Der erste Schuss
Mit welchen Bands hat alles angefangen?

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Der erste Schuss

Christoph Meul – Paradise Lost

Im Sturm genommen
Ein Junge in der Morgendämmerung der Pubertät. Einer seiner Schulfreunde hatte sich von einem dritten Jungen eine CD ausgeliehen, die dieser wiederum von seinem Vater hatte, der von Beruf Kameramann war und offenbar häufiger aktuelle Platten von irgendwo gefilmten Künstlern in die Hände bekam. Der Schulfreund jedenfalls glühte beim nachmittäglichen Abhängen vor Begeisterung: „Das musst Du dir unbedingt anhören!“, sagte er und hatte im gleichen Atemzug auch schon die Start-Taste seiner Stereoanlage gedrückt. Und dann das! Es mag für gestandene Black- und Death-Metal-Hörer heutzutage lächerlich anmuten, aber das, was da aus den Lautsprechern kam – dieser herrlich emotionale und angeraut-aggressive Gesang, die Wucht und Schwere der Musik sowie ihre latent dunkle Aura – war etwas völlig anderes, als all die Grunge-, Alternative-Rock- und Pop-Punk-Bands, mit denen man als Heranwachsender in den frühen 1990er-Jahre allerorts in Berührung kam.

Der Blick auf das Faltposter-Booklet verriet es: PARADISE LOST heißen die also. Was für ein Name, welche Bildwelten vor dem inneren Auge! Und dann dieser Albumtitel: „Icon“ – hätte man einen zu diesem mächtigen Werk passenderen finden können? Besagtes mächtige Werk lässt sich etwas konkreter, und angesichts seiner unbeschreiblichen Magie reichlich unbeholfen, als spürbar beseelt vorgetragener Heavy Metal mit Doom-Einschlag, einer noch zu erahnenden todesmetallischen Vergangenheit und lebendig-bildreichen, vielseitig interpretierbaren Texten beschreiben. Das war überkochende Faszination, totale Offenbarung und damit Schlüsselerlebnis der musikalisch-metallischen Sozialisation, eine rasant wuchernde Verliebtheit auf den ersten Horcher. Sie führte dazu, dass die restliche Diskographie der Formation aus dem englischen Halifax zusammen mit besagtem Schulfreund relativ schnell entdeckt wurde – in der Prä-Weltnetz-Zeit war dies, sofern man nicht über einen geschmackssicheren großen Bruder oder ähnlich gute Quellen verfügte, tatsächlich nur über den Blindkauf im Plattenladen beziehungsweise beim Versandhändler möglich. Und mit dem so spannenden Erschließen des PARADISE LOST-Frühwerks ging ein Abtauchen in die wunderschöne Welt des extremen Metal einher …

Obwohl die doomige Schwere, die „Icon“ noch besaß, auf der 1995 folgenden, kommerziell äußerst erfolgreichen Platte „Draconian Times“ verschwunden war, besaß auch diese noch den alten Charme und konnte wieder vollends mitreißen. Die Zuneigung zum PARADISE LOST’schen Schaffen war zu diesem Zeitpunkt sowieso längst sturmfest verankert und thront beinahe zwanzig Jahre später als konkurrenzlos größte musikalische Liebe eines Lebens über allem, was davor oder danach kam.

Ungetrübte Liebe?
Zugegeben, PARADISE LOST hatten um die Jahrtausendwende herum ihre elektronisch-experimentelle respektive relativ poppige Phase mit Alben wie „One Second“, „Host“ und „Believe In Nothing“, die sich im Spannungsfeld zwischen melancholisch-dunklem Rock und – zumindest das 1999er-Werk „Host“ – gar Synthie-Pop-Rock bewegten. Aber zum einen sind diese gerne verschmähten Platten bei einem Hauch musikalischer Toleranz lange nicht so schlecht, wie sie gerne geschrieben und geredet werden, zum anderen sind die Briten spätestens mit den letzten beiden, ziemlich überzeugenden Scheiben „Faith Divides Us – Death Unites Us“ (2009) sowie „Tragic Idol“ (2012) glorreich zu ihrem Mittneunziger-Klang zurückkehrt. Und noch 2014 soll ein neues Album erscheinen – bei der deutlich erkennbaren Aufwärtsentwicklung der letzten Jahre, die definitiv ein prächtiger zweiter Frühling ist, ist die Hoffnung auf ein abermaliges Kleinod groß und berechtigt.

Teilhaben lassen
Was kann man an Anspieltipps nennen? Wirklich eine schwierig zu beantwortende Frage, denn PARADISE LOST haben auf 13 Alben verteilt so viele Hochkaräter platziert, dass sie damit spielend leicht ein vierstündiges Konzert füllen könnten – von den zahlreichen erstklassigen B-Seiten ganz zu schweigen. Versuchen wir uns daher auf zehn Empfehlungen zu beschränken: Vom Opus magnum „Icon“ sind natürlich die beiden großen Gassenhauer „Embers Fire“ und „True Belief“ zu empfehlen, aber auch grandiose Lieder aus der zweiten Reihe wie „Weeping Words“ oder „Colossal Rains“ verdienen hier unbedingt Erwähnung. Vom „Draconian Times“-Material besitzt vielleicht „Hallowed Land“ die größte Strahlkraft.

Wer sich für die Anfänge der fünf Briten im Death-Metal-Sumpf interessiert, kommt am besonders ruppigen „Our Saviour“ und dem sich unglaublich finster dahinschleppenden „Rotting Misery“ vom „Lost Paradise“-Debüt nicht vorbei. Vom das Death-Doom-Genre mitprägenden 1991er-Meilenstein „Gothic“ seien „Eternal“ und das großartige, erhabene „The Painless“ genannt. Und zu guter Letzt soll auch noch das treibend-hymnische „Pity The Sadness“ von der 1992er-Scheibe „Shades Of God“ ins Feld geführt werden, das dem prächtigen PARADISE LOST-Portfolio noch eine weitere Seite hinzufügt.

Natürlich kann man auch so vorgehen, dass man sich einfach jeweils ein beliebiges Lied von fünf verschiedenen PARADISE LOST-Alben anhört – dabei wird man der zahlreichen und mitunter so aufregend gegensätzlichen Facetten im PARADISE LOST-Kosmos schnell gewahr. Vielleicht gerade aufgrund dieser chamäleonartigen Wandlungsfähigkeit gehören PARADISE LOST zu den unterschätztesten Metal-Bands dieses Planeten.

Der erste Schuss

 

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10.03.2014

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