Dass Besetzungswechsel massive Auswirkungen auf den Sound einer Band haben können, ist nichts Neues. Aber manchmal ist das besonders markant, wenn die betreffende Band eine positive Nischenerscheinung mit einzigartigen Charakteristika gewesen ist, ehe sie durch einen einschneidenden Personalwechsel … nun ja, vielleicht nicht wie ausgetauscht, aber eben doch anders wirkt. Das ist SINISTRO widerfahren, einer portugiesischen Doom-Band, deren tragendes Merkmal zu Zeiten von Alben wie „Semente“ oder „Sangue „Cássia“ die Stimme von Patricia Andrade und ihr vom traditionellen Fado beeinflusster Gesangsstil war, einer eigentümlichen, zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärten Vortragsart mit wiederkehrenden Themen wie Sehnsucht oder Weltschmerz.
Nach einem kleinen, personellen Erdrutsch kehren SINISTRO zurück!
Auf deren Weggang anno 2019 (wir berichteten) folgte um 2023 herum das Engagement von Priscila Da Costa – und damit folgte ein kleiner aber bedeutsamer Wandel weg von der mysteriösen und irgendwie auch leicht verführerisch anmutenden Subtilität der Vorgänger hin zu einem etwas explosiveren Sound, den man vermutlich im Umfeld der Doom-Elemente von OCEANS OF SLUMBER platzieren kann, halt mit Gesang in der Landessprache der Portugiesen. Damit sei nicht gesagt, dass jegliche Eigenständigkeit auf dem neuen Werk „Vértice“ verschwunden ist, aber das neue Album liefert schon einen kleinen Schock-Moment, wenn mit der Erwartungshaltung an einer Fortführung des Sounds der beiden großartigen Vorgänger in das Album hinein gegangen wird.
Wenn diese initiale Befremdung dann aber erst einmal überwunden ist, merkt man, dass diese neue Ausrichtung vielleicht gar nicht mal so weit hergeholt ist. Anders ausgedrückt: Die dichte Wall Of Sound mag im ersten Moment oppressiv wirken, aber Da Costa singt souverän dagegen an und behauptet sich im Klanggebilde, ohne unterzugehen oder alles zu überlagern, auch wenn sie insgesamt ein wenig konventioneller klingt wie Andrade. Ein bisschen büßen die Südeuropäer dadurch ihren Nischen-Charme ein, da Da Costa nicht das gleiche, leicht Succubus-artige Timbre hat wie ihre Vorgängerin, aber der Einstand ist ansonsten schon gut gelungen. Zudem bewahren sich die Südeuropäer immer noch einen Hauch erfrischender Mystik, der nicht nach 08/15-Okkultimus klingt, sodass die Eigenständigkeit noch gegeben ist.
Die Südeuropäer klingen mit neuem Sprachrohr härter, heavier und direkter
Was SINISTRO spielen, kann vielleicht im weiteren Sinne als Doom mit straffer, Post-Metal-artiger Produktion beschrieben werden, wobei ein ausgeprägter Hang zur Atmosphäre enthalten ist, der oftmals durch kühle Synths verstärkt wird, besonders schön auf „Perfeita Encenação“ zu hören. Da Costas klagende, soulige, aber im Vergleich zu Andrade schon deutlich wuchtigere Stimme füllt die Songs angemessen aus (geradezu monumental: „O Equivocado“), sodass die durchaus üppige Produktion nicht fehl am Platz wirkt. Wie bereits erwähnt: Sie singt erfolgreich gegen die massiv wirkende Produktion an, aber alles ist immer noch mit einer dicken Schicht Schwermut überzogen.
Die Portugiesen meistern nach wie vor die delikate, von der geschätzten Vorrednerin zu „Semente“ herausgearbeitete Balance zwischen „Langsamkeit und Unruhe, […] Klage und Wut, Schlichtheit und Stilbruch“, doch das wird ann0 2024 härter, heavier und etwas direkter dargeboten. Es gibt weniger Momente, in denen die Band ihre Hörerschaft im eigenen Saft kochen lässt – aber sie sind noch da, z. B. auf „Elegia“ oder „O Equivocado“, jedoch längst nicht mehr so ausgedehnt. „Vértice“ stampft langsam mit tonnenschweren, bedeutungsschwangeren Schritten vor sich hin, angeleitet von Da Costas emotionaler Darbietung, die beispielsweise in „Pontas Soltas“ in Sachen Eindringlichkeit über sich hinaus wächst und zeigt, dass die Portugiesen wieder da sind.
„Vértice“ ist ein mehr als gelungener Neuanfang
Das erste Album nach einem größeren Umbruch im Lineup ist selten unkritisch. So auch hier: Nach dem Abgang von Andrade 2019 (nebst dem damaligen Bassisten Fernando Matias) waren SINISTRO zwar immer noch gewillt, an neuem Material zu feilen, musste aber eben dieses logistische Problem lösen (und so ganz nebenher noch eine Pandemie überstehen). Offensichtlich konnten die Portugiesen beides erfolgreich bewältigen und stehen mit einem starken Album da, das wie ein Neuanfang interpretiert werden kann. Der charakteristische Sound der Band hat sich gewandelt und wie bereits erwähnt: Wer eine Fortsetzung von „Sangue Cássia“ erwartet, wird möglicherweise milde enttäuscht. „Vértice“ ist das Durchhaltevermögen jedoch wert.
Vor n paar Jahren mit Paradise Lost und Pallbearer live gesehen und daraufhin gleich die Semente geholt, die zwar in meinen Augen nicht etwas unausgegoren war, aber durch den tonnenschweren Doom und die reinen Fado-Songs auch allerhöchstens noch mit Ava Inferi verglichen werden konnte.
Die beiden Singles sind ganz stark, Vinyl ist bestellt.
Wunderbare Songs mit ordentlich „Mandylion“ Vibes, die MDBs Like Gods of the Sun gekonnt umspielen. Kommt mit in die Top 15 ’24.
FEIN!