert den Künstler dazu auf, nicht zu spielen. Das geschriebene Stück besteht aus purer Stille. Trotzdem kann man im Internet Live-Aufnahmen des Stücks finden.
Moderne Experimental-Music-Alben
RADIOHEADs “Kid A“ und “Amnesiac“ aus den Jahren 2000 und 2001 haben erst vor Kurzem eine Neuauflage erhalten und sind bis heute bei den Fans beliebt. Zu den Alben veröffentlichte die Band eine virtuelle Ausstellung, die man sich kostenlos herunterladen kann. Alle Tracks glänzen mit ihrem unkonventionellen Sound. Besonders die sich aufbauende Atmosphäre im Hintergrund lässt das Blut in den Adern gefrieren.
Auch viele Progressive-Rock-Alben fallen in diese Spate und setzen auf eigenwillige Entscheidungen. THE MARS VOLTAs “Frances The Mute“ liefert mit dem Song “Miranda That Ghost Isn’t Holy Anymore“ ein knapp dreizehn Minuten langes Monster ab. Vogelgezwitscher, undefinierte Geräusche und undeutlicher Gesang zieren den Großteil des Tracks.
Das Gesamtkonzept muss stimmen
Warum THE MARS VOLTA sich nicht kürzerfassen wollten, um die gleichnamige Singleauskopplung des Albums auch noch unterzubekommen, bleibt schleierhaft. Denn die Platte selbst sollte eigentlich verkürzt werden, um auf dem Markt konkurrenzfähig zu bleiben. Aber vielleicht war es eben jene Entscheidung, die “Frances The Mute“ erfolgreich machte.
In Deutschland haben sich EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN mit ihrem eigenwillen Stil etabliert. Kein Album gleicht dem anderen. “Haus der Lügen“ und “Halber Mensch“ wirken wie eine Mischung aus Poetry Slam und Industrial Music, abgerundet mit einer Prise Noise Rock. Natürlich lassen sich einige der genannten Bands Künstler bestimmten Genres vorrangig zuordnen, doch Experimental Music ist immer ein Teil vom Gesamtkonzept.
SWANS bedienen sich ebenfalls an Einflüssen des Noise-Genres und kombinieren Neofolk- mit Post-Rock-Elementen. Trotz seines eigenwilligen Charakters und langsamen, repetitiven Songaufbauten, war „To Be Kind“ ein klarer Erfolg für die US-Amerikaner.
Weitere abstrakte Genres
Danger Music zielt darauf ab, entweder Zuhörende oder den Artisten selbst zu schädigen. Die japanische Band HANATARASH ging sogar so weit, dass sie eine tote Katze zerstückelten oder versuchten, sich selbst zu verstümmeln. Als Instrumente dienten Werkzeuge, Bohrer und gegebenenfalls auch ein Bulldozer.
Das direkte Gegenteil dazu stellt Lowercase dar. Dieses Genre ist darauf bedacht, besonders minimalistische Geräusche aufzunehmen und fällt in die Kategorie Ambiente. So lauscht man dem Wachsen von Gräsern oder dem Durchblättern von Papier. Ein Beispiel hierfür wäre “Forms Of Paper“ von STEVE RODEN. Der Fokus liegt auf Geräuschen, die sonst dem menschlichen Gehör verwehrt bleiben, wie das Krabbeln von Insekten und anderen Naturphänomenen. Einige Künstler legen jedoch die minimalistischen Aufnahmen nebeneinander und kreieren so teils verstörende Laute.
Inzwischen gibt es unzählige Musikrichtungen. Der Eisberg reicht extrem tief in den Abgrund und beherbergt eine Reihe an obskuren Werken.
Experimental Music – Alles ist Kunst
Wir als Konsumenten sind darauf bedacht, Klänge möglichst harmonisch zu halten. Der Ton an sich, isoliert von der Gesamtstruktur, spielt kaum noch eine Rolle. Wir nehmen uns heraus, zu sagen, was gute und schlechte Musik ist. Als Redakteur bei metal.de liegt hier auch etwas Selbstkritik zugrunde.
Schlussendlich bleiben alle Empfindungen im Leben subjektiv. Verurteilen sollte man niemanden für seinen Geschmack, auch wenn das manchmal schwerfällt. Egal, ob Experimental Music, Techno, Rock oder Pop. Musik ist lediglich eine Form seiner inneren Stimme Ausdruck zu verleihen.