Avantasia
Listening-Session zum neuen Album "The Mystery Of Time"

Special

Avantasia

Mit der Zeit ist das so eine Sache – mal vergeht sie wie im Flug, mal zieht sie sich wie Kaugummi in die Länge. Wahrlich mysteriös! Grund genug also, diesem Phänomen auf den Grund zu gehen. Die Spurensuche startet an einem Samstag Ende Januar im winterlichen Donzdorf auf der schwäbischen Alb. Denn hier lässt EDGUY-Frontmann Tobias Sammet heute zum ersten Mal die neue Scheibe seines AVANTASIA-Projekts auf einen ausgewählten Teil der Menschheit los. Und diese hört auf den vielversprechenden Titel „The Mystery Of Time“.

Dem Wettergott steht in dieser Nacht freilich nach anderem der Sinn und ruft mir unweigerlich eine thüringische Black-Metal-Band ins Gedächtnis. Doch nicht die BPjM-Stammkunden EISREGEN sorgen dafür, dass ich in den frühen Morgenstunden beinahe im Schritttempo über die Schnellstraße nach Hause schleiche, sondern das meteorologische Phänomen, nach dem sie sich benannt haben. Und während ich quälend langsam Kilometer um Kilometer hinter mich bringe, zeigt sich erneut, was für ein merkwürdiges Gebilde die Zeit doch ist. Das lange Warten auf die langersehnte Audienz bei König Tobi verging wie im Fluge, der Nachhauseweg dauert nun hingegen eine Ewigkeit. Doch warum fange ich eigentlich mit dieser Geschichte an ihrem Ende an?

Zeitsprung – fünfzehn Stunden zuvor. Das Outfit von Tobi Sammet hat wenig königliches an sich, unterstreicht aber umso deutlicher seinen Rockstar-Status. Doch wie gewohnt verzichtet er auf die zugehörigen Allüren, als er vor die versammelte Journalisten-Meute tritt und sein jüngstes Werk ankündigt. „Very organic“ sei es geworden, das Mastering eigentlich fertig, aber gegebenenfalls wird hier doch noch etwas Feintuning betrieben werden. Sei’s drum, schon die ersten Klänge zeigen, dass Beschwerden am Sound der Scheibe vollkommen fehl am Platz sind. Angenehm klar und differenziert kann man hier jedes der zahlreichen Details heraushören, um sie aber alle angemessen würdigen zu können, wird es noch einiger weiterer Durchläufe bedürfen. Mehr als ein allgemeiner Ersteindruck ist heute einfach nicht drin.

Los geht es mit einem echten Kracher. „Spectres“ setzt gleich mal ein fettes Ausrufezeichen und startet nach einem orchestralen Intro mit leichten Synthie-Grusel-Sounds richtig durch. Ständig wechseln sich reduzierte Klavier/Gesang-Passagen mit der vollen Orchester-Breitseite ab. Und auch wenn man mit den Orchester-Parts auf früheren AVANTASIA-Alben absolut zufrieden sein konnte, fällt einem hier auf Anhieb eine extreme Steigerung auf. Ja, das Orchester ist diesmal wirklich echt und wurde in Potsdam vom Deutschen Filmorchester Babelsberg unter Leitung von Günter Joseck eingespielt. Ein nicht unbeträchtlicher finanzieller Mehraufwand, der sich aber auf alle Fälle gelohnt hat, wie auch Tobi Sammet viele Stunden später im Interview erleichtert feststellt. „Wenn man nachher halt keinen Unterschied hört, haben wir einfach riesig viel Geld in den Wind geschossen. Aber ich habe mir gesagt, ich weiß dann, dass es ein echtes Orchester ist, also machen wir das.“

Für den zweiten Song, der auf den Namen „The Watchmakers‘ Dream“ hört, hat sich Sammet die Hilfe des zweiten großen Masterminds der modernen Rockoper gesichert. Dabei ergab sich die Mitarbeit von Arjen Lucassen relativ spontan: „Der Song stand schon, als Arjen gesagt hat: ‚Übrigens, ich schulde dir ja noch einen Gefallen, jetzt würde ich ein Solo für dich spielen.'“ Doch auch wenn dem Holländer das Stück nicht auf den Leib geschneidert wurde, erinnert es doch mit seinen Harmonien und warmen Hammond-Sounds und dem hymnischen Refrain unweigerlich an AYREON, das unverkennbare Gitarrensolo setzt dem lediglich die Krone auf. Schade ist nur, dass Tobi Sammet offenbar kein passender Schluss eingefallen ist und der Song mit einem unschönen Fade-Out endet.

Nachdem sich Sammet bei den ersten beiden Stücken den Gesang mit Joe Lynn Turner teilte, lässt bei „Black Orchid“ Biff Byford (SAXON) aufhorchen. Das Stück kommt vergleichsweise schwer und düster daher und mutet beinahe sakral an. Im Refrain öffnet es sich etwas und wird dadurch zu einem großartigen, perfekt umgesetzten AVANTASIA-Stück, das aber durch das Nichtvorhandensein besonderer Merkmale, Ecken oder Kanten über vergleichsweise geringen Wiedererkennungswert verfügt. Dagegen geht „Where Clock Hands Freeze“ merklich zurück zu den Anfängen von AVANTASIA. Da ist natürlich auch Michael Kiske nicht weit, mit dem Sammet seit dem ersten „Metal Opera“-Album zusammenarbeitet. Die Fans dürfen sich auf eine amtliche Portion Retro-Feeling freuen: „Michi Kiske hat mir gesagt, dass das Power-Metal-Songs sind, die er gesungen hat. Da hab ich gesagt: ‚Ok, gut, cool! Das wird die Leute freuen.'“ Die Gute-Laune-Nummer profitiert zudem von einem saucoolen Solo-Duell zwischen Produzent Sascha Paeth und Oliver Hartmann an den Gitarren.

Wem das 2007 als Single ausgekoppelte „Lost In Space“ bereits zu poppig war, der sollte bei „Sleepwalking“ ganz schnell die Skip-Taste drücken. Das Stücke ist eine echte Pop-Ballade, deren erste Strophe nicht allzu weit von einem Céline-Dion-Stück entfernt ist, zumal Cloudy Yang hier die einzige weibliche Leadgesangsstimme übernimmt. Das riecht doch nach einem empörten Aufschrei der Fan-Gemeinde, oder, Herr Sammet? „Ich habe mir gesagt, das ist scheißegal, wenn man dran glaubt, muss man es einfach machen. Der Song passt auch in dieses Konzept und er bringt eine neue Facette rein.“ So genial wie das erwähnte „Lost In Space“ finde ich „Sleepwalking“ beim ersten Hördurchgang zwar bei weitem nicht, aber ein „Chapeau!“ für den wenig konfliktscheuen Überzeugungstäter ist hier dennoch angebracht. Und immerhin nimmt das Stück ab dem ersten Refrain auch etwas mehr an Fahrt auf und gewinnt durch das Wegfallen des anfänglichen Electro-Beats enorm an Eiern.

Halbzeit – wie ist der Zwischenstand? Sicherlich, richtig große Überraschungen hat man noch nicht gehört, dafür sind die Songs aber allesamt perfekt umgesetzt und transportieren das AVANTASIA-Grundkonzept wahrhaft vorzüglich. Schon jetzt ist eigentlich klar, dass „The Mystery Of Time“ ein absoluter Hit werden wird, mit dem Tobi Sammet alle seine Fans hundertprozentig glücklich machen wird. Von einem kalkulierten Erfolg will der Kreativkopf jedoch nichts wissen: „Ich bin da irgendwie so ein bisschen altmodisch und denke, wenn du das machst, worauf die Bock hast – und nur das, ohne nach links und rechts zu sehen, ohne auf die Plattenfirma zu hören, ohne auf diesen und jenen zu hören – dann bist du immer richtig. Und wenn du dann damit Erfolg haben sollst, dann kommt der Erfolg damit.“ Recht so! Und dabei steht uns die gefühlt stärkere Hälfte der Scheibe noch bevor…

Der erste Longtrack steht an – „Savior In The Clockwork“ lässt sich folgerichtig viel Zeit beim Songaufbau. Ein gemächliches Intro spannt den Bogen, der sich über mehr als zehn Minuten hinweg als tragfähig erweist. Nach einem anfänglich recht flotten Gute-Laune-Teil wird es zur Mitte hin getragener und wunderbar atmosphärisch. Auf eine genial-groovige Solo-Passage folgen ein Break und ein sphärisch anmutender Gesangspart. Zum Schluss hin geht es nochmals zurück zur Gute-Laune-Hymne, insgesamt ist es aber vor allem die Vielseitigkeit, die dieses Stück so spannend macht. Kein Wunder also, dass mit Joe Lynn Turner, Biff Byford, Michael Kiske und Tobi Sammet alle vier bisher präsentierten Sänger beteiligt sind.

Mit Ronnie Atkins (PRETTY MAIDS) kommt nun ein weiterer Frontmann hinzu und darf mit „Invoke The Machine“ eines der absoluten Album-Highlights veredeln. Der Up-Tempo-Song ist heavy, aggressiv und angenehm rotzig. Mit fast schon frickeligen Gitarren-Parts wirkt das Stück im ersten Moment etwas sperrig, bleibt aber gerade deshalb extrem gut im Ohr hängen und avanciert rasch zum Publikumsliebling unter den versammelten Pressevertretern. Da kann die AOR-artige Stadionrock-Ballade „What’s Left Of Me“ bei aller Klasse nicht ganz mithalten. Die im Vordergrund stehende Gesangsleistung von Eric Martin (MR. BIG) geht aber definitiv trotzdem unter die Haut.

Mit „Dweller In A Dream“ gibt es noch einmal einen Michael-Kiske-Power-Metal-Song. Flott und treibend meint man hier zunächst gewohnte AVANTASIA-Kost vor sich zu haben. Achtet man aber genauer auf die Details, findet man viele frische Elemente wieder, die man so noch nicht kannte. Und während wir uns nun auf das Ende des Albums zubewegen, wird es doch auch langsam höchste Zeit (höhö), uns von Tobi Sammet einmal einen Einblick in die Konzeptgeschichte geben zu lassen: „Die Geschichte spielt im viktorianischen England, ist so ein bisschen ein Märchen, vielleicht auch ein bisschen eine Kriminalstory. Es handelt von einem jungen, agnostischen Wissenschaftler, der registriert, dass um ihn herum die Leute immer weniger Zeit haben, sich mit essenziellen Dingen im Leben auseinanderzusetzen. Dieser Sache möchte er auf den Grund gehen und auf diesem Weg kommt er immer mehr in die Denke rein, dass er eine Nichtexistenz eines göttlichen Wesens oder Wirkens ausschließen muss, was ihn ja nicht mehr zum Agnostiker im eigentlichen Sinne macht.“

Diese Geschichte gipfelt nun also in „The Great Mystery“, dem zweiten Longtrack, der zum Abschluss noch einmal die Zehn-Minuten-Marke knackt. Man könnte das Stück als die Quintessenz von AVANTASIA im Jahr 2013 betrachten, gleichzeitig werden aber auch Erinnerungen an QUEEN und MEAT LOAF wach. Das mag unter anderem an Bob Catley (MAGNUM) liegen, der mit seiner tiefen, warmen Stimme wieder einmal als Storyteller par excellence brilliert. Dazu gesellen sich üppige Chöre, während das Stück beständig zwischen nicht ganz kitschfreien Balladen-Parts und eruptiven Bombast-Momenten hin und her wechselt. Ein grandioses Song-Epos und ein würdiges Finale für eine starke Scheibe, die das Metal-Oper-Konzept von AVANTASIA zu bisher ungekannter Perfektion bringt.

Freilich reicht ein einziger Hördurchgang nicht für die realistische Einschätzung einer Scheibe, die nicht an Bombast geizt und den Zuhörer mit ihrer Pracht und Detailverliebtheit beinahe zu erschlagen droht. Das war bei den letzten AVANTASIA-Alben nicht anders, letztlich wirkt „The Mystery Of Time“ aber etwas runder und in sich geschlossener. Das bedeutet zwar, dass einige der Ecken und Kanten, die auf „The Wicked Symphony“ und „Angel Of Babylon“ für meine persönlichen Highlight-Momente sorgten, abgeschliffen sind. Gleichzeitig war Tobi Sammet aber wohl noch nie so nahe an der Perfektion wie mit seinem jüngsten Geniestreich. Wie die Scheibe also letztlich im Vergleich mit den Vorgängern abschneiden wird und ob sie langfristig begeistern kann, bleibt offen, dass uns mit „The Mystery Of Time“ aber ein Highlight des Jahres 2013 ins Haus steht, steht außer Frage.

Und während die ersten Eindrücke des Albums bei einem gemütlichen Bierchen mit den Kollegen zu sacken beginnen, heißt es warten. Warten, dass sich Tobi Sammet durch einen zwölfstündigen Interview-Marathon kämpft, unterbrochen nur von einer kurzen Essenspause. In geselliger Runde vergeht die Zeit erstaunlich schnell, dass aus dem auf 0:50 Uhr angesetzten finalen Interview-Termin letztlich 4:44 Uhr wird, kümmert da eigentlich wenig. Und schließlich ist es dann soweit, der König empfängt mich und lächelt mich – mit sichtbaren Ringen unter den Augen – freundlich an, obwohl ich ihm doch auch wieder nur dieselben Fragen stellen kann, die er den geschätzten Kollegen nun bereits die ganze Nacht hindurch geduldig beantwortet hat. „Das macht nichts, ich werde die liebend gerne ein letztes Mal beantworten – mit einer Inbrunst, das kannst du dir gar nicht vorstellen!“ Spricht’s, lacht und scheint tatsächlich seinen Spaß dabei zu haben, mir noch eine gute halbe Stunde lang Rede und Antwort zu stehen.

Halb sieben, eine halbe Stunde Autofahrt von Donzdorf entfernt. Beziehungsweise anderthalb Stunden, je nach Wetterlage. Erst scheitert das Auto, dann das Schuhwerk an der sanften Steigung vor dem Haus. Müde und abgekämpft erreiche ich schließlich doch noch irgendwie die Wohnungstür. Halb sieben? Wirklich? Es fühlt sich noch gar nicht so spät/früh an. Wo ist nur die Zeit geblieben? Ein wahres Mysterium…

06.02.2013
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