„Ótta“, die neue Veröffentlichung der Isländer SÓLSTAFIR, gehört sicherlich zu den am meisten erwarteten Alben des Jahres 2014. Und bereits an dieser Stelle setzt ein drängendes Problem ein: Schon die beiden Vorgänger „Köld“ und „Svartir Sandar“ (von „Masterpiece Of Bitterness“ gar nicht erst zu reden) sind zeitlose Werke, die die Grenze zwischen Rock, Metal, Black Metal und Blues Rock neu vermessen haben. Der frische Wind und die Einzigartigkeit, den SÓLSTAFIR damit in die Metalszene eingebracht haben, begeistert immer wieder – von den mitreißenden Liveauftritten einmal abgesehen, die aufgrund der vorherigen Granatenalben absolviert werden konnten. Nicht wenig wird daher von „Ótta“ erwartet: Die neueste Kreation der vier Isländer tritt folglich ein schweres Erbe an – und macht SÓLSTAFIR und ihrem Schaffen alle Ehre. Ihrem einzigartigen Stil treu bleibend, sich von Album zu Album verändernd, entwickelnd, ist „Ótta“ keine bloße Kopie der Vorgänger, sondern schafft es neue, frische Akzente zu setzen und dem Sound der Band neue Facetten hinzuzufügen.
SÓLSTAFIR begleiten durch den Tag – träumerisch und packend
Konzeptionell orientiert sich „Ótta“ an einem alten, isländischen System der Zeitrechnung: Demnach werden 24 Stunden in Abschnitte zu je drei Stunden unterteilt – was acht Blöcke ergibt. Diese finden sich in den acht Songs von „Ótta“ wieder: Beginnend mit Mitternacht, dem Track „Lágnætti“ („Mitternacht“) bis zum Abschluss „Náttmál“ („Nachtbeginn“), vor der nächsten Mitternacht. Vor diesem Hintergrund entfaltet sich der gesamte kompositorische Ablauf von „Ótta“. Bereits der genannte Einstieg „Lágnætti“ eröffnet mit dramatischem Klavier und begleitenden Streichern, schon in den ersten zwei Minuten ist damit die erste Gänsehaut vorprogrammiert: Seicht, fast flüsternd führt Frontmann Aðalbjörn Tryggvason in die Scheibe ein, bevor ein erstes Mal die SÓLSTAFIR-Trademarks aus treibendem Drumming, heulender Gitarre und langsam vielschichtiger werdendem Songaufbau loslegen. Erster Titel, erster Hit, acht Minuten, die richtig Lust auf das neue Album machen – mehr geht nicht. Der folgende Titeltrack „Ótta“, bereits im Vorfeld als Single lanciert, offenbart dann die gesamte Stärke und Bandbreite von SÓLSTAFIR, komprimiert auf neuneinhalb Minuten. Mit hypnotischen Gitarren, unterstützt von einem markanten Banjo, ergänzt von sanften Streichern – und getragen von einem Spannungsbogen, der im letzten Drittel des Songs jede bekannte Post-Metalband atmosphärisch locker an die Wand stellt – und erstmal atemlos zurück lässt. Nach dieser aufreibenden Nacht geht es über in den Morgen – Aufstehen mit „Rismal“, vor der Mittagszeit dann „Dagmal“. Und siehe: SÓLSTAFIR erweitern ihren Stil erneut. Track Nummer vier klingt wie eine leichte, eingängig-düstere Wave-Nummer im Stile von THE CURE oder JOY DIVISION – der lange vermutete, untergründige Post-Punk-Einschlag bricht sich endlich Bahn, auf seine melancholischste Art und Weise. Zupackend kommt dann auch „Middegi“ daher, eine flotte, richtig rockige Nummer: Hier rückt der Bass deutlicher in den Vordergrund, der markante Gesang kommt noch deutlicher zum Tragen. Anschließend leitet „Non“ den Nachmittag ein, bevor „Midaftann“ in den Abend übergeht, eine weitere Nummer, die auf die zauberhafte Kombination aus melancholischen Streichern und tiefen Klaviertönen setzt – und quasi das Intro bildet für den Abschluss „Náttmál“, wo SÓLSTAFIR nochmal alles zeigen, was sie drauf haben: Mit Finale Furioso inklusive Orgel, treibendem Schlagzeug und einem Aufbau, der nach all den eher weichen, glatten Songs kantig und ungeschliffen wirkt.
Eine neue Etappe auf einer einzigartigen Schaffensreise
Was SÓLSTAFIR im Gegensatz zu „Svartir Sandar“ ein wenig zurückgefahren haben, ist der schnelle, harsche Anteil, hier wird noch seltener einmal das Tempo angezogen. Dafür wirkt „Ótta“ im Gegensatz zum Vorgänger auch aufgeräumter und gradliniger, das Gesamtwerk stringenter, aber auch epischer, mehr auf den Transport von Atmosphäre fokussiert. Hier mag es Ansätze geben, an denen sich Kritiker entzünden: zu poppig, zu glatt, zu wenige ergreifende Melodien. Insgesamt weniger Auf und Ab, zugegeben: Aber dennoch ist „Ótta“ unglaublich abwechlungsreich, mitreißend und zu jeder Zeit höchst unterhaltsam – wenn die ersten ablenkungsfreien Hördurchgänge absolviert sind, wird einen dieses Album nicht mehr loslassen. Die einzigartige Atmosphäre von „Ótta“ ist wie eine Collage, die die im Artwork angedeutete Tiefe wiedergibt: Kühl, melancholisch und einsam. Ein Schwarz-Weiß-Bild, von dem man den Blick nicht abwenden kann. Ein Soundtrack, der die raue, karge Landschaft Islands in Musik fasst – und emotional das staubige, westernhafte „Köld“ überragt und sich neben das epische, naturgewaltige „Svartir Sandar“ in eine Linie stellt. Wie bereits erwähnt: Hier wäre es leicht, angesichts dieser beiden Vorgänger enttäuscht zu sein, denn „Ótta“ ist nicht unbedingt so, wie man erwarten konnte – aber dies kann man angesichts der hohen Qualität der Diskographie von SÓLSTAFIR dieser Scheibe sicherlich nicht zum Vorwurf machen, denn „Ótta“ bringt den Stil der vier Herren weiter voran und zeigt neben der glattrasierten Produktion doch immer sein glimmendes, schwarzmetallisches Herz. Vielleicht wird „Ótta“ zudem nicht den bahnbrechenden und revolutionären Stellenwert der vorherigen Alben einnehmen, einfach, weil „Ótta“ reifer wirkt und erwachsen daherkommt – aber mit den Übersongs des Albums – „Ótta“, „Dagmal“ und „Náttmál“ – haben sich SÓLSTAFIR eine Messlatte gelegt, die es zukünftig zu überspringen gilt, die für jedes Liveset eine Bereicherung darstellt und die sicherlich kein Vorgängeralbum derart pointiert liefern konnte. Wohin die Reise hiernach geht, bleibt abzuwarten, aber einen Schritt in eine dunkle, beinahe apokalyptisch einsame Welt haben SÓLSTAFIR nun getan.
SÓLSTAFIR spielen somit in ihrer ganz eigenen Liga – die Isländer haben einen eigenen, unverwechselbaren Stil gefunden und zementieren mit „Ótta“ ihre Ausnahmeposition. „Ótta“ ist absolut auf einer Stufe mit den Vorgängeralben und damit auch in der Bewertung vollständig ebenbürtig.
Dem ist nichts hinzuzufügen.
Was anderes war von Solstafir auch nicht zu erwarten. Danke nach Island! Freu mich schon aufs Konzert im November.