„Mitternacht“ heißt der neuste Streich aus dem Hause der Ausnahmekünstlerin Anna-Varney Cantodea, besser bekannt als SOPOR AETERNUS & THE ENSEMBLE OF SHADOWS. Mitternacht kann vielseitig gedeutet werden, ist es doch der Übergang der Nacht zum Tag. Ein neuer Anfang, aber auch ein Lebewohl zum gestern. Beides kann sowohl positiv als auch negativ ausgelegt werden. SOPOR AETERNUS & THE ENSEMBLE OF SHADOWS sind bedrückend wie eh und je, man muss sich mit der Musik und den Texten auseinandersetzen, um den Hoffungsschimmer erkennen zu können.
Der Gesang von Anna-Varney Cantodea wirkt wie immer dramatisch, aber gleichzeitig auch ergreifend authentisch. Die zehn Musiker, die „Mitternacht“ mit außergewöhnlichen Klängen füllen und somit das ENSEMBLE OF SHADOWS stellen, runden die einzigartige Atmosphäre ab. Spieluhrähnliche Stücke wie „Beautiful“ und „La Prima Vez“ lassen sich treiben, schweben mystisch im Raum und sind nicht wirklich greifbar. Das Intro von „The Boy Who Built A Catacomb“ nimmt dem Hörer schier den Atem, so einnehmend sind die Trommeln, Bläser und Flöten, die sich wie eine schwarze hohe Mauer auf einen zubewegen. „Carnivol Of Souls“ entführt uns auf den Jahrmarkt der Grausamkeiten, eine vielschichtige Interpretation nach einem Stück von Verne Langdon. Besonders bedrückend sind Lieder wie „Confessional“ oder „Under His Light (2)“, wenn Hoffnung aufkeimt und der Wille an Ehrlichkeit und Freundschaft zu glauben da ist, und dann doch wieder mit einem Trauermarsch zu Grabe getragen wird. SOPOR AETERNUS & THE ENSEMBLE OF SHADOWS-Platten sind nie wirklich fröhlich, aber „Mitternacht“ wirkt schon besonders gruselig und eigentlich wie eine einzige Beerdigung. Besonders die Bläser sorgen für beklemmende Momente, die einem einen Kloß in den Hals musizieren. Aber auch Anna-Varney Cantodea kann ganz anders und schlägt bei „You Cannot Make Him Love You“ beängstigend barsche Töne an, die natürlich inhaltlich harmonieren. Mit „Into The Night“ gibt es ein beeindruckendes Instrumental, etwas lockerer aufgebaut und weniger dunkel, hier fällt besonders der satte Sound und der Druck auf, den die Musiker sehr wohl aufbauen können, wenn ihnen danach ist. Noch besser gefällt mir „If You Could Read My Mind“, Violinenklänge durchschneiden hier eine Art Glockenspiel und bauen massive Tragik auf, zudem ist hier eine richtig packende Melodie versteckt.
„Mitternacht“ ist im Buchformat erhält, welches die Texte und zahlreiche, stimmungsvolle Illustrationen enthält. Die Bilder zeigen alle Comic-Szenen von Anastasiya Chyringa mit Anna-Varney Cantodea, die vage den Inhalten der Lieder zugeordnet werden können. Auch wenn es fast unmöglich und auch nicht erforderlich ist, das vielfältige kreative Schaffen von SOPOR AETERNUS & THE ENSEMBLE OF SHADOWS in ein sinniges Ranking zu pressen, so steht bei mir persönlich noch immer „Todeswunsch – Sous le Soleil de Saturne“ unumstößlich auf Platz 1. Aber auch „Mitternacht“ tut nachhaltig weh, reißt Wunden auf, schmerzt und ist unübertroffen an Details und Authentizität. SOPOR AETERNUS heißt „ewiger Schlaf“, genau diese Stimmung wird übertragen, von verschiedenen Perspektiven aus betrachtet. Wenn jemand Leid geschieht, dann wünscht er sich den ewigen Schlaf. Viele Menschen kommen im Leben niemals wirklich an und kämpfen mit inneren Dämmen oder Ablehnung, sind nie Teil der allgemeinen Realität und viele ignorieren wichtige Dinge und schlafen bewusst.
(Ausnahmsweise vergebe ich für „Mitternacht“ keine Wertung, da ich keine vergleichbaren Künstler kenne und auch nicht wüsste, welche anmaßenden Maßstäbe ich bei einer derart emotionalen und persönlichen Platte ansetzen sollte. Was Anna-Varney Cantodea antreibt, zeigt sich in der Konsequenz ihrer Kunst, die sie seit dem Demotape 1989 „Es reiten die Toten so schnell“ antreibt, und mit etwas Recherche bei Interesse nachgelesen werden kann)
Sicher stilistisch nicht direkt vergleichbaer, aber künstlerisch vergleichbar avantgardistisch, persönlich und emotional ist das Projekt Angizia. Sollte man auch unbedingt mal antesten!