Tool - Lateralus

Review

Unter "Blast From The Past" erscheinen jeden Mittwoch Reviews zu Alben, die wir bislang nicht ausreichend gewürdigt haben. Hier gibt es alle bisher erschienenen Blast-From-The-Past-Reviews.

Die etwas älteren Leser werden sich noch an Begriffe wie Napster, Kazaa und Limewire erinnern können. Diese Filesharing-Plattformen haben das Entdecken und Konsumieren von Multimedia, auch Musik, Ende der 90er/Anfang der 2000er sehr leicht gemacht, wobei man sich beim Prozess des Downloads vermutlich alle möglichen Viren auf den heimischen PC geholt hat. Dass speziell das Herumreichen von Musik ein Problem für Musiker war (und Spotify damit einhergehend kein neues Phänomen in dieser Hinsicht darstellt), liegt da auf der Hand und verschiedene Bands versuchten, dem mit verschiedenen Strategien beizukommen. TOOL brachten für ihr drittes Album eine Ente namens „Systema Encéphale“ zum Einsatz.

Als die Kalifornier sich gezwungen sahen, eine Falschmeldung zu veröffentlichen …

Unter diesem Namen kündigten die Kalifornier, die anlässlich ihres zweiten Albums „Ænima“ Justin Chancellor für den Ur-Tieftöner Paul D’Amour tauschten und in diesem Lineup bis dato unverändert geblieben sind, ihr drittes Album an und veröffentlichten begleitend eine fiktive Trackliste mit Titelnamen wie „Riverchrist“ oder „Coeliacus“. Das Ergebnis war deprimierend berechenbar: Auf Napster erschienen allerhand Dateien und Songs unter den Titeln, welche die Band vor Ankündigung des eigentlichen Albumtitels veröffentlicht hatte, ehe das Quartett mit dem richtigen Namen des dritten Vollzeitalbums herausrückte: Es sollte tatsächlich „Lateralus“ heißen.

Das Album hat nach „Ænima“ ganze fünf Jahre auf sich warten lassen, was auf einen vier Jahre andauernden Rechtsstreit mit dem Label Volcano Entertainment zurückzuführen ist. In der Zeit überbrückte man die zwangsläufige Kreativpause u. a. auch mit der Gründung von A PERFECT CIRCLE. Unter den Fittichen des Labels ist die Platte aber letztlich doch erschienen und markierte den vielleicht bedeutendsten Schritt für TOOL in ihrer musikalischen Entwicklung, weg vom leicht progressiven Alternative Metal der beiden Vorgängeralben „Undertow“ und „Ænima“ hin zu dem Sound, der seither synonymisch für den Namen der Band steht. Die Alternative-Wurzeln der Band sind natürlich noch zu hören, speziell in den lauteren Ausbrüchen, doch „Lateralus“ ist zuvorderst ein Prog-Metal-Album mit überlangen Songs.

Mit „Lateralus“ meißelten TOOL ihren synonymischen Sound in Stein

Bei einer Trackliste mit dreizehn Gliedern ist die Existenz langer Hauptsongs schnell erklärt: Regelmäßig zwischen die eigentlichen Tracks  geschaltet sind mehrere kurze Interludes, die entweder atmosphärische Klangexperimente enthalten wie das unbehagliche „Mantra“, dessen Grundlage vor der klanglichen Komplettverfremdung offenbar eine Schmusesession Maynard James Keenans mit einer seiner Katzen gewesen sein soll. Oder aber sie dienen als Intro für die eigentlichen Songs, wie beispielsweise das atmosphärische „Parabol“ in „Parabola“ überführt und dessen Leitmotiv vor atmosphärischem Hintergrund vorstellt, ehe es im eigentlichen Track dann intensiver umgesetzt wird.

Und die eigentlichen Songs selbst? Im Grunde reihen TOOL hier einen Klassiker an den nächsten. „Schism“ und „Parabola“ zählen sicher zu den bekannteren Exponaten innerhalb der „Lateralus“-Trackliste und gehören damit zu den zugänglicheren Nummern der Platte. „Parabola“ atmet noch große Teile des Alternative-Sounds der vorigen Alben, ist es schließlich durchgehend im Viervierteltakt gehalten und kommt mit einem relativ markigen Refrain daher. „Ticks & Leeches“ mit seinem manisch tribalen Trommel-Intro von Seiten Danny Careys schlägt auch in diese Kerbe, auch wenn die Taktarten hier schon etwas öfter variiert werden. Doch auch hier kristallisiert sich ein einschlägiger Alternative-Refrain heraus, der nach purer 90er-Nostalgie klingt.

Zwischen Komplexität und Zugänglichkeit – und dem Interpretationsspielraum dazwischen

„Schism“ dagegen verläuft deutlich atmosphärischer mit einem 6/4-Takt im Hauptmotiv, den TOOL dank der geschickten Bassarbeit von Chancellor ziemlich clever als etwas weitaus Komplexeres maskieren. Es gibt ganze Abhandlungen darüber, wie komplex der Song eigentlich sei und einige Schrifterzeugnisse zählen wohl bis zu 47 Taktänderungen, die sich über die Spielzeit des Songs ereignen würden. Doch ist es letztlich der guten Umsetzung zu verdanken, dass „Schism“ derart zugänglich bleibt und eines der wenigen Beispiele, bei denen die Grammy-Auszeichnung, die 2002 folgte, absolut verdient gewesen ist, während diese Zeremonie heutzutage ja nur noch ein Weitpiss-Wettbewerb geworden ist.

Atmosphäre schreiben TOOL an anderen Stellen auf „Lateralus“ ganz groß, zum Beispiel auf dem meditativ geduldigen „Reflection“, bei dem man meinen könnte, dass „Fear Inoculum“ seine Schatten vorausgeworfen hat. Es ist zugegeben nicht der mitreißendste Track, den die Band je veröffentlicht hat, aber er zeigt die stimmungstechnische Experimentierfreude vorzüglich auf und ist ein Paradebeispiel für den Trip-Faktor, der den Kaliforniern gern nachgesagt wird, mit seinen flächig und pulsierend in Szene gesetzten Motiven und repetitiven Percussion-Patterns. Auch das ungleich rockigere „The Patient“ lebt durch seine eigenartige Stimmung, die vor allem der ersten Trackhälfte innewohnt.

TOOL setzten sich mit „Lateralus“ ein Denkmal

Dass die Musiker hierhinter Großes bewirkt haben, erübrigt sich zu erwähnen, aber man kann teilweise nicht anders als die absolute Klarheit im Sound und die unterkühlte, aber kaum klinisch klingende Präzision hinter jeder einzelnen Note bewundern. Maynard James Keenans Gesangsdarbietung ist expressiv und dynamisch, die Gitarren von Adam Jones haben richtig schön Knackens und spielen stets zur rechten Zeit mit ordentlichem Gusto auf. Ebenfalls erwähnenswert ist noch das Cover-Artwork, das von Alex Grey stammt und das einen menschlichen Körper zeigt, bei dem man Seite um Seite eine Schicht nach der anderen buchstäblich abblättern kann – wie die unverändert surrealen Musikvideos ein Beispiel für das Kunstverständnis dieser Band.

Aber am besten lässt man das Album einfach am Stück über sich ergehen und genießt jede Facette, welche die Platte zu bieten hat, in vollen Zügen. So haben TOOL eines der wichtigsten Alben ihrer Diskografie und eines der wichtigsten Alben der neueren Rock-Geschichte in Stein gemeißelt. Und es sollte wieder ganze fünf Jahre dauern, bis der Nachfolger „10,000 Days“ veröffentlicht würde, auf dem die Aufnahmetechniken der Musiker, speziell von Jones, noch ausgefeilter und experimenteller sein würden und das durch seine ungewöhnliche Verpackung noch mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde. Doch „Lateralus“ bleibt ein moderner Prog-Klassiker, auf den sich zurecht unzählige Bands seither musikalisch beziehen.

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01.05.2024

Redakteur für Prog, Death, Grind, Industrial, Rock und albernen Blödsinn.

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6 Kommentare zu Tool - Lateralus

  1. doktor von pain sagt:

    Ich fnde Tool zwar etwas überbewertet (die werden zu oft über den grünen Klee gelobt), aber „Lateralus“ ist auch meiner Meinung nach ein grandioses Album.

  2. nili68 sagt:

    Na gut, dann hör‘ ich auch noch mal rein… naah. lol

  3. Lysolium 68 sagt:

    Ach ja mein First Contact mit Tuul. Schönes Album obwohl ich die 10000 Tage noch einen Tick lieber mag.

  4. doktor von pain sagt:

    „10,000 Days“ hingegen läuft bei mir unter „Langeweile auf hohem Niveau“.

  5. marcmorgenstern sagt:

    Masterpiece. Und der Titeltrack verdient ne 11 von 10.

    10/10