Unter "Blast From The Past" erscheinen jeden Mittwoch Reviews zu Alben, die wir bislang nicht ausreichend gewürdigt haben. Hier gibt es alle bisher erschienenen Blast-From-The-Past-Reviews.
Im Mai 1972 steht „Exile On Main St.“, das zehnte Album von THE ROLLING STONES, in den englischen Plattenläden. Wenn es um das herausragende oder bedeutsamste Werk von THE ROLLING STONES geht, dann fällt oft der Name der Doppel-LP aus dem Jahre 1972. Das überrascht auf dem ersten Blick, da sich nicht die großen Hits der Band auf „Exile On Main St.“ befinden.
Was macht die Faszination von „Exile On Main St.“ aus?
Die Aufnahmen streckten sich über zwei Jahre und wurden in Südfrankreich durchgeführt. Die Bandmitglieder lebten mittlerweile aus steuerlichen Gründen im Ausland, sodass die unorganisierten Nellcôte-Sessions stundenlang bis in die Nacht andauerten, wobei das Personal von Tag zu Tag stark variierte. Die Aufnahmen wurden mit Overdub-Sessions im Sunset Sound in Los Angeles abgeschlossen, wobei zusätzliche Musiker wie der Pianist Nicky Hopkins oder der Saxophonist Bobby Keys zum Einsatz gekommen sind. Die daraus resultierende Musik war in Blues, Rock and Roll, Swing, Country und Gospel verwurzelt, während die Texte Themen im Zusammenhang mit Hedonismus, Sex und dem aktuellen Zeitgeschehen behandelten.
Einer der bekanntesten Songs auf „Exile On Main St.“ dürfte „Happy“ sein. Das große Unterscheidungsmerkmal ist der Gesang. Nicht Mick Jagger, sondern Keith Richards sorgt für den Leadgesang. Richards schrieb im Sommer 1971 in der Villa Nellcôte den Song an einem einzigen Nachmittag, wobei er Bass, Gitarre und Gesang beisteuerte, Produzent Jimmy Miller das Schlagzeug übernahm und Saxophonist Bobby Keys an den Maracas zu hören ist. Ab 1972 gehört „Happy“ zu den Bestandteilen eines Live-Konzerts der STONES, wobei Richards Sangeskünste immer für Diskussionsstoff sorgen.
„Tumbling Dice“ auf halbem Weg zwischen einem langsamen und geradlinigen Rocker
Die weiteren Singleauskopplungen sind die Country-Ballade „Sweet Virginia“ und der Top-Ten-Hit „Tumbling Dice“. Während „Sweet Virginia“ und vier weitere Songs bezüglich des Rechtsstreits zwischen Allen Klein und den ROLLING STONES größere Bekanntheit erreichte, ist „Tumbling Dice“ eine Nummer, welche auf diversen Best-of-Scheiben zu finden ist.
„Tumbling Dice“ ist bekannt für seinen Groove und beeinflusste Musiker wie Joe Perry von AEROSMITH oder Joe Strummer von THE CLASH. Strummer sagte, „Tumbling Dice“ hat „kein geradliniges Tempo“, sondern „auf halbem Weg zwischen einem langsamen und geradlinigen Rocker“. Während viele Songs der STONES die gleiche Anzahl von Zeilen für die Strophe oder den Refrain haben, hat die erste Strophe von „Tumbling Dice“ acht, die zweite sechs und die dritte zwei Zeilen. Der erste Refrain des Liedes hat zwei Zeilen, der zweite drei und der dritte zwölf Zeilen. Der Refrain kommt ohne Klavier, Bass und Schlagzeug aus und die Backing Vocals singen „You got to roll me“.
Insgesamt 18 Songs mit einer Laufzeit von circa 66 Minuten pressen die Stones auf „Exile On Main St.“. Die beiden Opener „Rocks Off“ und „Ripp This Joint“ sind mehr im Rock & Roll verankert und zeigen die gesamte Ausrichtung der Doppel-LP hin zu mehr Rock, weniger Country und Blues.
Die Highlights stecken neben den bekannten Tracks in Nummern wie „Torn And Frayed“, „Sweet Black Angels“ (die B-Seite der Single „Tumbling Dice“), „Let It Loose“ oder „Shine A Light“, welche einen Country-Einfluss aufweisen aber mehr als Folk Rock oder Gospel Blues rüberkommen.
Aber auch gradliniger Rock ist auf dem Doppelalbum zu finden. „Down The Line“, die B-Seite von „Happy“, oder „Soul Survivor“ zeigen die Vielseitigkeit der STONES in den frühen 70er Jahren. „Exile On Main St.“ enthält verschiedene Variationen des Rock & Roll. Der Musikbiograph John Perry meint, dass die ROLLING STONES für das Album einen Stil des Hardrock entwickelt hatten, der modern und doch im Rock & Roll der 50er Jahre und im Swing der 30er und 40er Jahre verwurzelt ist.
„Exile On Main St.” in der Retrospektive
Überschattet wurde die Zeit der Aufnahmen vom täglichen Heroinkonsums Richards, der häufig seine Teilnahme an den Sessions verhinderte. Jagger und Wyman waren aus anderen Gründen öfters nicht vor Ort. Das führte dazu, dass die Band Songs in veränderten Formationen aufnehmen musste. Ein bemerkenswertes Beispiel ist die Aufnahme des bereits erwähnten Klassikers „Happy“.
Das Album wurde ursprünglich mit gemischten Kritiken aufgenommen, bevor es in im Verlauf der 70er Jahren zu einer positiven Neubewertung kam. „Exile On Main St.” wurde von vielen Kritikern als das beste Werk der ROLLING STONES und als Höhepunkt einer Reihe von sehr erfolgreichen Alben, nach den Veröffentlichungen von „Beggars Banquet“ (1968), „Let It Bleed“ (1969) und „Sticky Fingers“ (1971), angesehen. „Exile On Main St.” gilt als eine der gefühlvollsten Rock’n’Roll-Scheiben aller Zeiten, da sie alle wesentlichen Elemente des Rock & Roll bis 1971, wenn nicht darüber hinaus, nahtlos destilliert. Kommerziell war „Exile On Main St.” ein voller Erfolg und erreichte Platz eins weltweit, als die STONES 1972 ihre Amerika-Tour starteten.
Fest steht, dass „Exile On Main St.” sich in die Reihe von grandiosen Werken Ende der 60er / Anfang der 70er Jahre von THE ROLLING STONES einsortiert. Nicht alle Songs sind in der Einzelbetrachtung der große Hit oder können die Fans sofort mitreißen. „Exile On Main St.” wächst mit jedem Durchlauf und hat seine Besonderheiten nicht nur in „Happy“ oder „Tumbling Dice“.
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