Live-Kultur der Zukunft:
Back to normal oder alles anders?
Special
Einleitung
Es ist eine Frage, die kaum gestellt wird, aber drängelnd im Hinterkopf unserer Redaktionsmitglieder herumgeistert. Kann die Live-Kultur tatsächlich auf den Stand von vor der Pandemie zurückkehren oder werden sich die Auswirkungen noch über Jahre in unserem Club-, Konzert-, und Festivalalltag bemerkbar machen. Ist eine Rückkehr vielleicht gar unmöglich oder werden Eintrittspreise in astronomische Höhen steigen?
Noch herrscht die Mentalität vor, dass wir lediglich durchhalten müssen und unsere vielseitige Live-Kultur irgendwann wie gewohnt genießen können. Doch ist das wirklich realistisch, gemessen an dem nicht zuletzt finanziellen Schaden, den die Pandemie in den vergangenen Jahren angerichtet hat? Ist es psychologisch denkbar, dass wir uns mit 1.000 und mehr Feierwütigen in einer engen Halle drängeln und schon fast kuschelnd mit Wildfremden am Tresen stehen und auf unser Kaltgetränk warten? Alles Fragen, die wir erarbeitet und an diejenigen weitergegeben haben, die hoffentlich etwas Licht ins Dunkel bringen können.
Zu diesem Zweck haben wir in einem großen redaktionellen Projekt Themengebiete und Fragen erarbeitet und diese an Clubbetreiber, Veranstalter, Politiker und Wissenschaftler gesendet. Das Ergebnis lest ihr hier und in all den Interviews, die rund um diesen Artikel erscheinen. Lediglich von wissenschaftlicher Seite hagelte es Absagen. So ließ uns unter anderem das Robert Koch Institut wissen, dass seine Beschäftigten sich „(…) aus Neutralitätsgründen und Kapazitätsgründen“ nicht äußern würden. An anderer Stelle fehlten schlicht die zeitlichen Ressourcen, was wir selbstverständlich respektieren.
Text: Alexander Santel, Dominik Rothe, Jan Wischkowski, Jeanette Grönecke-Preuss, Jürgen Fenske, Marc Thorbrügge, Philipp Gravenhorst
Grafik: Alex Klug
Inhaltsverzeichnis:
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- Das Festivaljahr 2021
- Kehrt der Festivalsommer 2022 zurück?
- Clubs und Bars – Quo Vadis oder Back To Normal?
- Wie hat die Pandemie die Psyche in Bezug auf Live-Events verändert?
- Was wird getan, damit sich Besucher wohlfühlen?
- Wie sieht die Zukunft aus?
- Interview-Verzeichnis
Das Festivaljahr 2021
2021 soll sie kommen, die große Rückkehr der Konzerte. Clubshows, Stadionshows, Festivals – Nach einem Jahr Pandemie soll alles wieder annähernd so sein wie früher. Doch das Virus macht Veranstaltern wie Fans ein weiteres Mal einen Strich durch die Rechnung. Am 10. März werden die Zwillingsfestivals Rock am Ring und Rock im Park abgesagt. Die restliche Festivallandschaft folgt in den Monaten danach. Selbst schlüssige Hygienekonzepte verhindern das nicht.
Ein weiteres Mal also sehen sich Musikliebende einem Jahr gegenüber, das ohne ausgeladenes Feiern, Arm in Arm zu den Lieblingssongs, auskommen muss. Oder etwa nicht? Trotz der schier aussichtslosen Situation für die Event- und Veranstaltungsbranche in Deutschland offenbaren sich nach der großen Absagewelle einige Hoffnungsschimmer.
Eine Riege von Kämpfern
Im Juli beginnen Diskussionen darüber, die Corona-Maßnahmen ab August bundesweit aufzuheben. Zuvor schon wird für September die mögliche Durchführung von Konzerten in einigen Bundesländern in den Raum gestellt. Da lassen viele Veranstalter nicht lange auf sich warten. „Wir sind allesamt Kämpfer und sehen, dass die Eventbranche größtenteils aus Kämpfern besteht“, sagt Jarne Brauns aus dem Team des Party.San Open Airs.
Wie schon im vergangenen Jahr organisieren sie 2021 eine Herbstoffensive mit internationalem Line-up, um für den Ausfall des Festivals zu entschädigen. Die Wacken-Veranstalter gehen mit ihrem Bullhead City Festival einen ähnlichen Weg. Weiterhin sorgen Abstandskonzerte, wie sie aus 2020 bekannt sind, dafür, dass Bands zumindest in kleinem Rahmen wieder regelmäßig auf die Bühnen dürfen.
Schimmer der Hoffnung am Horizont
In den Nachbarländern Deutschlands sieht es ähnlich aus. In Österreich bekommt das Area 53 Festival Anfang Juni grünes Licht für die Austragung Mitte Juli und geht nachweislich ohne Corona-Infektionen über die Bühne. Das belgische Alcatraz Festival vereint im August eine internationales Line-up mit Tausenden von Metal-Fans. Gleichsam soll ursprünglich das Dynamo Metal Fest in den Niederlanden im selben Monat stattfinden, wobei die Verschärfung der Corona-Lage im Land zwischenzeitlich Zweifel aufkommen lässt. Anfang August ziehen die Veranstalter aus diese Grund die Reißleine. Tickets bleiben, wie so oft in diesen Tagen, für das nächste Jahr gültig.
Parallel zur Dynamo-Absage kündigt das Resurrection Fest in Spanien weitere Bands für Ende August 2021 an. An anderen Orten geht es sogar noch optmistischer zur Sache. Die USA treiben ihre Öffnungen so weit, dass ein nahezu normaler Tour-Alltag wieder möglich ist. Impfvorreiter Israel macht reguläre Konzerte ebenfalls möglich. Und in Großbritannien spielen Architects in voll ausgelasteten Locations ohne Maske und Sicherheitsabstand. Obwohl Großveranstaltungen mit 10.000 Menschen und mehr weiterhin als hohes Risiko gelten und aktuell nur selten stattfinden dürfen, gibt es also Hoffnungsschimmer, dass es in Zukunft wieder aufwärts geht mit der Konzert- und Festivallandschaft.
Kehrt der Festivalsommer 2022 zurück?
Noch im vergangenen Jahr gingen wir alle davon aus, dass die Pandemie 2021 besiegt sei. Ein Trugschluss, wie sich später zeigt und doch sind die Veranstalter der großen und mittelgroßen Festivals hierzulande optimistisch, was die Zukunft angeht. Klare Aussagen wie von der Kämpfermentalität des Party.San-Teams werden weniger drastisch, aber dennoch überzeugend auch von anderer Stelle geäußert. So lässt uns Achim Ostertag von den Summer-Breeze-Veranstaltern Silverdust wissen: „JA! Daran werden wir weiterhin arbeiten und nicht locker lassen, wenn es darum geht den Diskurs und die Kooperation mit Politik und Behörden zu suchen.“ Ans Aufgeben ist also nicht zu denken.
Ob wir allerdings ohne Hygienekonzepte unbeschwert feiern können, wird sich noch zeigen müssen. Da sind sich vorerst alle Veranstalter einig. Eine Einschränkung, die den Optimismus Richtung „back to normal“ etwas bremst. Denn ein Hygienekonzept und entsprechende Maßnahmen bedeuten gleichzeitig steigende Kosten für die Infrakstruktur von Events. Dazu kommt, dass Festivals wie das Rockharz ohnehin seit Jahren einer nach oben steigenden Preisspirale ausgesetzt sind: „Wir werden eher im Produktions- und Personalbereich Kostensprünge erleben. Einiges steht ja bereits fest, wie Tariferhöhungen, sprich auch steigende Mindestlöhne. Da steigt ja alles mit. Dann Energiepreiserhöhungen und so weiter.“ Sollte die Pandemie also tatsächlich unter Kontrolle oder gar besiegt sein, lauern auch ohne Kaffeesatzleserei Kosten, die irgendwie aufgefangen werden müssen.
Werden Open-Air-Events zum Luxus?
„Wenn Kultur zum Luxusgut wird, sollten wir uns von der Gesellschaft, wie wir sie jetzt noch kennen, verabschieden.“ (Jarne Brauns, Party.San)
Es ist eine der zentralen Fragen, die sich bei aufdrängt: „Wer soll das eigentlich alles bezahlen?“. Es stimmt, dass sich die Ticketpreise schon seit Jahren merklich erhöhen. Doch kommt es zu einer Preisexplosion? Bei den Veranstaltern ist man zumindest bemüht, ein faires Angebot zu schaffen, das es allen möglich macht, Festivals zu besuchen. Eine verbindliche Aussage lässt sich aber freilich nicht treffen, da niemand die finanziellen Auswirkungen heute schon wirklich absehen kann. Wer zum Beispiel in diesem Jahr das vom Wacken Open Air veranstalte Bullhead City besuchen möchte, sieht sich mit Service-Gebühren von über 50 Euro konfrontiert, die im Ticketpreis von 250 Euro für drei Tage eingerechnet sind. Ein Preis, der für viele jüngere Festivalteilnehmer kaum tragbar sein dürfte – insbesondere, weil das Camping mit weiteren 99 Euro zusätzlich ins Gewicht fällt.
Dennoch kein Grund zur Sorge, meinen die von uns befragten Veranstalter. Das Summer Breeze fährt ohnehin schon seit Jahren eine Strategie der Angebotsvielfalt, die den unterschiedlichen Besuchergruppen gerecht werden soll. Die Prämisse dabei bleibt: „Wer möchte, darf sich gerne mit Zusatzangeboten eindecken. Aber der Besuch unseres Festivals soll allen Menschen möglich sein.“ Etwas pragmatischer sieht es das Rockharz Open Air, das auf die Selbstregulierung des Marktes zählt: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Konzerte so exklusiv werden, dass der Rockstar nur noch vor einer handvoll Superreicher spielen möchte. Bands lieben es, vor vielen Menschen zu spielen.“ Und hierin liegt vielleicht die Hoffnung für die Zukunft . Ob dies aber in den kommenden zwei bis drei Jahren der Fall ist oder sich der Einzelne eventuell maximal eines der größeren Events im Jahr leisten kann, bleibt abzuwarten.
Eine Chance für den Underground?
Es gibt zahlreiche Faktoren, die die Livebranche künftig beeinflussen. Ob kurz-, mittel- oder langfristig. Die Festivals werden sich neuen Herausforderung stellen müssen, was aber auch Chancen bietet. So zeigte sich schon 2020 und auch in diesem Jahr, dass kleinere Events auch in Pandemiezeiten durchführbar sind. Das Wolfzeit Festival und das Fimbul Festival seien hier als einheimische genannt, die vergangenes und dieses Jahr an den Start gehen konnten.
Dabei zeigt sich, dass verstärkt kleinere Bands die Chance haben, sich auf einer großen Bühne zu zeigen. Selbst wenn sich die Pandemiesituation hierzulande entspannt, kann der Reiseverkehr abhängig von regionalen Ausschlägen weiter beeinträchtigt sein. Mit sowohl positiven als auch negativen Einflüssen auf die Gestaltung der Billings – auch bei Großevents. Zwar nicht langfristig, aber doch zumindest kurzfristig könnten sich neue Türen für talentierte junge Bands öffnen.
Davon abgesehen bleiben sich alle Veranstalter einig, dass Großevents eine Zukunft haben und wir hoffentlich bald wieder auf den hiesigen Äckern zum Feiern antreten – in welchem Maße, bleibt abzuwarten. Obwohl finanzielle Hilfeleistungen anscheinend bei den Großen der Branche ankommen, fehlt es anderer Stelle. So geht man nicht nur beim Rockharz Open Air von einem Fachkräftemangel als Folge der Krise aus, da sich viele Branchentätige beruflich umorientieren. Ein „back to normal“ scheint am fernen Horizont möglich. Doch die Pandemie hinterlässt wohl ihre Spuren.
Clubs und Bars – Quo Vadis oder Back To Normal?
Quo Vadis Clubs und Bars? Ist die Frage überhaupt neu? Bereits vor der Pandemie setzte das Clubsterben ein. In den 80ern lösten die großen Diskotheken mit vielen bunten Lichtern die kleinen Musikclubs ab. Großraumdiskotheken wuchsen wie Pilze an den Stadträndern, sodass auch Menschen aus dem Umland mit dem PKW einfach und ohne Parkplatzsuche in die große Disco kommen konnten. So werden die Einzugsgebiete immer weiter vergrößert und das Angebot in der Provinz zurückgedrängt beziehungsweise eliminiert.
Verdrängungswettbewerb ist seit Jahrzehnten vorhanden
Der Trend setzte sich nach der Jahrtausendwende fort. In Städten mit mehr als 100.000 Einwohnern konzentriert sich das Leben meist auf zwei oder drei Läden. Ansonsten geht es in die nächste Metropole, wo die favorisierten Musiker ihre Livekonzerte spielen. In den Millionenstädten folgt eine Gentrifizierung. Neue schicke Eigentumswohnungen entstehen dort, wo zuvor ein Jugendzentrum, ein Club oder eine Diskothek standen. Die Preise für die Grundstücke schießen in die Höhe und alle Verträge laufen irgendwann einmal aus. Ein Beispiel dafür ist die bundesweit bekannte Rockfabrik in Ludwigsburg, welche zur Jahreswende 2019/2020 die Tür für immer schließen musste. Wo sich über mehr als 35 Jahre Menschen traffen, um zu feiern und Livemusik zu erleben, entsteht nun ein weiterer Bürokomplex.
Nischenbildung verstärkt sich
In den großen Metropolen überleben die Clubs und bringen ihre Gigs als Cashcow auf den Markt. Abseits von den großen Metropolen entstehen Nischen. Underground-Shows im Punk, Rock oder Metal lassen sich in fast jeder größeren Stadt finden, wenn interessierte Menschen aktiv danach suchen und sich nicht nur von bunter Werbung leiten lassen. Eigeninitiative heißt nicht nur das Zauberwort für junge Musiker.
Neue Möglichkeiten eröffnen sich zunehmend, um Treffpunkte für Subkulturen zu etablieren. Punk ist in der Regel etwas kreativer und weniger aufwendig als Metal und könnte eine Art Vorreiterrolle übernehmen. Nichtsdestotrotz wird auch Metal mit seinen Subgenres neue Gesichter hervorbringen. Wer nicht nur den großen Schlagzeilen und angepriesenen Bands folgt, findet seine Konzerte und kann für ein geringes Entgelt gute Livemusik erleben.
Wie hat die Pandemie die Psyche in Bezug auf Live-Events verändert?
Die Krise hinterlässt Spuren. Nicht nur bei den Fans, die sich danach sehnen, alte Bekannte wieder zu sehen, gemeinsam zu feiern und das besondere Live-Feeling von Musik wieder genießen zu können, sondern auch bei Veranstaltern, Mitarbeitern und Bands. Die Frage „Wieso mache ich das hier eigentlich?“ stellt sich Leuten wie Thorsten „Buddy“ Kohlrausch vom RockHarz durchaus. Ebenso natürlich bei Veranstaltern kleiner Clubkonzerte, die alles auf ehrenamtlicher Basis organisieren. Kohlrausch ist überzeugt, dass das Liveerlebnis eine gute „Bekämpfung“ der mentalen und gesellschaftlichen Pandemiefolgen sein kann, findet sich auf Konzerten doch ein Querschnitt der Gesellschaft. Sie sind Begegnungsorte, bei denen konservative Erwachsene neben alternativen Jugendlichen zur selben Musik feiern.
Viele sind guten Mutes, dass demnächst zumindest eine gewisse Normalität wieder einkehrt und die Menschen sich auch wieder zu den Konzerten trauen. Sei es auf den Acker oder in den stickigen Club. Und auch der Tenor bei den meisten Befragten im Rahmen der Interviewserie ist positiv. Lorenz Deutsch (FDP) sieht ein Einpendeln zwischen einem erhöhten Sicherheitsbedürfnis der Menschen, das sich auch in anderen Bereichen wie dem Sport zeigt und voraussichtlich bleiben wird, und dem Verlangen, wieder Konzerte, Sport und andere Veranstaltungen gemeinsam erleben zu wollen.
Weg von der Gigantomie?
Dem Wirtschafts- und Eventpsychologen Steffen Ronft geht es auf kommunikativer Ebene darum, Unsicherheiten bei den Besuchern abzubauen. Wie komme ich zur Veranstaltung, wie ist die gesichert, was für einen Aufwand hat das für mich als Gast zur Folge? Das sind Fragen, die nach der langen Lockdownphase wahrscheinlich mit dem Wunsch nach mehr Autonomie und Bewegungsdrang kollidieren. Dafür sieht er insbesondere die Veranstalter in der Transparenz- und Kommunikationspflicht, damit Leute für sich selber gut Entscheidungen treffen können. Will ich unter diesen Umständen an der Veranstaltung teilnehmen oder nicht? Wie ist das Sicherheitskonzept aufgebaut? Gibt es Rückzugsorte? Da diese Bedürfnisse und Empfindungen bei Menschen allerdings völlig unterschiedlich ausgeprägt sind und man auch noch nicht sagen kann, wie sich die Auflagen entwickeln, sind generalisierte Aussagen dahingehend schwierig zu treffen.
Die digitalisierte Variante von Veranstaltungen kann aus Ronfts Sicht keinen völligen Ersatz für „echte“ Live-Momente darstellen. In einer Menschenmenge mit direktem Kontakt zu anderen spiegeln Menschen mit einer gemeinsame Leidenschaft ihre Emotionen gegenseitig und verstärken sie so. Das Live-Erlebnis kann virtuell also nur bedingt nachgebildet werden. Allerdings kommt es laut Ronft auch auf die Größe der Veranstaltung an. Ein Besucher einer kleinen Clubshow oder eines mittelgroßen Festivals in der ersten Reihe mit Blick auf den Künstler ist emotional intensiver involviert als ein Stehplatz-Besucher am Ende der Halle oder des Stadions oder des Feldes einer 100.000-Mann-Show. Hier liegt eine bleibende Chance für Streaming-Angebote, ebenso wie für einen Trend weg von Gigantomanie-Festivals generell: Für den Einzelnen macht es keinen Unterschied, ob um ihn herum 10.000 oder 100.000 Menschen stehen. Das Massenerlebnis ist für ihn gleich.
Was wird getan, damit sich Besucher wohlfühlen?
Damit wir wieder frei tanzen, frei die Haare drehen und uns Körper an Körper stehend in einem Moshpit wühlen können ohne uns Gedanken zu machen, müssen wir noch einen gewissen Weg auf uns nehmen. Hierbei spielt neben den Vorgaben der jeweils zuständigen Behörden vor allem das eigene Wohlbefinden in der Live-Situation eine Rolle. Sicher würden die meisten Befragten aktuell sofort aufschreien und verlauten lassen, wie sehr er oder sie es vermisst, in einem Club so sehr abzufeiern, bis das Wasser von der Decke tropft. Aber wie wird es dann wirklich sein? Dichtgedrängt aneinander. Können wir dann einfach so wieder umschalten?
Feiern ohne Angst möglich?
Clubbetreiber und Veranstalter sind sich der Problematik bewusst und versuchen auch über die behördlichen Auflagen hinaus zu reagieren beziehungsweise zu agieren. Denn vielerorts gibt es keinen richtigen oder DEN einen Plan, wie es zu laufen hat. Verwirrung macht sich breit, und wo Verwirrung herrscht, wird dem sorglosen Feiern und Genießen gleichzeitig ein Bein gestellt. Neben Einschränkungen, wie den Zugang nur Geimpften, Genesenen, Getesteten zu gewähren, versuchen viele Betreiber über den Tellerrand zu schauen, planen Einlässe nur mit geringerer Besucherzahl, investieren in Belüftungssysteme oder Raum-Umgestaltungen, um Engpässe und Staus vor Toiletten oder dem Theken zu verhindern. Rückzugsorte innerhalb der Locations müssen geschaffen werden, eine Entzerrung beim Ein-und Ausgang muss erfolgen, dessen sind sich die Betreiber nicht erst durch behördliche Hygienekonzepte bewusst. „Unabhängig von den Grundregeln kommt es stark auf die Location an, wie man das lebt und umsetzen kann. Sprich: Du musst spezifisch auf deine baulichen Möglichkeiten passend noch ein Individualkonzept haben“, so Chris vom „Don’t Panic“ in Essen.
Der Fokus liegt auf dem Besucher
Die Pandemie hat der Branche gezeigt, dass es nicht ausreicht, sich alleine auf die Behörden und die Politik zu verlassen, wenn es darum geht, den Stein wieder ins Rollen zu bringen. Überall wird genau geprüft und durchdacht, was der kleine Club um die Ecke tun kann, um ein Feiern wieder sorgenfrei möglich zumachen. Dass auch hier selbst die ausgefeiltesten und strukturiertesten Pläne dennoch nicht ausreichen können, zeigt das Beispiel SUMMER BREEZE aus diesem Jahr. Denn wenn selbst auf legislativer Ebene Unsicherheit herrscht, wird das Eis am Ende des Tages dünn. Zumal die Vorgaben meistens nicht der aktuellen Inzidenzsituation entsprechen und eine Anpassung oder Angabe von tagesaktuellen Informationen nur schleppend bis gar nicht erfolgt. Die Mühlen mahlen eben langsam. Mehr und mehr Veranstalter versuchen deshalb, die Sache unabhängig oder in Zusammenarbeit mit den Behörden und eigens erschaffenen Verbänden selbst in die Hand zu nehmen. „Wir sind immer noch auf der Suche nach der besten Lösung. Sowohl für die Gäste, als auch für uns“, meint Pasqual vom SO36 in Berlin.
Vorsichtig wird sich vorgetastet. Auch wenn das Eis dünn ist, auf dem sich bewegt wird, liegt das Wohl des Besuchers hier allen am Herzen. Denn auch dem kleinsten Club ist klar: Ein Überleben und Weitermachen geht nur, wenn sich alle wohlfühlen.
Wie sieht die Zukunft aus?
Obwohl alle Festivalveranstalter unter unseren Interview-Partnern für nächstes Jahr reguläre Ausgaben ankündigen, wollen viele von ihnen keinen Ausblick in die Zukunft wagen. Angesichts des sich wöchentlich ändernden Pandemiegeschehens ist das durchaus verständlich. Wagt man einen Blick vor die Haustür und in die Welt, dann stimmt dieser wenig optimistisch. Länder wie Großbritannien und Israel, die mit ihren Impfkampagnen große Fortschritte erzielt haben, kämpfen wieder mit hohen Inzidenzen und bleiben dennoch trotzig weitestgehen geöffnet. Dazu kommen einzelne Rückschläge für die Branche. In den Niederlanden wurde ein Festival zum Superspreader-Event und in Deutschland mehren sich die Ausbrüche in Diskotheken. Gleichzeitig wecken aktuellere Experimente Hoffnung. Aufgrund dieser höchst wandelbaren Lage können und wollen sich die Betreiber nicht auf eine Rückkehr zur Normalität im nächsten Jahr festnageln lassen.
Und auch 2023 soll die Pandemie noch nicht durch sein. „Quarantäne-Regelungen und verschärfte Einreisebestimmungen werden noch die nächsten zwei Jahre wichtig sein. Da können wir wahrscheinlich nur auf europäische Künstler zurückgreifen,“ glaubt etwa Thomas Tegelhütter vom Headbangers Open Air. Chris vom Essener Club Don’t Panic geht einen Schritt weiter und prognostiziert gleich einen langfristigen Trend: „Du wirst nicht einfach heute in Wacken und übermorgen am Strand von Rio De Janeiro spielen können und dich nur noch mit Logistik und Visa bei deiner Planung beschäftigen können. Ein Großteil der Abläufe wird die gesundheitliche Komponente und länderspezifische Vorgaben und Gesetze berücksichtigen müssen. Deshalb werden Konzerte mit einheimischen Bands in den nächsten Monaten das große Ding sein. Das bringt neue Chancen für viele bislang eher vernachlässigte einheimische Acts, sorgt aber leider für eine geringere Vielfalt.“
Normalität bleibt unwahrscheinlich
Durch den Stillstand muss die Veranstaltungswirtschaft sich zudem womöglich neue Strukturen schaffen. Professor Jens Michow vom Bundesverband der Konzert- und Veranstaltungswirtschaft beobachtet: „Es ist für viele unsicher geworden. Wer da die Chance hat, in benachbarten Branchen in einer Festanstellung tätig zu werden, wird womöglich nicht mehr zurückkommen. Es sind ja Experten, die uns hier verlorengehen. Es geht um Bühnenaufbau, aber auch um Ton und Licht und alles, was drumherum passiert. Wenn die Leute, die bei Wacken maßgeblich am Bühnenaufbau und an der Eingrenzung des Geländes mitgearbeitet haben, plötzlich abwandern, dann kann man sie nicht von heute auf morgen ersetzen.“ Diese Ungewissheit in ihren unterschiedlichen Ausprägungen auf ganz verschiedenen Ebenen lässt zusammengenommen eine Rückkehr zur alten Normalität vorerst unwahrscheinlich erscheinen.
Interviewverzeichnis:
Interview mit Achim Ostertag, Summer Breeze Open Air
Interview mit Thorsten „Buddy“ Kohlrausch, Rockharz Open Air
Interview mit Mario Flicke und Jarne Brauns vom Party.San Open Air
Interview mit Thomas Tegelhütter, Headbangers Open Air
Interview mit Schnalli, Bastard Club, Osnabrück
Interview mit Pasqual vom SO36, Berlin
Interview mit Max vom Colos-Saal, Aschaffenburg
Interview mit Chris, Don´t Panic, Essen
Interview mit Camilo, Cassiopeia, Berlin
Interview mit Andreas Reissnauer – Metal Blade
Interview mit Michaela Baumann-Härtel, Pure Steel
Interview mit Lorenz Deutsch (FDP), Sprecher im Ausschuss für Kultur und Medien NRW
Interview mit Prof. Jens Michow vom Bundesverband der Konzert- und Veranstaltungswirtschaft
- Interview mit dem Eventpsychologen Steffen Ronft