The Ocean - Phanerozoic II: Mesozoic | Cenozoic

Review

Zwischenzeitlich fühlte sich das laufende Jahr zumindest ein bisschen so an, als könnte das Ende eines Erdenzeitalters kurz bevorstehen. Das konnten THE OCEAN natürlich noch nicht wissen, als sie den zweiten Teil ihres monumentalen 2018er-Releases „Phanerozoic I: Palaeozoic“  für 2020 ankündigten. Nun erscheint „Phanerozoic II: Mesozoic | Cenozoic“ in durchaus bewegten Zeiten, um die große musikalische Erzählung des 541 Millionen Jahre zurückreichenden Gegenwartszeitalters „Phanerozoikum“ zu einem Ende zu bringen. Das dramatische Momentum haben THE OCEAN damit doppelt und dreifach auf ihrer Seite.

Kaum erreichte Post-Metal-Meisterschaft

THE OCEAN-Mastermind Robin Staps beschreibt den zweiten Teil des Epos als „experimenteller und facettenreicher in Bezug auf Tempowechsel, Beats, die Gitarrenarbeit und den Einsatz von elektronischen Elementen“ und verspricht damit keineswegs zu viel. „Phanerozoic II“ hat einen gänzlich anderen Charakter als sein Zwilling und deckt ein musikalisches Spektrum ab, das der behandelten Themenbandbreite zwischen Sauropoden, Säbelzahntigern, meteoritischem Massensterben und der Krone der Schöpfung mehr als gerecht wird.

Den Anfang macht „Triassic“ mit seinem treibend-perkussiven Aufbau und zunächst nur dezent untergemischten Shoegaze-Gitarren, die den knarzenden Bassläufen von David Ramis Åhlfeldt die Bühne überlassen. Die Struktur ist erstaunlich konventionell und die instrumentellen und gesanglichen Motive kehren verlässlich wieder. So vergehen die achteinhalb Minuten des Openers wie im Flug.

Mit dem fast vierzehnminütigen Monolithen von einem Song „Jurassic | Cretaceous“ folgt der Titel, der auf „Phanerozoic I“ wohl noch am wenigsten aus der Reihe gefallen wäre – sieht man mal von den betörenden Bläsern ab, die die Erdentwicklung zwischen Jura und Kreide begleiten. Wie THE OCEAN hier den Spannungsbogen über eine Viertelstunde hinweg halten, mitreißenden Part auf mitreißenden Part folgen lassen, ohne zu überladen, und dabei immer wieder Passagen mit viel Wiedererkennungswert einstreuen, ist weiterhin kaum erreichte Post-Metal-Meisterschaft.

541 Millionen Erdenjahre verarbeitet in großer Kunst

Und dann wird es selbst für THE OCEAN experimentell: „Palaeocene“ ist ein lupenreiner Sludge-Brocken in kompakter Spielzeit, lediglich unterbrochen durch ein atmosphärisches Interlude, wie es auch den OPETH der „Watershed“-Ära gut gestanden hätte – das globale Temperaturchaos als Folge eines gewaltigen Asteroideneinschlags, welcher das Paläozän prägte, wird hier für Hörerin und Hörer sinnlich erfahrbar. „Eocene“ zügelt die Gewalt und setzt auf New-Wave-Gitarren und Klargesang und „Oligocene“ bleibt gänzlich instrumental.

Das folgende „Miocene | Pliocene“ hat wiederum eine mächtige Gothic-Schlagseite, die PARADISE LOST-Vibes und Skalen mit orientalischen Assoziationen verbindet, „Pleistocene“ schlägt in eine ähnliche Kerbe. Die Gitarren agieren zurückgenommen, großes Augenmerk liegt auf der Gesangsdarbietung – zumindest, bis THE OCEAN zum Ende hin die komplette Black-Metal-Biegung nehmen. Die Wogen des Wandels legen sich erst im „Holecene“, das mit dräuenden HANS ZIMMER-Sounds startet und gesanglich die definierenden Zeilen vom Beginn des Albums wieder aufgreift.

Obschon als reine Fortsetzung betitelt, könnte „Phanerozoic“ kaum einen größeren Kontrast zum ersten Teil der OCEAN-Saga vom „Zeitalter des sichtbaren Lebens“ darstellen. Beide Alben spiegeln in ihrem Facettenreichtum  ein aberwitzig langes Kapitel Erdengeschichte wider und beide sind, viel wichtiger noch, große Kunst.

25.09.2020
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