Live-Kultur der Zukunft
Das meint die Redaktion

Special

Über Monate hinweg führte die metal.de-Redaktion eine umfangreiche Recherche durch, um ein möglichst umfassendes Bild des aktuellen Zustands der Livekultur zu zeichnen – und ihrer Zukunft. Dabei hat sich für einige der Beteiligten der persönliche Blick auf die Lage stark verändert. Sechs der an der Recherche Beteiligten berichten an dieser Stelle davon, welches Fazit sie aus den Ergebnissen der Recherche für sich ziehen.

Jeanette Grönecke-Preuss
Dominik Rothe
Tobias Kreutzer
Philipp Gravenhorst
Jürgen Fenske
Jan Wischkowski

Jeanette Grönecke-Preuss

Als Konzertgängerin, die es liebt, in den kleinen Hamburger Clubs herumzuwuseln, und der in der Zeit der Pandemie das Herz blutete, weil gerade diese liebevoll und oftmals mit mehr Hingabe geführten Locations um ihr Überleben kämpften und es immer noch teilweise tun, waren für mich die Teilnahme an diesem Artikel/Projekt und der Blick hinter die Tresen der Clubs wichtig.

Auch interessierte es mich, wie aus psychologischer Sicht sowie vom politischen Standpunkt aus die Situation bewertet wird und inwieweit wir tatsächlich gerade Augenwischerei betreiben. Machen wir uns gegenseitig etwas vor oder ist „Back To Normal“ wirklich und realistisch greifbar? Im Rahmen des Projekts konnte man deutlich feststellen, wie gerade in der Clubszene Hamburgs der Stachel aufgrund der Auseinandersetzungen mit der Großen Freiheit 36 und dem Docks tief sitzt. Man ist vorsichtig geworden mit Aussagen. Dennoch konnten einige Stimmen aus der Szene eingefangen werden, die ein ehrliches Bild zeichnen.

Dabei konnte ich für mich feststellen, dass vielerorts selbst geschaut wird, was getan werden kann. Es wird sich eben nicht nur auf die Behörde verlassen. Immer wieder werden die einzelnen Verbände und Vereine hervorgehoben, die sich innerhalb der Pandemie gebildet haben, um sich in der Szene zu unterstützen. Dies lässt sich nicht nur bei den kleinen Clubs sondern auch bei den größeren Veranstaltern beobachten. Deutlich lässt sich ein WIR, anstatt eines ICHS wahrnehmen. Es wird sich geholfen, ausgeholfen und Rat gegeben, wo und wie es eben geht.

Gleichzeitig spürt man einen deutlichen Willen der Bands, endlich wieder live zu spielen, endlich wieder eine Bühne zu entern, und das auch unter Vorgaben und Einschränkungen. Diese Bereitschaft, auch vor kleinem Publikum aufzutreten, stärkt die Szene ebenfalls.  Interessant ist gleichzeitig der psychologische Aspekt einer Livesituation. Denn nicht alle werden sich gleich wieder pudelwohl fühlen, wenn sie dicht gedrängt vor einer Bühne stehen.

Viele dieser Punkte und Stimmen und auch der Blick auf die aktuelle Situation lassen mich hoffen, dass wir langsam wieder in ein „Liveleben“ zurückkommen werden. Doch dieses wird meines Erachtens noch für eine ganze Weile nicht dasselbe wie vor Corona sein. Es wird viel dafür getan, dass es sich „normal“ anfühlt, aber sowohl die steigenden Ticketpreise, die es aufgrund der Auflagen zu erwarten gilt, als auch die Einlassbeschränkungen (Geimpfte, Genesene, Getestete), die uns noch begleiten werden, zeigen, dass es es nicht „ganz normal“ wie früher ist und so schnell auch nicht werden wird.

Dominik Rothe

Die Arbeit an diesem Special hat mir vor allem eines gegeben: Hoffnung. Allerdings keine Hoffnung, dass wir alsbald wieder zum 100-prozentigen Normalzustand zurückkehren. Das wird wohl sicherlich noch ein bisschen länger dauern. Aber gerade die optimistischen Statements aus Label- und Veranstalter-Kreisen stimmen mich trotzdem hoffnungsvoll.

Der Kampfgeist sowie die immer noch pure Leidenschaft, mit der alle Beteiligten an diesen Fronten zugange sind, wird sich am Ende auszahlen. Da bin ich mir sicher. Allein das so manches Festival diesen Sommer doch durchgeführt wurde und andere immerhin hochwertige Ersatzveranstaltungen auf die Beine gestellt haben, zeigt deutlich, dass die Konzert- und Eventbranche noch lange nicht am Ende ist.

Dazu kommen, wie schon im vergangenen Jahr, zahlreiche Abstandskonzerte, die zwar manche Künstler nicht genügend zu schätzen wissen, andere dafür umso dankbarer annehmen – und genau die werden nach der Pandemie immer noch am Start sein, um sich ihre redlich verdienten Lorbeeren einzuheimsen. Über weite Strecken zeigt sich in der Szene zudem ein großer Zusammenhalt. Dass festivalübergreifend an Hygienekonzepten gearbeitet wurde, ist das beste Beispiel dafür, wie Konkurrenzgedanken angesichts der Krise keine Rolle spielen. Hier geht es um das Überleben einer ganzen Branche. Das lässt sich eben nur gemeinsam sichern. Auf dem weiteren Weg werden den Veranstaltern sicherlich noch einige Stolpersteine begegnen. Aber auch die lassen sich überwinden.

Tobias Kreutzer

Zuvorderst: Hut ab! Aus allen in diesem redaktionellen Gemeinschaftsprojekt zusammengetragenen Statements spricht großes Reflektionsvermögen und eine grundsätzlich positive Kämpfer:innenmentalität. Ich selbst habe mich zu Beginn und inmitten der Pandemie als nicht existenziell Betroffener sondern lediglich als Musikfan mehrfach zu deutlich undifferenzierteren Tiraden und destruktiverem Denken hinreißen lassen. Es macht Mut, die pragmatische Leidenschaft der Betroffenen aus den verschiedenen Bereichen unmittelbar formuliert zu lesen – trotz der Umstände.

Denn klar ist auch: Der Spuk ist noch lange nicht vorbei und ich teile die Sorge vieler der Interviewten, dass das dicke Ende erst noch kommt. Die Veranstaltungsbranche ist in ihrer Grundsubstanz angegriffen und verliert ihre Basis in Form von abwandernden Bühnentechniker:innen, Live-Soundmischer:innen und Roadies. Tatsächlich beschäftigt mich dieser Trend, der sich aktuell vergleichbar zum Beispiel auch in der Gastronomie zeigt, wo plötzlich Kellner:innen und Köch:innen fehlen, noch mehr als die Situation der Musiker:innen selbst.

Ein großer Teil unserer Szene lebt nicht von der Musik allein. Metal und Punk sind weit über den Untergrund hinaus oft allenfalls finanzielles Zubrot. Kunst aus Leidenschaft wird auch weiterhin ihren Weg in die Öffentlichkeit finden. Es mag schwerer werden, aber da, wo Kunst so sehr Selbstzweck ist wie in dieser Szene, wird sie niemals sterben. Es wird an uns Fans sein, dieser Leidenschaft mit der vielbeschworenen Treue und Szene-Solidarität zusätzlichen Nährboden zu geben. In Zeiten kurzlebiger Playlist-Hypes und medialen Dauerfeuers kann die Verschworenheit und Verschrobenheit, ja, das anachronistische Wesen dieser unserer Szene am Ende den entscheidenden Vorteil beim großen Restart geben.

Philipp Gravenhorst

Konzertbesuche machen einen elementaren Bestandteil meiner Freizeitgestaltung aus. Vor der Pandemie habe ich ungefähr 20 bis 30 Veranstaltungen im Jahr besucht. Im März 2020 war damit Schluss. Über Nacht musste ich überlegen, was ich mit meiner Zeit machte. Diese Sorge um die Konzertbranche hat sich auch in meinen Artikeln bei metal.de wiedergespiegelt

Eine Liste von relevanten Konzertvideos, ein Konzertbericht des ersten Konzerts in Osnabrück nach dem Lockdown, sogar ganz ohne metallische Beteiligung, mein Interview mit Schnalli nach Beginn des zweiten Lockdowns und auch meine Kolumne aus dem März. Mich treibt diese Frage nach dem Stand der Branche um. Daher fand ich es auch sehr interessant, dass viele so offen über ihre Situation und Erwartungen gesprochen haben.

Jürgen Fenske

Ich bin fast mein ganzes Leben lang leidenschaftlicher Konzertgänger gewesen. Mit zunehmendem Alter wurden die Konzerte immer kleiner. Faszinierte mich früher PINK FLOYD als Stadionshow, fühle ich mich mittlerweile in Locations wohl, in denen ich nur wenige Meter von der Bühne entfernt stehe. Die Situation von kleinen und nicht unbedingt kommerziell orientierten Clubs verfolge ich seit einigen Jahren. Die zunehmende Gentrifizierung in den Ballungszentren verdrängt Kulturstädten in die Randbezirke oder ganz.

Als der Aufruf kam, an einem Projekt zum möglichen Re-Start der Konzertbranche mitzuarbeiten, war für mich von Anfang an das Thema klar. Sehr interessant waren die Aussagen der Clubs aus Hamburg. Keine Location wollte sich zu unseren Fragen äußern. Ob hier, wie teilweise schon von den Redaktionskolleginnen und -kollegen gemutmaßt, eventuell die Auseinandersetzungen innerhalb der Clubszene um Große Freiheit 36 und Docks nachwirken? Lieber nichts sagen, als etwas, das ich in ein paar Monaten bereue, ist hier wohl die Maxime. Künstler, welche die Bühnen bald wieder bevölkern sollen, denken um: War im Sommer 2020 der Tenor „Wir spielen erst wieder live wenn alles ist, wie es war“ klangen 12 Monate später die Aussagen schon ganz anders: „Wir spielen unter den Bedingungen, die gelten“. An Sitzplatzkonzerte werden wir uns bis auf weiteres gewöhnen müssen.

Von den anderen Themenbereichen haben mich die Aussagen seitens des Party.San beeindruckt. Kampfgeist und Überlebenswillen waren immer Tugenden von Freigeistern. Noch wichtiger die Aussage, dass wir uns vom bisherigen Gesellschaftsmodell verabschieden sollten, wenn Livekonzerte zu einem Luxusgut werden. Ebenso sieht das Rockharz das Zusammenbringen von Menschen als eine seiner Hauptaufgaben an.

Überrascht hat mich das klare Statement des kulturpolitischen Sprechers der FDP in Nordrhein-Westfalen. Die Vermutung, dass die Cashcow gemolken wird, sieht der Politiker durchaus ähnlich und vermutet deutlich steigende Ticketpreise. Er sieht auf längere Dauer die Kultur als Luxusgut, falls die Kosten für Testen und Hygiene nicht eingefangen werden können.

Jan Wischkowski

Dieses Großprojekt brannte mir förmlich auf der Seele. Umso schöner, dass ich damit nicht alleine war. Denn die Frage, vor allem in der Tiefe, welche Auswirkungen uns Liebhabern von Liveshows blühen, ist eine der drängendsten, die ich in den letzten Monaten hatte. Schon in den Gesprächen zum Thema innerhalb der Redaktionssitzungen tauchten immer mehr Fragen und unterschiedliche Einschätzungen auf. Entsprechend spannend gestalteten sich die Arbeit und auch die Ergebnisse.

Selbstverständlich bleiben viele Fragen offen oder können nur mit der Glaskugel beantwortet werden. Schön zu sehen ist, dass es anscheinend keine „Kopf in den Sand“-Mentalität innerhalb der Szene gibt und auch ein gewisses Maß an Solidarität mit kleineren Veranstaltungen. Klar ist, die zwei Jahre Pandemie werden ihre Spuren in der Live-Kultur hinterlassen. Doch es ist beruhigend zu wissen, dass seitens der Veranstalter zumindest versucht werden wird, ein gewisses Preis-Leistungsverhältnis zu wahren.

Die Aussage von Jarne vom PSOA ist hierbei das für mich zentrale Zitat aller Interviews, denn wenn Kultur zum Luxusgut wird, ist diese Gesellschaft verloren. Sie ist, nicht nur im Metal, ein signifikanter Faktor für ein gutes Zusammenleben und wird dringend benötigt werden, um entstandene Risse innerhalb der Gesellschaft zu kitten – hierzu empfehle ich einen Blick in das Interview mit Buddy vom Rockharz, der diesen Punkt sehr richtig beschreibt.

Die Ergebnisse geben Hoffnung für die Zukunft, wenngleich ich kurzfristig skeptisch bleibe. Der Eindruck, dass die Branche alles tut und doch häufig von den entscheidenden Stellen (Politik, Behörden) hängen gelassen wird, lässt sich für mich nicht widerlegen. Es wird entscheidend sein, die Kultur in diesem Land auch abseits von Sportereignissen zu fördern und gesunden zu lassen.

Ein Punkt, den ich noch hinzufügen möchte und der in diesem Rahmen leider etwas zu kurz kam: Wichtig werden auch die ganzen Mitarbeiter und kleinen Firmen sein, die ein Event begleiten und eher im Hintergrund zu finden sind: Ton- und Lichttechniker, Bühnencrews, Securities, Caterer, Backliner und Co. Hier sollte künftig genau hingeschaut werden, um nicht zu riskieren, dass die Branche schlussendlich durch Personalmangel zurückgehalten wird.

28.08.2021
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