Blind Guardian
Der Bombast übernimmt

Special

Nachdem Nuclear Blast die ersten vier Alben von BLIND GUARDIAN mit schicken Re-Releases versehen hat, geht die Reise mit den Jahren 1992 bis 1998 weiter. Auf den Platten dieser Ära formen die Krefelder den Sound, den Metal-Fans heute von ihnen gewohnt sind.

Das heißt konkret: Ihre Speed-Anfänge lässt die Band endgültig hinter sich. Stattdessen übernehmen orchestraler Bombast und Fantasy-Epik das Geschehen. Die Pausen zwischen den Veröffentlichungen werden länger. Diese Zeit nutzen BLIND GUARDIAN, um komplexe Songs zu arrangieren, die zeigen, wie sehr sie als Musiker und Komponisten gereift sind. Die Folge davon ist der Aufstieg der Band zu einer der größten europäischen Metal-Bands.

Imaginations From The Other Side (1995)

Drei Jahre nehmen sich BLIND GUARDIAN, um den Nachfolger von „Somewhere Far Beyond“ fertigzustellen. Bereits der eröffnende Titelsong macht unmissverständlich klar, warum die Band führ ihre Verhältnisse ungewöhnlich lange braucht.

Imaginations From The Other Side“ startet mit einem über sieben Minuten langen Epos, das es in sich hat. Zahlreiche Breaks sorgen für einen klaren Spannungsaufbau, die Gitarren faszinieren mit verspielten Melodien. Hansi Kürsch singt derweil als ginge es um sein Leben. Spätestens wenn im Refrain die Chöre einsetzen, ist der Gänsehautfaktor auf 110 Prozent.

BLIND GUARDIAN lassen ein wenig Nostalgie zu

„I’m Alive“ schlägt in eine sehr ähnliche Kerbe, fährt die Dynamik mit vermehrten Akustikgitarren zwischenzeitlich noch weiter runter. Damit bereiten BLIND GUARDIAN die folgende, unfassbar starke Ballade „A Past And Future Secret“ vor. Die schlägt mit ihren folkigen Elemente in ein ähnliche Kerbe wie „The Bard’S Song“ vom Vorgängeralbum. Durch die hier ebenfalls präsenten Chöre gewinnt der tragische Song aber zusätzlichen Bombast und verkommt nicht zu einem Abklatsch.

Das Riffing in „The Script For My Requiem“ ist anschließend einer der seltenen Momente, die noch an die Speed-Metal-Anfänge von BLIND GUARDIAN erinnern. Doch da sich der Bombast wie ein roter Faden durch das Album und damit auch diesen Song zieht, vermeidet die Band wieder, sich selbst zu kopieren.

So reiht sich auf „Imaginations From The Other Side“ ein BLIND GUARDIAN-Klassiker an den nächsten. Die Krefelder zeigt eine unglaubliche kompositorische Finesse und Sicherheit. Jeder einzelne Ton ist bis ins letzte Detail durchdacht, kein Gitarrenanschlag zufällig gesetzt. Unsterbliche Hymnen wie „Bright Eyes“ sind die Folge.

Ein Produzentenwechsel muss her

Spätestens mit „Somewhere Far Beyond“ hatten sich BLIND GUARDIAN und ihr Stammproduzent Kalle Trapp auseinandergelebt. Deshalb sitzt bei „Imaginations From The Other Side“ Flemming Rasmussen hinter den Reglern. Der ist vor allem für seine Arbeit an den METALLICA-Klassikern „Ride The Lightning„, „Master Of Puppets“ und „…And Justice For All“ bekannt.

Er schneidert der Band ihr bislang kräftigstes Sound-Korsett. Insbesondere Schlagzeug und Gitarren gewinnen deutlich an Druck dazu. Die Chöre wiederum mischt er nie zu weit in den Vordergrund. „Imaginations From The Other Side“ ist – trotz allen Bombasts – immer noch purer Metal. Mit dieser Platte definieren BLIND GUARDIAN ihren ganz eigenen Sound, der in den folgenden Jahren zahllose Nachahmer nach sich zog – und die Band vor die schwierige Aufgabe stellte, sich selbst zu toppen.

Nightfall In Middle-Earth (1998)

Bereits seit dem Debütalbum „Battalions Of Fear“ ist J.R.R. Tolkiens Welt von Mittelerde eine wichtige Inspirationsquelle für die Texte von BLIND GUARDIAN. Songtitel wie „Gandalf’s Rebirth“ sind dahingehend wenig subtil. Der wohl genreprägendsten aller Fantasy-Welten überhaupt ein ganzes Album zu widmen, ist da nur die logische Schlussfolgerung. 1998 lässt die Band diesen Traum mit „Nightfall In Middle-Earth“ Realität werden.

Für die Texte stehen dabei weder „Der Hobbit“ noch „Der Herr der Ringe“ Pate. Anstatt es sich und den Hörern mit Tolkiens populärsten Arbeiten einfach zu machen, nimmt sich die Band „Das Silmarillion“ zur Brust. In diesem Wälzer steht die Entstehungsgeschichte Mittelerdes niedergeschrieben sowie die ersten Jahrtausende der Geschichte dieser Welt. Ein Stoff von nicht nur sprichwörtlich biblischen Ausmaßen.

Um diesem gewaltigen literarischen Werk gerecht zu werden, braucht es ebenso gewaltige Musik. Dabei startet die Platte nach einem atmosphärischen Intro mit einer typischen Power-Metal-Nummer. „Into The Storm“ ist nach vorn peitschende eine Mitsinghymne, die augenblicklich mitreißt. Nach dieser vergleichsweise leichten Kost lassen BLIND GUARDIAN ihrem Wahnsinn freien Lauf.

BLIND GUARDIAN wollen hoch hinaus

Die opernhaften Ansätze von QUEENs „A Night At The Opera“ sind zweifellos eine der größten musikalischen Inspirationsquellen für das Album. Die Krefelder gehen aber noch einen Schritt weiter. Durch die regelmäßigen atmosphärischen Zwischenspiele sowie reihenweise Tracks, die auf klassische Strophe-Refrain-Strukturen verzichten, liefern BLIND GUARDIAN mit „Nightfall In Middle-Earth“ eine wahre Metaloper ab.

Wer sich auf diese spannende Reise einlässt, hat schnell eine große Bühne vor dem geistigen Auge. Auf der bietet die Band ihre Epen dar, während um sie herum große Schlachten nachgestellt werden. Fast schon nebenbei erschaffen BLIND GUARDIAN in diesem Bombast mit „Mirror, Mirror“ oder „Time Stands Still (At The Iron Hill)“ fantastische Power-Metal-Hits. Die funktionieren für sich stehend genauso gut wie im Albumkontext.

„Nightfall In Middle-Earth“ setzt Maßstäbe

Die komplexe Ausrichtung von „Nighfall In Middle-Earth“ hat gleich mehrere Folgen für die Studioarbeit der Band. Kürsch legt den Bass zur Seite, damit er sich voll auf den anspruchsvollen Gesang konzentrieren kann. An seiner Stelle übernimmt Oliver Holzwarth den Viersaiter. Bis 2012 soll er BLIND GUARDIAN in dieser Position erhalten bleiben.

Die Rolle des Produzenten übernehmen die Bandmitglieder derweil selbst. Rasmussen bleibt als Tontechniker erhalten und kümmert sich um den Mix der Platte. Als Tontechniker für die zahlreichen Interludes sowie die Schlagzeugaufnahmen engagieren BLIND GUARDIAN den renommierten Produzenten Charlie Bauerfeind.

Durch diese klare Arbeitsteilung bekommt jedes Teil des gigantischen musikalischen Puzzles die nötige Aufmerksamkeit. Die Band selbst führt am Ende alle Fäden bei sich zusammen. Herauskommt ein wegeweisendes Album mit dem BLIND GUARDIAN ihren Status als führende Power-Metal-Band Europas zementieren.

A Night At The Opera (2002)

Vier Jahre nach „Nightfall In Middle-Earth“ gehen BLIND GUARDIAN noch einen Schritt weiter. Während QUEENs „A Night At The Opera“ bei besagter Platte musikalisches Vorbild war, übernehmen die Krefelder den Titel für ihr siebtes Album gleich mal – und geben damit den Kurs vor.

Wem der Bombast auf „Nightfall“ bereits zu viel des Guten war, den erschlagen BLIND GUARDIAN auf dem Nachfolger direkt mit dem Opener „Precious Jerusalem“. Die Band-typischen Gitarrenriffs sind zwar immer noch da. Die Chöre und das Orchester drängen die Saiteninstrumente aber mehr und mehr in den Hintergrund.

Zudem fehlen diesmal die Zwischenspiele, um das Geschehen aufzulockern. Über eine Stunde lang hauen BLIND GUARDIAN dem Hörer nahezu ohne Pause die Bombastkeule um die Ohren. Das ist anstrengend, erfordert genau hinzuhören und ist an manchen Stellen kaum zu erfassen. Langweilig aber wird die Platte eben auch nie.

„A Night At The Opera“ bietet eine große Herausforderung

Vielmehr lädt sie dazu ein, den Repeat-Knopf zu drücken, denn auf „A Night At The Opera“ gibt es mit jedem Durchlauf etwas neues zu entdecken. Das Songwriting ist unglaublich durchdacht. BLIND GUARDIAN setzen ihrer Liebe zum Detail keine Grenzen. Mit Metal hat das freilich nur noch am Rande etwas zu tun. Selbst Symphonic Metal wirkt als Genre zu kurz gegriffen für die Inszenierung, die die Band hier auffährt.

Mit den Klischees, die Metal-Fans mit dem Genre verbinden, hat „A Night At The Opera“ nämlich nichts zu tun. Obwohl BLIND GUARDIAN diesmal kein durchgehendes textliches Konzept entwickeln, wirkt die Platte wie ein von vorne bis hinten durchgeplantes Bühnenstück. Nur eben als Musikalbum. Die dazugehörige Bilder muss sich der Hörer wie beim Vorgänger selbst erschaffen.

Das Ende einer Ära

Von Produzent Rasmussen trennen sich BLIND GUARDIAN nun auch. Stattdessen übernimmt Charlie Bauerfeind den Job, nachdem er bereits zuvor sehr gut als Tontechniker mit der Band harmonierte. Ihm gelingt das Kunststück, die Bombast-Attacken der Band in nachvollziehbare Bahnen zu lenken. Trotz der immensen Anzahl an Spuren behält er stets die Kontrolle über den Sound.

Weniger harmonisch hingegen ist mittlerweile das Bandgefüge. Schlagzeuger Thomas Stauch ist mit der Entwicklung von BLIND GUARDIAN zunehmend unzufrieden. Der schnörkellose Metal der Anfangstage ist sein Ding. Mit der immer progressiveren Ausrichtung kann er wenig anfangen. „A Night At The Opera“ wird deshalb zu seinem letzten Studioalbum mit der Band. Somit ist die Platte musikalisch wie menschlich ein großer Einschnitt in der Geschichte von BLIND GUARDIAN. Mit dem siebten Album findet die klassische Ära der Band endgültig ihre Ende.

09.04.2019

"Irgendeiner wartet immer."

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