The Hirsch Effekt - Holon : Agnosie
Review
„Holon: Agnosie“ ist der Wahnsinn. Kein positiver Wahnsinn, auch kein negativer, mehr so der reine Wahnsinn, der wohl jedem Homo sapiens innewohnt. Dem Hannoverschen Trio THE HIRSCH EFFEKT vermutlich etwas mehr als dem Rest der Menschheit. Aber das ist auch ganz gut so. Gemeinsam mit dem Produzentenduo Max Trieder und Tim Tautorat (IN FLAMES und DAVID HASSELHOFF = unschlagbare Referenzen) ist es ihnen nämlich gelungen, die Essenz ihres seelischen Cocktails aus innerer Zerrissenheit, roher Wut und dem nötigen Quäntchen Grenzdebilität auf Platte zu bannen. Und die besticht vor allem durch musikalischen Wahnwitz.
Dieser spiegelt sich nicht nur im dominierenden, makellos dargebotenen Math-Gefrickel, sondern zugleich in deutlich im Hardcore Punk verwurzelten Vocals zwischen Screams, Rufen und Klarpassagen wieder. Gerade letztere kratzen trotz allgegenwärtiger Death-Metal-Walzen ohne Scheu auch mal an THEES UHLMANN’schem Indie-Pop, was zunächst aber nicht weiter stören soll. Drumherum geschieht derweil erschreckend viel (nicht nur in Shredding-Hinsicht) Abgedrehtes, die bestechend pragmatische Textzeile „Wir müssen alles wissen! Wir müssen alles kontrollieren!“ aus „Bezoar“ bringt das Geschehen ganz gut auf den Punkt. Dementsprechend finden sich auf der Speisekarte auch noch ein paar leichtere Häppchen à la „Cool Jazz mit einer Note von spanischem Gitarrengefiddel an bitterböser Spoken-Word-Sozialkritik“ und natürlich das allseits beliebte Dessert „Klavierballade in klassischer Deutsch-Pop-Manier mit flüssigem Trip-Hop-Kern“. Geht gut rein, die Mischung rumort aber noch etwas im Magen.
Derweil wird der Hörer immer mal wieder eiskalt von gitarrenfreien Stimmungstiefschauflern wie „Tombeau“ erwischt, die sich nach anfänglichem „Ist-das-jetzt-ne-andere-Band?“-Schock aber doch noch ins Albumkonzept der „Seelenblindheit“ fügen. „Ich bin es so leid, dieses Leben, das du angeschleppt hast.“ Klar, auf Englisch klänge das sicher alles etwas braver. Doch eigentlich sind es gerade Nils Wittrocks eigenwillig-selbstreflektierende Texte, welche die stellenweise nötige Abgrenzung zum Kitsch bilden. Dafür kommt die bisher nur in aufgeschnappten Lyrikfetzen angedeutete melancholische Grundstimmung in der Mitte der Platte aber auch endlich musikalisch zum Tragen. Da darf’s dann auch gerne mal etwas BULLET FOR MY VALENTINE-mäßiger zugehen („Emphysema“), weshalb man sich in der Folge natürlich umso mehr freut, wenn THE DILLINGER ESCAPE PLAN die Metalcore-Schlagseite wieder ins Bockshorn jagen. Deren in jüngerer Vergangenheit immer mal wieder ausgepackten Bläsersatz haben THE HIRSCH EFFEKT zwecks Leitmotivik („Simurgh“, „Cotard“) übrigens gleich mit aufs Album gepackt, wobei man sich hier vermutlich an Sounds aus der Dose bedient. Und wenn wir einmal dabei sind, packen wir natürlich auch noch ein paar Streicher rein. Wie gesagt: „Wir müssen alles wissen!“
Typisch menschlicher Wahnsinn, birgt „Holon : Agnosie“ auf Albumlänge meist ein bisschen zu viel von allem, was hier und da auch dem erfahrensten Post-Metal-Hörer ein paar Schweißperlchen der Überforderung in die Stirnfalte zaubert. Bis die im Titelsong besungene Devise „Es dringt in jede Zelle ein“ eintritt, braucht es eben ein bisschen, denn das krampfhafte Genre-Clashing geht an ein, zwei Stellen dann eben auch auf Kosten des Hörgenusses. Mag zwar irgendwie egal sein, muss schlussendlich aber auch einen Punkt Abzug geben.
The Hirsch Effekt - Holon : Agnosie
Band | |
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Wertung | |
User-Wertung | |
Stile | Art Rock, Avantgarde, Elektro, Experimental, Hardcore, Mathcore, Pop, Postcore, Progressive Metal |
Anzahl Songs | 13 |
Spieldauer | 58:38 |
Release | |
Label | Long Branch Records |
Trackliste | 1. Simurgh 2. Jayus 3. Agnosie 4. [Chelicera] 5. Bezoar 6. Tombeau 7. Emphysema 8. [Defaetist] 9. Fixum 10. Athesie 11. [Tischje] 12. Dysgeusie 13. Cotard |