Tungsten - The Grand Inferno

Review

Dass TUNGSTEN mit ihren ersten drei Alben bislang nicht nur völlig unter meinem persönlichen Radar, sondern auch dem unseres kompletten Magazins geflogen sind, verwundert ein wenig. Denn letztlich bietet uns die Band doch eine jener „Stories“ auf die wir Journalisten stets so scharf sind, auf dem Präsentierteller: Nachdem Drummer Anders Johansson 2014 bei HAMMERFALL ausgestiegen war, gründete er TUNGSTEN 2016 mit seinen beiden Söhnen Nick und Karl an Gitarre und Bass. Es handelt sich also gewissermaßen um ein kleines Familienunternehmen, dem sich mit Sänger Mike Andersson ein alter Bekannter anschloss, der mit Anders Johansson bereits bei FULLFORCE und PLANET ALLIANCE zusammen spielte und darüber hinaus bei den Proggies CLOUDSCAPE aktiv war.

TUNGSTEN ignorieren diskoselig jedwede Genregrenze

Auf ihrem nun vorliegenden vierten Album „The Grand Inferno“ punkten TUNGSTEN mit einer enormen stilistischen Bandbreite. Von Anders Johanssons Zeit bei den eher biederen Echtmetallern HAMMERFALL ist hier nicht mehr viel zu spüren, auch wenn das Fundament der meisten Stücke noch immer im klassischen Power Metal fußt. Eine Vielzahl an progressiven Schlenkern und die omnipräsenten Industrial-Beats hüllen „The Grand Inferno“ hingegen in ein modernes, jedwede Genregrenze gekonnt ignorierendes Gewand.

An der extracleanen, teils etwas steril wirkenden Produktion mögen sich die Geister scheiden, der leicht distanziert-unterkühlte Sound passt indes hervorragend zur allgegenwärtigen Tanzbarkeit der Stücke. So werden auch simple Kinderlied-Melodien effektiv und kitschfrei in Szene gesetzt, wie nicht zuletzt die an das traditionelle „Hush, Little Baby“ angelehnte Schlaflied-Parodie „Lullaby“ eindrucksvoll bezeugt. So können TUNGSTEN ganz ungeniert als Krisengewinnler des zeitgeistigen Eurotrash-Revivals über die Tanzflächen dieser Welt schlendern, ohne sich ernsthaft die Hände mit kommerzverdächtigen Marktanbiederungen schmutzig machen zu müssen.

TUNGSTEN brechen lustvoll mit Songwriting-Konventionen

Wo sich TUNGSTEN über alle etablierten Genrekonventionen hinwegsetzen, fällt es umso schwerer, die Musik der Schweden einzuordnen. Frei von Berührungsängsten werden hier dermaßen viele verschiedene Einflüsse in den musikalischen Mixer geworfen und zu einem homogenen Gesamtprodukt vermengt, dass eisenharte Verfechter traditioneller Rocktugenden besonders stark sein müssen. Wer in dem wilden Genremix allerdings ein seelenloses Retortenprodukt vermutet, tut TUNGSTEN Unrecht. Die Band lebt ungehemmt lustvoll ihre Experimentierfreude aus und entwickelt dabei ein gleichermaßen poppiges wie vielschichtiges Songwriting, das hinreichend viele Konventionen bricht, um von nahezu jeder Seite Hass auf sich zu ziehen.

Nüchtern betrachtet lohnt sich derlei emotionaler Aufruhr natürlich nicht. Abseits des individuellen Geschmacks verstehen TUNGSTEN ihr Handwerk und haben vom treibenden „Vantablack“ mit seinen diskotauglichen Industrial-Beats bis hin zum pathetisch-schwülstigen Titeltrack oder dem zwischen 80er-Jahre-Hymne und basslastigem Techno-Groove-Monster changierenden „Chaos“ eine ganze Menge Ohrwürmer mit Hit-Potential im Gepäck. Da ist nicht alles kompositorisch zu Ende gedacht, von der ungezwungen authentischen Experimentierfreude, die auf „The Grand Inferno“ aus jeder Note trieft, könnte sich aber so manche etablierte Band eine dicke Scheibe abschneiden.

20.10.2024
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