Unter "Blast From The Past" erscheinen jeden Mittwoch Reviews zu Alben, die wir bislang nicht ausreichend gewürdigt haben. Hier gibt es alle bisher erschienenen Blast-From-The-Past-Reviews.
Im Jahre 1990 wurde in Kalifornien eine Band gegründet, die nachhaltig Einfluss auf die Rock-, Metal- und Prog-Welt haben würde und die durch surreale Musikvideos und nicht zuletzt auch aufgrund der zum Teil extrem ausgefallenen, bisweilen auch extrem teuren Aufmachungen ihrer physischen Releases von sich reden machen sollte. Zu der Zeit der Gründung jedoch war allen voran Letztgenanntes noch Zukunftsmusik. Und so kam deren Urbesetzung nach und nach auf vergleichsweise konventionellem Wege zustande, teilweise aus dem Umfeld anderer Bands stammend (u. a. GREEN JELLO/GREEN JELLŸ), teilweise auch, weil es Mitglieder aufgrund von Hollywood-Ambitionen dorthin zog. Zwei Jahre nach offizieller Gründung erschien deren Debüt-EP „Opiate“, gemeinhin als eines der heavieren Releases dieser Band betrachtet. Nur ein Jahr später hievte das Quartett das Full-Length-Debüt „Undertow“ in die Ladenregale. Die Rede ist natürlich von TOOL.
Bevor TOOL zur berauschenden Erfahrung für sämtliche Sinne wurden …
Sieht man mal von Maynard James Keenans markantem Stimmorgan ab, sind TOOL von 1993 eine ganz anders klingende Band gewesen als heute. Damals war noch kaum etwas von den Klangexperimenten zu spüren, die später auf Alben wie „Lateralus“ Wellen schlagen würden. Es ließ sich dadurch zu dem Zeitpunkt auch noch wunderbar darüber streiten, ob die Kalifornier überhaupt „Prog“ sind. Vielmehr ist „Undertow“ eine Platte, die wie ein archetypisches Rock-/Metal-Album der Frühneunziger klingt. Die Stimmung ist düster, der stark im Alternative geerdete Stil mit prägnant knorzendem Bass trägt ordentlich Schmutz mit sich und generell schreibt man der Grundstimmung der Songs Attribute wie Frustration zu, was deren Gemüt im Grunde ziemlich gut beschreibt. Zumindest aber das visuelle Element hat sich relativ zügig etablieren können, wozu auch die Zurschaustellung von etwas expliziterem Inhalt gehörte.
Dass die Band dabei beim damaligen Zeitgeist angeeckt ist, blieb nicht aus. Das Inlay der Erstpressung von „Undertow“ zierte diverse, als anstößig wahrgenommene Aufnahmen, darunter eine Kuh, die sich selbst in der Intimzone putzte, sowie Nacktaufnahmen einer übergewichtigen Frau. In der Folge weigerten sich eine ganze Reihe US-amerikanischer Einzelhandelsketten, das Album zu verkaufen, worauf die Band mit einer Neupressung unter folgender Nachricht reagierte:
It came to our attention recently that many stores across our fine and open minded nation would not stock Undertow because of our explicit artwork. Although we loathe being censored, we want your money we still want you to hear our music, so we took it out. However, it is available to you at no extra cost. Fill out the form, stick it in an envelope, mail it in, and we will send you the original artwork. Love, Tool
Aus heutiger Sicht ist das natürlich alles Kindergeburtstag und würde bei weitem nicht mehr so viel Aufmerksamkeit erregen, gerade in Anbetracht der Desensibilisierung der Gesellschaft gegenüber dem Thema Sex. Es war eben der Zeitgeist, gegen dessen Strich die Kalifornier kämmten und damit genau den richtigen Zeitpunkt erwischt haben.
… fingen sie mit „Undertow“ den quintessentiellen Sound der Neunziger ein
Auch musikalisch haben die Herren den Nerv der Zeit auf den Punkt genau getroffen. Wie erwähnt ist „Undertow“ ein Album, das den quintessentiellen Sound der Neunziger in sich birgt. Es ist im weiteren Sinne Alternative Metal mit Prog-Elementen, die anno 1993 zwar noch nicht gänzlich von experimenteller Ausprägung waren, aber schon Ansätze dessen gezeigt haben. Es gibt dennoch viele Cuts, die ziemlich direkt nach vorne rocken, aber ihre Faszination eben einfach durch diese düstere, frustriert klingende Stimmung ausüben. Das eröffnende „Intolerance“ ist beispielsweise ein exzellentes Beispiel dafür. Entsprechend ist der Trip-Faktor noch nicht gegeben und mehrfach in sich verschlungene Rhythmen sucht man noch vergeblich. Es gibt aber reichlich krumme, oder sagen wir mal besser: unregelmäßige Takte auf „Undertow“, beispielsweise in „Swamp Song“, das diese in vergleichbar hypnotischer Manier zelebriert wie ihrerzeit ALICE IN CHAINS auf Songs wie „Rain When I Die“.
Es ist ein durch Mangel an farbenfrohen Melodien und einer eigentümlichen, trocken klingenden Produktion recht düster klingendes Album, das durch mitunter viszerale Ausbrüche jedoch eine enorme Dynamik entwickelt. Das steuern TOOL geschickt im Verlauf ihres Albums durch Adam Jones‘ grobkörnige Riffs, Danny Careys kantiges Schlagzeugspiel und nicht zuletzt Keenans Gesangsdarbietung, die sich elegant von gehauchten Vocals zu inbrünstigen Ausrufen (und zurück) entwickeln konnten, während Paul d’Amours Bass kernig unter dem Geschehen grummelte und dem Album dadurch zu seiner Atmosphäre verhilft. Einen guten Eindruck davon, wie diese Dynamik schön offensiv eingesetzt wird, kann man sich in „Crawl Away“ oder dem Titeltrack verschaffen, während weniger impulsive „Sober“ beispielsweise mehr auf der atmosphärischen Seite beheimatet ist, sich aber durch eine der zugänglicheren Hooks der Platte auszeichnet.
Dennoch kamen erste experimentelle Ansätze durch
Markant ist bereits jetzt schon Jones‘ perkussiver Einsatz von Palm-Mute-Riffs, die immer wieder für interessante Texturen innerhalb des Sounds sorgen. „Bottom“, ein Song mit Gastbeiträgen von niemand geringerem als Henry Rollins, ist einer der Kandidaten, in denen das schön zum Vorschein kommt. Wo es dann ein bisschen ausgefallener wird, ist zum Ende der Platte hin. Ein Vorzeichen davon liefert der Beginn von „4°“, bei dem eine Sitar ertönt, ehe der Song dann in sein reguläres Programm einsteigt. Fast Sludge-artig kommt „Flood“ in seinen einleitenden Tönen daher, möglicherweise mit leichten MELVINS-Einflüssen. Der Song geht dann in seinen zweiten, schon deutlich klar als TOOL wiedererkennbaren Teil über mit einem hypnotische Riff, das durch die restliche Spielzeit in verschiedenen Variationen erforscht wird, teilweise wieder in Form dieser perkussiven Palm Mutes dargestellt, teilweise als Legato gespielt, teilweise einfach nur gut durchgebraten.
Beim im Original an Spur 69 gelegenen Rausschmeißer „Disgustipated“ (mit zahlreichen, einminütigen Pausen zwischen dem eigentlichen Corpus des Albums und diesem Song) wird es dann schließlich richtig abgefahren. Nach einer einleitenden Spoken Word-Passage (nebst mähender Schafe) breitet sich ein Song im Äther aus, der im Grunde nur aus irgendwie maschinell klingender Perkussion und Keenans Gesang besteht. Der Song endet nach sechseinhalb Minuten, aber das Zirpen von Grillen kann noch für weitere knapp zehn Minuten vernommen werden, zusammen mit einer Botschaft am Ende des Tracks. Zusammen mit „Opiate“ gehört „Undertow“ übrigens zu den einzigen Releases, auf denen Ur-Bassist d’Amour zu hören ist, der während der Aufnahmen zum Zweitling „Ænima“ aus der Band ausstieg und durch Justin Chancellor ersetzt worden ist. Abgesehen davon ist das Lineup der Band bis heute stabil geblieben, bestehend aus Keenan, Jones, Chancellor und Carey.
Ein wichtiges Debütalbum – nicht nur für TOOL selbst
„Undertow“ mag etwas trockener anmuten als seine Nachfolger, als gelungenes Debüt mit amtlichen Verkaufszahlen – sicher auch dank der Kontroversen über die visuellen Inhalte des Covers – ist es aber dennoch ein immens wichtiges Album für die Kalifornier und eines, das ziemlich gut gealtert ist und welches man unbedingt hören sollte, wenn es nicht schon längst geschehen ist. Die im Schnitt vergleichsweise kurze Spielzeit der Songs machen das hiesige Material jedenfalls relativ einsteigerfreundlich. Und auch wenn gerade aus Richtung der Prog-Szene gerne über dieses Album (und im Allgemeinen über TOOL) geunkt wird, so sind die progressiven Ansätze doch vertreten, wenn auch noch nicht so ausgeprägt. Das soll aber nicht davon ablenken, dass „Undertow“ komplett in sich stimmig klingt und eine ganz eigene Atmosphäre hat, die es zu entdecken gilt, und die seinerzeit eine ganze Reihe von Bands inspiriert hat.
Wer’s nicht kennt, hat jetzt eine Hausaufgabe.
Für mich eines der besten Tool Alben. Hat noch alte Alice in Chains und Soundgarden Momente enthalten. Alles in allem eine sehr geile Platte. Die besten Songs meiner Meinung nach sind Prison Sex und Sober.