Steven Wilson - 4 1/2

Review

Nö, dachte sich der gute Steve im Jahre 2012. PORCUPINE TREE kann erst einmal warten. Statt mit seinen langjährigen Bandkollegen ein weiteres Mal zahlreiche Hallen rund um den Erdball auszuverkaufen, setzt der damals 45-jährige Multiinstrumentalist alles auf eine Karte – und landet 2013 mit „The Raven That Refused To Sing“ den bis dato größten Erfolg seiner Karriere.

Drei Jahre und zwei Top-Ten-Platzierungen später hat der Solomusiker Wilson einen Heroenstatus erlangt, der im Prog Rock des neuen Jahrtausends bis auf Weiteres unerreicht bleibt. Vinyl verkauft sich in Strömen, Hallen sind ausverkauft wie eh und je – die Geldmaschinerie läuft. Mit „Drive Home“, „Cover Version“ und „Transience“ finden beinahe im Halbjahrestakt neue und teils wiederausgegrabene Kompilationen, B-Seiten und Livetracks ihren Weg in den Plattenregale. Und wo Qualität zum Standard wird, greifen die Anhänger bereitwillig zu.

Nun also „4 1/2“. Auf seiner neuesten EP, Verzeihung, seinem neuesten „Album zwischen den Alben“ holt STEVEN WILSON neben einer PORCUPINE TREE-Neuaufnahme fünf bislang unverwendete Stücke aus der Mottenkiste, die im Laufe der Sessions für die beiden letzten Studioalben entstanden. Prog-Rock-Resterampe? Wie man’s nimmt. Das „Raven“-Überbleibsel „Year Of The Plague“ verhilft dem gloomigen Feeling von Tracks à la „The Watchmaker“ unüberhörbar zu neuem Leben, die desperate Skizzenhaftigkeit lässt sich dem Instrumental dadurch aber nicht absprechen. Die auf dem nachfolgenden „Hand. Cannot. Erase.“ (2015) erneute musikalische Öffnung zahlt sich hingegen noch bis heute aus.

Dort bot Wilson den poppigen Momenten schon wieder ungewöhnlich großen Raum, kratzte mit dem gleichnamigen Titelstück gar am äußersten Rand der Radiotauglichkeit. Mehr Pop-Rock durfte damals nicht – stattdessen findet er nun auf „4 1/2“ Verwendung. Beispielsweise in „Happiness III“, das seinem Namen erstmals auch ohne den Einfluss der kleinen, süßen Pillen alle Ehre macht. Oder dem mit eingängigen Mitsingparts und einem zunächst ungewohnt grungigen Hauptriff in die Vollen gehenden „My Book Of Regrets“. Notorischen Back-in-the-days-Nörglern mag hier völlig zu Recht die melancholische PORCUPINE TREE-Magie flöten gehen, dafür kommen aber immerhin wieder einmal die ach so gern erwähnten BOARD OF CANADA-Elektro-Einflüsse durch. Und auch das instrumentale „Vermillioncore“ knallt den Proggern gut was auf den Tisch. Musste sich Tastenmaestro und ex-MILES DAVIS-Musiker Adam Holzman auf „Raven“ noch eifrig zurückhalten, entzündet er hier – wie schon auf „Regret #9“ – die Synthesizer-Leuchtffeuer aufs Neue.

Sich den genannten Nörglern wohl gewahr, beschließt der längst zum Guru erhobene Wilson „4 1/2“ mit einer Reminiszenz an gute alte Zeiten. Gemeinsam mit „Hand. Cannot. Erase.“-Goldkehlchen Ninet Tayeb trällert der Brite „Don’t Hate Me“ vom 1999 erschienen Album „Stupid Dream“ und führt dem Hörer damit letzten Endes vielleicht sogar die scheinbare Unantastbarkeit seiner aktuellen Releaseflut vor Augen führt: Im direkten Vergleich beider Versionen wird Wilsons Soloversion schlicht und ergreifend von den filigranen Instrumentalleistungen aller Beteiligten dominiert.

Denn Colin Edwin, Richard Barbieri und insbesondere Wunderknabe Gavin Harrison in Ehren: STEVEN WILSON hat sich in den vergangenen Jahren eine Stammbesetzung erarbeitet, die von Takt zu Takt vor individuellem Können überschäumt – und sich an den richtigen Stellen den nötigen Raum lässt. Erweitert um die bisher nur als Livemusiker in Erscheinung getretenen Dave Kilminster (u.a. ROGER WATERS) und Craig Blundell baut Wilson auf „4 1/2“ seinen musikalischen Kosmos aus, in dem er eben nicht einfach die Marionetten tanzen lässt. Er lässt die Zügel aus der Hand, profitiert von treffend gesetzten Akzentuierungen seiner Mitstreiter – und erschafft dabei Werke, die nach wie vor von wahren Musikliebhabern geschätzt werden. Nicht immer überdurchschnittlichem Songwriting zum Trotz.

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02.02.2016

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