Unter "Blast From The Past" erscheinen jeden Mittwoch Reviews zu Alben, die wir bislang nicht ausreichend gewürdigt haben. Hier gibt es alle bisher erschienenen Blast-From-The-Past-Reviews.
Kennt ihr Noel Scott Engel, besser bekannt als Scott Walker? „The Sun Ain’t Gonna Shine Anymore„? Ja genau, der WALKER BROTHERS-Scott Walker. Der war in den ersten Zügen seiner Musikkarriere nach Anfängen im Teenie-Pop mitunter auch in Zusammenarbeit mit besagter Band ein richtiger Popstar. In ihren erfolgreicheren Tagen hatten die WALKER BROTHERS vor allem mit dem Barock-Pop Aufsehen erregt, ein Strang, den Walker im Rahmen seiner Solo-Karriere weiterführen und vor allem mit den von 1 bis 4 durchnummerierten Studioalben in Stein meißeln sollte. Markantes Merkmal: Seine tiefe, klare Baritonstimme, die man nach einmaligem Hören unter tausenden wiedererkennt. Was aber hat eine solche Rezension auf unserer Seite zu suchen? Nun, nachdem sein Erfolgt in den Siebzigern langsam nachließ, entdeckte Scott Walker nach und nach die Avantgarde für sich und erschuf vor allem im neuen Jahrtausend zwei sehr herausfordernde, kompromisslose und auch bizarre Alben. Und so richtig manifestierte sich diese Entwicklung erstmals in diesem vorliegenden Album „Tilt“ von 1995, das neben einer Verwurzelung im (Art) Rock mit einer wahnsinnig dichten Atmosphäre daher kommt, die selbst im Metal ihresgleichen sucht und im weiteren Sinne mit BOHREN & DER CLUB OF GORE vergleichbar ist.
Vom Barock-Pop für Teenies langsam zur Avantgarde
Nachdem Scott Walker also das Image des Schmusesängers abgestreift hat, wandte er sich experimentelleren Klängen zu, zunächst mit dem letzten WALKER BROTHERS-Album „Nite Flights“ vor ihrer endgütigen Auflösung, das den stilistischen Wechsel weg von kommerziellen und hin zu atmosphärischen, düsteren Klängen einleitete, die jedoch immer noch firm im Rock verankert waren. Von diesem Punkt an begann Walker, seine Alben in großen Abständen zu veröffentlichen, sodass dem 1978 veröffentlichten „Nite Flights“ das erst 1984 erschienene Solo-Album „Climate Of Hunter“ folgte – ein Album, dem man nachsagt, das seinerzeit am schlechtesten verkaufte Album von Virgin Records zu sein. Ein Prädikat für einen waschechten Avantgardisten! Auch hier zeigte sich, wie Walker die kommerziellen Ketten lagsam sprengte. Und es sollten knapp elf Jahre ins Land ziehen, bis Scott Walker mit „Tilt“ anrücken sollte, mit dem seine Entwicklung hin zur Avantgarde vollendet sein würde.
„Tilt“ – Ein quer gedachter Meilenstein
Mit dieser Platte hat sich Walker endgültig von allen Konventionen gelöst und ein bahnbrechendes Album veröffentlicht. Zum einen sucht man den Song im traditionellen Sinne hier weitestgehend vergeblich, lediglich „Farmer In The City“ mutet noch traditionell an. Zum anderen bewahrt sich Walker hier dank hervorragender Kompositionen dennoch ein erstaunliches Maß an Zugänglichkeit, das er erst mit seinen folgenden, geradezu dadaistisch-anarchischen Werken „The Drift“ und vor allem „Bish Bosch“ endgültig ablegen sollte; Alben, bei denen er bzw. seine Mitmusiker Dinge wie Schweinshälften, Treppenstufen oder wetzende Macheten als Instrumente zweckentfremden sollte(n). Kleine aber witzige Anekdote zu den Macheten: Den Song „Tar“ von „Bish Bosch“, in dem diese zum Einsatz kommen, hatte ich erstmals im Skiurlaub im Zillertal gehört in einer gemieteten Ferienwohnung, während ich auf zwei Porzellanpuppen in einer Vitrine blickte, die mich wiederum mit leerem Blick anstarrten. Lange Rede, kurzer Sinn: Wenig überraschend habe ich in dieser Nacht kein bisschen geschlafen. Aber das nur so am Rande.
Zurück zu „Tilt“. Das Faszinierende an diese Platte ist diese wahnsinnig düstere, zermürbende Stimmung, die es heraufzubeschwören imstande ist und welche die Grenzen zwischen vielen Genres transzendiert, von Ambient über Gothic und Klassik hin zu Art Rock und sogar Drone und Noise. Interessant ist bei der Mixtur der Twist hinter der Atmosphärik: Statt raumfüllender, überbordender Atmo-Gesten kommt diese eher durch gezielte Zurückhaltung zu Geltung, die gekonnt ein mulmiges Gefühl von Leere vermittelt – das ist subtiler, Klang gewordener Horror, den man tief innen drin spürt. Das Stilkonglomerat ist zwar mit etwas Mühe als solches zu erkennen, doch ist alles verwoben in einen viszeralen Strudel, der seine Hörer unbarmherzig hinab zieht.
Eine Spirale abwärts?
Manchmal ist es eher die Ruhe, die einen auf „Tilt“ aufwühlt, wie in „Bouncer See Bouncer“, dessen Großteil im Grunde nur aus einem hallenden Beat und sirrenden, zirpenden Geräuschen besteht, während Walker selbst mit seiner klagenden, gealterten Stimme seinen eigenen Song geradezu heimsucht wie ein Geist. Manchmal ist es eine unterschwellige Melodie wie in „Face On Breast“. Diese kommt mit sehr subtilen Dissonanzen daher, die sich richtig schön fies ins Unterbewusstsein schleichen, ohne das größere Gebilde zu beeinträchtigen. Gerade hier meistert Walker die Kunst, das Verstörende an seiner Musik schmackhaft zu verpacken, ohne dessen Effizienz zu verwaschen. Manchmal ist es dann aber doch eine Eruption, die einen so richtig auf dem falschen Fuße erwischt. „The Cockfighter“ läuft hier mit seinem lärmenden Schlagzeug zur Hochform auf, das wie aus dem Nichts auf den Hörer herein kracht. Hat schon was von den lärmenderen NINE INCH NAILS.
Und doch findet Scott Walker Platz für das Ästhetische
Doch tatsächlich finden sich auf „Tilt“ immer wieder Momente von schier unwirklicher, musikalischer Schönheit, die sich oft raffiniert unter der Oberfläche verstecken, aber dafür umso effektiver im Gesamtbild eingefügt sind. Weniger subtil ist das noch bei „Farmer In The City“ welches das das Album eröffnet und durch elegische Streicher getragen wird. Die verleihen dem Song noch eine Vertrautheit, die kaum auf das Folgende hindeutet. Eine gute Wahl für einen Opener, der Song geht zusammen mit „Manhattan“ und „Bolivia ’95“ noch am souveränsten in die Gehörgänge rein, während der Rest der Tracks schon eher eine gewisse Eingewöhnungszeit fordern.Doch selbt in den düstersten Momenten des Albums finden sich diese Silberstreifen am Horizont.
Einem BOHREN & DER CLUB OF GORE nicht ganz unähnlich schürt Walker vor allem durch die bereits erwähnte Zurückhaltung Erwartungen, die sich eher noch weiter hin zu etwas Monströsem verdrehen, bevor Walker die Spannung auflöst. Doch gerade so Passagen wie im Mittelteil von „Bouncer See Bouoncer“, die vor anderem musikalischen Kontext eher cheesy wirken würden, klingen hier passend und – tatsächlich – wohltuend. Kleine, erholsame Oasen der Harmonie belohnen den Hörer auf diese Weise immer mal wieder für das Durchhaltevermögen in einem ansonsten eher trostlosen Album. Doch die Trostlosigkeit nimmt nie Überhand, da die Kompositionen auf „Tilt“ einerseits sehr ausgewogen sind, was letzten Endes für eine hervorragende Hörbarkeit sorgt, andererseits auch dank der guten, klaren Produktion richtig schön in Szene gesetzt werden.
Ein künstlerischer Befreiungsschlag
Man muss sich beim Hören dieses Albums einfach auf der Zunge zergehen lassen, wo Scott Walker eigentlich mal angefangen hat: Als Popstar. Einen derart radikalen, künstlerischen Befreiungsschlag legen die wenigsten Künstler hin, vor allem nicht in heutigen Zeiten, in denen sich die meisten Musiker nur noch an den radiotauglichen, gut verkäuflichen Blaupausen orientieren. Gerade in diesen Zeiten ist ein Album wie „Tilt“ und das, was es auch fernab der Musik darstellt, eine absolute Wohltat. Zumal die dahinterstehende Musik einfach nur großartig ist und vor allem denjenigen, für die Atmosphäre im Rock wichtig ist, wärmstens ans Herz gelegt sei.
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