Wahrlich vielseitig, komplex und geradezu anstrengend. Wie eine Achterbahn befördern THE TANGENT die Hörerschaft durch ihr elftes Studioalbum. Das Quintett beweist, dass ein hohes Maß an Überraschungen wichtig ist. Denn purer Progressive Rock allein scheint auf “Auto Reconaissance“ eher hinten angestellt zu sein. Andererseits beleben THE TANGENT das Genre neu und zeigen wie Variationsreich Retro-Prog über die Jahre gedieh.
THE TANGENT zwischen Progressive Rock und Jazz
ROINE STOLTs beziehungsweise THE FLOWER KINGS‘ Einflüsse scheinen bis dato immer noch durch, zumindest in Tracks wie “Tower Of Babel“ oder “The Midas Touch“. Gerade erstgenannter Song wirkt zunächst durch seine unharmonische Abstimmung zwischen Musik und Gesang seltsam. THE TANGENT brechen diese Struktur auf, bauen Synthies und komplexe Gitarrensoli ein, um dann wieder zum Song zurückzukehren.
Fraglich bleibt jedoch die Definition von Progressive Rock auf “Auto Reconnaissance“. “Jinxed In Jersey“ deutet schon eher auf ein Jazzalbum hin. Während des Funk-Soul-Tracks wechselt Andy Tillison zwischen Gesang und Spoken-Word-Passagen. Die Struktur allerdings ist klar dem Progressive Rock entliehen.
Besonders in der zweite Hälfte explodieren die Neo-Prog-Riffs geradezu. Stellenweise kommt eine gewisse Zirkusatmosphäre auf, ähnlich wie bei HAKENs “Aquarius“. Doch in alldem Chaos zwischen Jazz, Funk und Rock knüpfen THE TANGENT Canterbury-Prog wieder zusammen.
Die abstrakte Seite von “Auto Reconnaissance“
Heraussticht “Lie Back And Think Of England“. Eine sich aufbauende Atmosphäre, begleitet von Flötenmelodien und Saxophon, machen den 28-minütigen Track zu einer wahren Herausforderung. Hier überragt ein starker GENESIS-Charakter mit schwindeligem Synthiegekreische.
Der Longplayer verliert nur manchmal seine Form. Zu lose scheinen die multiinstrumentellen Einflüsse in die Struktur eingebettet. THE TANGENT fordern den Hörer heraus und zwar nicht nur musikalisch, sondern auch textlich.
THE TANGENT erzählen von der realen Welt
“Lie Back And Think Of England“ unterteilt seine Geschichte in verschiedene Kategorien. Ein Pilot, der sein Handeln in der Welt hinterfragt. Wobei der Pilot auch eine Art Sinnbild der eigenen Lebensführung sein könnte. Dabei gehen THE TANGENT auf die Frage von richtig und falsch beziehungsweise auf die Problematik der daraus resultierenden Einigkeit ein.
Ein weiteres Kapitel des Songs thematisiert den Brexit. Der Pilot hinterfragt, wofür er eigentlich je gekämpft hat. Für ein Land, dass durch die eigene Hand fällt?
Verschwörungserzählungen spalten seine Heimat und machen die Anstrengung vieler Veteranen zunichte. THE TANGENT nutzen dafür aktuelle Beispiele wie Leugner der Klimakrise oder die Flache-Erde-Theorie. Der Protagonist merkt, wie beharrlich jedes Lager ignorant für die eigene Einstellung einsteht.
Welcher Sachverhalt am Ende jedoch die Wahrheit spricht bleibt ungewiss. Für die persönliche Lebensführung spielt das auch keine Rolle. Der Pilot erkennt dies schließlich an und geht von nun an einen unabhängigen Weg. Frei von all den Lastern, die ihn immer zurückdrängten.
Der Text nutzt Humor und baut kleine Nebenkommentare ein. Trotzdem bilden die Kategorien des Songs ein großes zusammenhängendes Gebilde. Sollen wir die Einstellung anderer belächeln, nur weil die eigene Meinung richtig erscheint?
THE TANGENT weisen auf reale Situationen und Probleme hin. Die Meinungen von anderen müssen eben mal akzeptiert werden. Auch wenn die Differenz noch so groß ist.
Der Anspruch an musikalischer Offenheit
“Auto Reconnaissance“ besitzt laute und schnelle sowie ruhige und langsame Passagen. Vor allem an Sanftheit mangelt es dem Album nicht. Andy Tillison wollte wohl etwas abstrakter werden. Ob Jazz oder Progressive Rock ist dabei eigentlich egal.
Musikalisch liefern THE TANGENT ein fantastisches und vielseitiges Album ab. Dazu zählen auch die Texte, denn lesenswerte Geschichte geben dem Werk einen tiefgründigen Charakter. Die Storys bleiben im Hier und Jetzt. Dabei arten diese nicht in fantastische Märchen aus. Im Ganzen ein Kantiges und herausforderndes Gesamtkonzept.
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