Unter "Blast From The Past" erscheinen jeden Mittwoch Reviews zu Alben, die wir bislang nicht ausreichend gewürdigt haben. Hier gibt es alle bisher erschienenen Blast-From-The-Past-Reviews.
In den 70er Jahren lassen sich Bands und Labels bezüglich der Gestaltung ihrer LP-Cover einiges einfallen. BIRTH CONTROL veröffentlichen 1970 ihr Debüt in einem runden Cover, was einer Pillendose nachempfunden ist. Die ROLLING STONES bringen „Sticky Fingers“ im April 1971 auf den Markt. Andy Warhol gestaltet ein Cover, wo eine knallenge Röhrenjeans abgebildet ist und ein echter Reißverschluss verarbeitet wird. Beim Öffnen des Reißverschlusses kommt weiße Unterwäsche zum Vorschein. Diese spezielle Version des Covers hat aber Nachteile: die Herstellung ist teuer und beschädigt die Schallplatte, so dass spätere Neuauflagen nur das äußere Foto der Jeans zeigen. Eine sehr gut erhaltene Version des Originals mit dem Reißverschluss erzielt auf Plattenbörsen circa 200 Euro.
STICKY FINGERS, das hauseigene Label und der Reißverschluss
Es gibt einige Veränderungen bei den ROLLING STONES gegenüber dem Vorgänger „Let It Bleed“. Mick Taylor (Gitarre) ist neu dabei, und die STONES nehmen erstmalig ein Werk ohne Brian Jones auf, welche 1969 verstarb. Die Ära mit Decca/London wurde beendet. „Sticky Fingers“ ist die erste Scheibe, welche über das hauseigene Label produziert und veröffentlicht wird.
Einer der bekanntesten Songs der ROLLING STONES ist „Brown Sugar“, der Opener auf „Sticky Fingers“. Jagger schreibt in den Liner Notes zur Kompilation „Jump Back“, dass der Text mit einer doppelten Kombination von Drogen und Mädchen zu tun. „Brown Sugar“ kann als Kommentar zur Geschichte, Moral und Dynamik des weißen-männlich-auf-schwarz-weiblichen Geschlechts gesehen werden und wie Macht und Status diesen beeinflusst haben – insbesondere in der westlichen Kultur. Bei Konzerten veränderte Jagger einige umstrittene Texte wie die Passage „Ich höre, wie er die Frauen gegen Mitternacht peitscht“ durch „Du hättest ihn gegen Mitternacht hören sollen“.
Die Popularität von „Brown Sugar“ sorgt immer wieder für Diskussionen über die Lyrics, welche eine Reihe kontroverser Themen anschneiden, darunter Sklaverei, interrassischer Sex, Cunnilingus und Drogenkonsum. Seit 2021 ist der Song nicht mehr Bestandteil von Live-Konzerten.
Die STONES können auch Balladen
Es folgt Blues Rock und „Sway“ mit einer kleinen Besonderheit. Erstmals ist Jagger mit einer Gitarre auf einem ROLLING-STONES-Album verewigt. „Wild Horses“ gehört zu den bekannten Tracks auf „Sticky Fingers“. Die Ballade, welche angeblich über MARIANNE FAITHFULL geschrieben wurde, gehört zu den Klassikern der STONES. Richards sagt zu dem Song: „Wenn es eine klassische Art der Zusammenarbeit von Mick und mir gibt, dann ist es diese. Ich hatte das Riff und die Refrain-Linie, Mick hat sich in die Strophen vertieft.“ So gilt „Wild Horses“ auch als einer der Songs, welcher die Freundschaft zwischen Jagger und Richards beschreibt.
„Can’t You Hear Me Knocking“ fällt nicht nur bezüglich seiner Laufzeit mit mehr als sieben Minuten aus dem üblichen ROLLING-STONES-Schema. Verschiedene Elemente kommen zum Vorschein und die Nummer driftet in Teilen in Richtung Jazz-Rock ab. Die Aufnahme entstand eher zufällig während einer nachgelagerten Jam-Session, als die Protagonisten der Meinung waren, dass der Aufnahmeprozess beendet war. Bluesig geht die A-Seite mit „You Gotta Move“ zu Ende.
Blues, Hard Rock, Country und Folk – die B-Seite sorgt für Abwechselung
Die B-Seite startet mit der B-Seite der Single „Brown Sugar“. „Bitch“ ist ein Hardrocker, welcher von einer Bläsersektion unterstützt wird und mit einem kräftigen Groove um die Ecke kommt. „I Got The Blues“ ändert die stilistische Ausrichtung zum langsamen Blues. MARIANNE FAITHFULL hat bei „Sister Morphine“ mitgewirkt. Es gibt zwei verschiedene Versionen des Liedes – einmal mit Faithfull, und einmal ohne Faithfull mit Jagger als Vokalist. Die zweite Version ist auf „Sticky Fingers“ zu finden, eine folkig-bluesige Angelegenheit mit Akustikgitarre und Piano.
Der Hang zum Country Rock bei Jagger und Richards verdeutlicht „Dead Flowers“, welcher sich lyrisch mit Drogenkonsum beschäftigt. Der Schlusspunkt ist „Moonlight Mile“, ein Track über das Leben auf der Straße, welcher sich zwischen Classic Rock, Country und Blues bewegt.
„Sticky Fingers“ in der Retrospektive
„Sticky Fingers“ gilt als eines der besten Alben der ROLLING STONES. Mehr als drei Millionen verkaufte Exemplare in den USA, erste Plätze in fast allen Charts weltweit, eine dreifache Platin-Zertifizierung in den USA – das sind nur einige Auszeichnungen, welche die Stones für das 1971er Release erhalten haben. Sind diese Auszeichnungen aus heutiger Sicht gerechtfertigt?
Wie bei „Let It Bleed“ oder „Beggars Banquet“ sind einzeln betrachtet nicht alle Lieder die großen Hits wie „Wild Horses“ oder „Brown Sugar“. Aber gerade die Besonderheiten, wie die Jam-Session bei „Can’t You Hear Me Knocking“, geben „Sticky Fingers“ seinen Charme. Musikalisch sind Jagger, Richards und Co. auf den Zenit ihres Schaffens. „Sticky Fingers“ überzeugt vor allem in seiner Gesamtheit und Vielseitigkeit und ist ein Klassiker der Rock-Musik, welcher bis heute Menschen auf der ganzen Welt fasziniert.
Ein Klassiker und nicht nur wegen Brown Sugar und Wild Horses. Alle Lieder sind erste Sahne, besonders Dead Flowers, Can‘t you hear me knockin‘ und I got the Blues.