Blind Guardian
Vom Speed zum Power Metal

Special

Nach HELLOWEEN sind BLIND GUARDIAN vielleicht die stilprägendste Band des deutschen Power Metals. In den Anfängen als LUCIFER’S HERITAGE – und auch auf den ersten Platten – noch stark vom Thrash und Speed Metal beeinflusst, entwickeln sich die Krefelder schnell zu Vorreitern in Sachen bombastischer Sounds.

Mit ihrem sechsten Album „Nightfall In Middle-Earth“ knacken BLIND GUARDIAN sogar den US-Markt. „A Night At The Opera“ und „Beyond The Red Mirror“ wiederum beweisen, dass Metal und Klassik äußerst gut miteinander harmonieren können. Für Nuclear Blast ist das alles offensichtlich Grund genug, den kompletten Backkatalog der Band ein weiteres Mal neu aufzulegen. Den Anfang machen dieser Tage die ersten vier Alben. Der Rest soll 2019 folgen.

Battalions Of Fear (1988)

Nach den beiden LUCIFER’S HERITAGE-Demos „Symphonies Of Doom“ (1985) und „Battalions Of Fear“ (1986) bekommen Hansi Kürsch (Gesang/Bass), André Olbrich (Gitarre), Marcus Siepen (Gitarre) und Thomen Stauch (Schlagzeug) von No Remorse Records endlich den heiß ersehnten Plattenvertrag angeboten. Damit einhergehend dürfen die vier Jungspunde erstmalig in einem richtigen Studio aufnehmen.

Als Produzent fungiert Kalle Trapp, der bereits mit PARADOX, ASSASSIN und DESTRUCION gearbeitet hat. Damit ist er genau der richtige Mann für LUCIFER’S HERITAGE. Die großen Fans der New Wave Of British Heavy Metal wollen noch einen draufsetzen, indem sie schneller und aggressiver spielen als ihre Vorbilder. „Battalions Of Fear“ ist somit nichts anderes als eine Sammlung von Speed-Krachern, bei denen die Band kaum einmal den Fuß vom Gaspedal nimmt. Der größte Hit ist ohne Zweifel der Opener „Majesty“, welcher für alle Zeit im Live-Set verweilt.

BLIND GUARDIAN finden zu sich selbst

Textlich wiederum bewegen sich LUCIFER’S HERITAGE bereits in den heute für BLIND GUARDIAN typischen Gewässern. Titel wie „Gandalf’s Rebirth“ oder „By The Gates Of Moria“ machen keinen Hehl daraus, dass hier große Tolkien-Fans am Werk sind. Genau das führt schlussendlich auch zur Namensänderung. Um nicht fälschlicherweise für eine Black-Metal-Combo gehalten zu werden, wird aus dem Songtitel „Guardian Of The Blind“ schlicht BLIND GUARDIAN.

Der Sound des Albums klingt derweil roh und ungeschliffen. Dass Trapp zuvor vor allem brachiale Thrash-Bands produziert hat, ist unüberhörbar. Das passt zum knackigen Songmaterial, auch wenn die Produktion insgesamt ein wenig dünn gerät. Gleiches gilt für Hansi Kürschs Stimme. 1988 ist er noch lange nicht von seinen Gesangkünsten überzeugt. Er übernimmt die Rolle des Frontmanns eher widerwillig. Diese Unsicherheit scheint im Gesang immer wieder durch. Doch zumindest der Sound wurde im Laufe der Zeit immer weiter aufgemöbelt. 2018 klingt „Battalions Of Fear“ durch diverse Remix- und Remaster-Verfahren um einiges druckvoller und aufgeräumter.

Follow The Blind (1989)

Nur ein Jahr nach ihrem Debüt legen BLIND GUARDIAN bereits nach. Auf „Follow The Blind“ setzen sie ihren Weg konsequent fort. Immer noch regiert der Speed Metal. Doch eingängige Melodien und Chor-Arrangements halten immer häufiger Einzug in das Songwriting. „Banish From Sanctuary“ ist beispielsweise ein Mitgröl-Ohrwurm allererster Kajüte. Das Titelstück überrascht hingegen mit Akustikgitarren und einem durchgehend langsamen Tempo. BLIND GUARDIAN sind als Songschreiber sichtlich gereift.

Doch da hört es nicht auf. Hansi Kürsch hat sehr an sich gearbeitet. Seine Stimme klingt weitaus gefestigter als auf dem Vorgänger. Auch gelingen ihm bereits ein paar kräftige Schreie. Gleichzeitig überzeugen André Olbrich und Marcus Siepen mit ausgefeilten Gitarren-Leads. Spieltechnisch sind BLIND GUARDIAN ein ganzes Level weiter.

„Follow The Blind“ entsteht unter Druck

Allerdings bereiten die Aufnahmen der Band auch Probleme. Konnten sie für ihr erstes Album noch auf Songs ihrer Demos zurückgreifen, muss diesmal komplett neues Material her. Die große kreative Explosion bleibt allerdings aus. Deshalb kommen mit „Barbara Ann“ von den BEACH BOYS und dem DEMON-Klassiker „Don’t Break The Circle“ gleich zwei Coversongs auf „Follow The Blind“.

„Valhalla“ entsteht sogar erst eine Woche vor Aufnahmebeginn. Olbrich und Kürsch empfinden das Stück als zu Schwach für das Album. Die Veröffentlichung des Songs ist einzig und allein der geringen Spielzeit der Platte zu verdanken. Dank griffiger Riffs, einem leicht mitsingbaren Chorus und Gast-Gesang von Kai Hansen, entwickelt es sich schnell zum Band-Hit. So können sich selbst die besten Musiker mal irren.

Wie bereits beim Vorgänger, sitzt Kalle Trapp hinter den Reglern. Er zimmert „Follow The Blind“ einen immer noch ruppigen, aber differenzierteren Sound. Genau wie sein Vorgänger, profitiert auch der BLIND GUARDIAN-Zweitling im Laufe der Zeit von seinen regelmäßigen Nachbearbeitungen.

Tales From The Twilight World (1990)

Die Einnahmen von „Follow The Blind“ investieren BLIND GUARDIAN in ein eigenes kleines Studio. Somit gestaltet sich das Songwriting für die Band diesmal wesentlich komfortabler. Das gibt der Band die Chance, sich endlich von ihren Vorbildern zu emanzipieren und einen eigenen Stil zu finden. Diese Stilfindung hat aber auch ihren Preis: Wieder einmal haben BLIND GUARDIAN zu Beginn der Aufnahmesession nicht genügend Songs für ein Album fertig.

Da kommt es der Band gerade Recht, dass sie bei ihrer Ankunft in Kalle Trapps neuen Studio erfahren, dass der dortige Umbau noch gar nicht abgeschlossen ist. Die neugewonnene Zeit nutzt die Band ausgiebig, um weitere Songs zu schreiben.

Ein großer Schritt für BLIND GUARDIAN

„Tales From The Twilight World“ ist der erste größere Einschnitt in der Karriere von BLIND GUARDIAN. Auf ihrem dritten Album begründet die Band endgültig ihren ureigenen Sound, dessen Formel bis heute gültig ist. Dazu gehört jede Menge Bombast („Traveler In Time“), immer noch gelegentliche Speed-Granaten („Goodbye My Friend“) und vermehrt balladeske Töne („Lord Of The Rings“). Dieser Mix verführt nicht nur zum Headbangen, sondern sorgt ein ums andere Mal für Gänsehaut.

Hansi Kürsch hat sich derweil endlich gefunden. Seine Darbietung auf „Tales From The Twilight World“ ist ebenso kraftvoll wie charismatisch. An einen Ersatz für ihn verschwenden BLIND GUARDIAN keinen Gedanken mehr.

Gemeinsam mit Kalle Trapp entwickelt die Band zudem eine klare Sound-Vision. Die Zeiten der rotzigen Gitarren sind vorbei. Auf dem dritten Album sitzt jeder Ton da, wo er hingehört. Nichts wird im Studio dem Zufall überlassen. Für das Artwork arbeitet die Band derweil erstmalig mit Andreas Marschall zusammen. Es sollte der Beginn einer langen Freundschaft werden. Sein detailverliebtes Fantasy-Gemälde passt perfekt zur Atmosphäre des Albums. „Tales From The Twilight World“ ist somit ein rundum gelungenes Gesamtkunstwerk.

Somewhere Far Beyond (1992)

War „Tales From The Twilight World“ noch eine Evolution, so ist das folgende „Somewhere Far Beyond“ nichts anderes als eine Revolution. Zwischen Veröffentlichung beider Alben vergehen diesmal ganze zwei Jahre, inklusive einer erfolgreichen Tour mit ICED EARTH. BLIND GUARDIAN nutzen die zusätzliche Zeit, um ihre Erfolgsformel zu perfektionieren.

Das Songwriting gestaltet sich noch eine Spur anspruchsvoller als auf dem Vorgänger. „Theatre Of Pain“ stellt die klassischen Einflüsse so sehr in den Vordergrund, wie kein BLIND GUARDIAN-Song zuvor. Für eine echtes Orchester fehlt es der Band zwar noch an Geld. Die eingesetzten Synthesizer klingen aber überraschend gut. Gleichzeitig färben BLIND GUARDIAN ihren Sound zunehmend mit folkloristischen Tönen. Da ist zum einen das Dudelsack-Instrumental „Piper’s Calling“, zum anderen „The Bard’s Song (In The Forest)“.

Der größte Hit

Wer diesen Song nicht kennt, sollte das schleunigst nachholen. Die erste reinrassige Ballade der Band kommt komplett ohne E-Gitarren aus. Stattdessen wird der „Bard’s Song“ von vorsichtigen Akustik-Gitarren und Hansi Kürschs unvergleichlichem Gesang getragen. Den Text dieses einfühlsamen Stücks kennt wohl jeder BLIND GUARDIAN-Fan in- und auswendig.

Doch auch Anhänger der Anfangstage kommen auf „Somewhere Far Beyond“ nicht zu kurz. Mit „Ashes To Ashes“, „Journey Throught The Dark“ oder dem an „Blade Runner“ angelehnten „Time What Is Time“ hat das Album genug Metal-Kracher parat.

„Somewhere Far Beyond“ ist das Ende einer Ära

Allerdings kommt es während der Aufnahmen vermehrt zur Problemen zwischen der Band und Produzent Kalle Trapp. Die stilistische Weiterentwicklung von BLIND GUARDIAN sagt ihm überhaupt nicht zu. Es fällt ihm zunehmend schwerer, die anspruchsvollen Songs in ein passendes Soundgewand zu kleiden. „Somewhere Far Beyond“ ist folgerichtig die letzte Zusammenarbeit von Trapp und BLIND GUARDIAN. Befeuert wird dafür die Zusammenarbeit mit Andreas Marschall, der die Musik wiedereinmal mit einem Artwork versieht, das ihrer würdig ist.

„Somewhere Far Beyond“ ist zweifellos eines der wichtigsten Alben in der Karriere von BLIND GUARDIAN. Die Band erschafft immer komplexere Arrangements, ohne dass die Songs im Chaos versinken. Das Artwork und die Texte festigen derweil endgültig ihr Fantasy-Image. Eine Power-Metal-Perle nahe der Perfektion. Nach Europa gelingt der Band hiermit der Durchbruch in Japan, was fortan einer ihrer wichtigsten Märkte ist.

Die Reissues

Die letzte Neuauflage der ersten zehn BLIND GUARDIAN-Platten ist gerade mal ein Jahr her und beim einschlägigen Versandhändler problemlos zu bekommen. Wer damals schon zugeschlagen hat, findet bei den neuen Versionen nichts reizvolles, von der Aufmachung mal abgesehen. Das erneute Remaster macht nichts kaputt, klingt aber auch nicht so viel anders, dass es einen Neukauf rechtfertigen würde. Wenn ihr die Alben bereits im Schrank habt, könnt ihr die Neuauflage also getrost ignorieren.

Für alle anderen wiederum führt um die aktuellen Reissues kein Weg herum. Zum einen machen die schicken Digipaks wirklich was her. Zum anderen liegt jedem Album eine zweite CD mit dem Original-Mix des jeweiligen Albums bei. Das sollte bei remasterten Neuauflagen definitiv Standard werden. Im Gegenzug fehlen dafür unerklärlicherweise fast alle Bonustracks, die bei früheren Auflagen vorhanden waren. Die vier Doppel-CDs beinhalten nur die Original-Tracklist der Erstveröffentlichung. Da hätte der Speicher der Silberlinge mehr hergegeben.

Löblich hingegen ist, dass diesmal auch Vinyl-Liebhaber auf ihre Kosten kommen. Neben den CDs gibt es alle Alben nämlich ebenfalls als LP im Gatefold, wahlweise sogar mit Sammelbox für alle folgenden Platten. Vinyl-Käufer bekommen allerdings nur die neu gemasterte Version zu hören. Dieser kleine Wermutstropfen ändert aber nichts am tollen Gesamteindruck dieser Neuauflagen.

 

19.10.2018

"Irgendeiner wartet immer."

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