The Hirsch Effekt - Kollaps

Review

Soundcheck Mai 2020# 27 Galerie mit 10 Bildern: The Hirsch Effekt - Aphelion European Tour 2024 in Leipzig

Wahnsinn, was THE HIRSCH EFFEKT 2017 da mit „Eskapist“ abgeliefert haben: Die Hannoveraner haben ihren bunten Mix, der nach eigenen Angaben Artcore heißt und sich aus einer Vielfalt an Einflüssen im Spektrum zwischen Indie-Rock und Mathcore bedient, unverdünnt aber gereift ins Rund geschossen. Zwischen melodischer Eingängigkeit und wütenden, chaotischen Eruptionen mit leicht punkigem Flair, die vor Energie regelrecht bersten, zerrten THE HIRSCH EFFEKT irgendwie immer einen runden Song hervor, sodass das Album am Ende eine zufriedenstellende Sache gewesen ist. Der Wahnsinn hatte sowohl Methode als auch Tiefe und brachte der Band sicher nicht unverdient eine Platzierung auf Platz 21 der deutschen Charts ein.

Wie machen THE HIRSCH EFFEKT nach einem Album wie „Eskapist“ weiter?

Der Nachfolger segelt nun in die Plattenläden, heißt „Kollaps“ und platzt längst nicht so explosiv ins Geschehen wie sein Vorgänger. Thematisch bleiben THE HIRSCH EFFEKT relevant, politisch sowie sozialkritisch und widmen sich Themen wie der „Fridays For Future“-Bewegung, gewürzt mit gewohnter Ironie, aber manchmal auch mit predigend erhobenem Zeigefinger. Greta hin oder her, „Kollaps“ reicht nicht an die Klasse der Vorgängerwerke heran, weder an „Eskapist“ noch an die „Holon“-Alben. Einer der Gründe ist der etwas sanftere musikalische Ansatz, den die Hannoveraner mit ihrem Sound anno 2020 gewählt haben. Das hat sicher nichts mit der Thematik zu tun, schließlich hatte auch „Eskapist“ eine stark sozialkritische Einfärbung gehabt.

Das geht direkt mit dem Opener „Kris“ los, bei dem sich noch etwas LEPROUS-artiges andeutet bzw. wo man den Eindruck bekommt, dass die Band ihren Prog „Malina“-mäßig für mehr Stimmung und straighteren Rock opfert – eine Rechnung, die nicht immer im Sinne der Schöpfer aufgeht, zumal die Konturen der Gitarren etwas zu weich gezeichnet sind. Die eröffnende Percussion von „Kris“ sorgt für Stimmung und wird im weiteren Verlauf noch einmal zur Untermalung herangezogen. Im folgenden biegen die Jungs aber in melodischere, hymnischere Alternative-Gefilde ab, was zwar nicht schlecht klingt, aber längst noch nicht das explosive Ausrufezeichen eines „Lifnej“, geschweige denn das vielschichtig atmosphärische Ausrufezeichen eines „Anamnesis“ setzt.

THE HIRSCH EFFEKT nehmen sich etwas zurück

Mit „Noja“ verfestigt sich der Eindruck zunächst, dass die Band es sich im Mittelfeld bequem gemacht hat. Die Instrumentierung sitzt noch tight wie Arsch auf Eimer und die Gitarren setzen immer wieder zuckelige Spitzen, aber der Song fliegt seinen Hörern längst nicht so fulminant um die Ohren, wie man das hoffen würde. Es fehlen die Bissigkeit und die Aggressivität, es fehlen der Wahnsinn und der echte Zorn. Da hilft auch der Gastbeitrag eines (zumindest laut Presseinfo namentlich nicht genannten) Rappers nicht, der verdächtig nach einem Discount-Materia klingt*. Bei „Allmende“ wird es zumindest mal ein bisschen spannender, wenn der Song schön durch die Boxen zappelt, auch wenn die Riffs ein bisschen im MESHUGGAH-Autopilot fliegen.

Es scheint erst in der zweiten Albumhälfte, dass sich die Band langsam mit der neuen, zurückhaltenden Marschrichtung akklimatisiert und mit ihr aufblüht. „Domstol“ bleibt wegen seiner elegischen Instrumentierung und seiner kecken Gesangslinien im Kopf hängen („Hoch lebe der Jubilaaaaaaar!“ Herrlich!), die dank mehrstimmiger Darbietung teilweise echt schön unter die Haut gehen. Hier zeigt sich, dass die neue Ausrichtung von THE HIRSCH EFFEKT definitiv keine Totgeburt ist, wenn das so stark klingen kann – sie erfordert aber eben einen erhöhten Sinn für Dramatik. Noch besser: Der Track bekommt einen ruppigen Einschub verpasst, der die Backen schlackern lässt, bevor der Song zu seinem Ausgangspunkt zurückkehrt.

In der zweiten Hälfte ist „Kollaps“ deutlich stärker

„Torka“ ist beinahe sakral angelegt und suggeriert dadurch eine enorme Größe. „Bilen“ drückt dagegen herrlich beherzt nach vorne und arbeitet sich in die Nackengegend des Hörers hinein. Angedeutete Dissonanzen blitzen immer wieder durch, pointierte Schläge auf den Drums treiben den Song wie Peitschenhiebe voran und der Gesang von Nils Wittrock gerät bisweilen gar manisch. Der Titeltrack hat etwas gespenstisches an sich und baut sich langsam aber sicher zu einem explosivem Finale auf, während der melodramatische Rausschmeißer „Agera“ dann wieder ein bisschen den Druck vom Kessel nimmt und sich zur Gruppe der faden Durchhänger gesellt, die „Kollaps“ bevölkern.

Sich weiterzuentwickeln, die Stellschrauben des eigenen Sounds einstellen, eben auch mal den Druck etwas runternehmen – dagegen spricht wirklich nichts und glücklicherweise haben THE HIRSCH EFFEKT genug Ordentliches auf „Kollaps“ gepackt, um dessen weniger gelungene Tracks auszugleichen. Dennoch haben die Hannoveraner die Zurückhaltung nicht durchweg konsequent mit neuem Spektakel unterfüttert, weshalb sich eine Reihe von Filler-Tracks hierauf geschlichen hat. Sie beweisen in den hymnischeren Passagen zwar durchaus ein geschicktes Händchen für große Momente, doch das Füllmaterial besonders in der ersten Albumhälfte zieht „Kollaps“ dann doch empfindlich herunter. Die Gelungenen Cuts zeigen aber, dass die neue Richtung nicht fruchtlos ist – an der Weiterentwicklung darf also gerne weitergeschraubt werden.

Nachtrag: *wobei der Rap-Beitrag auch von THE HIRSCH EFFEKT selbst kommen könnte

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02.05.2020

Redakteur für Prog, Death, Grind, Industrial, Rock und albernen Blödsinn.

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