Rammstein - Zeit

Review

RAMMSTEIN müssen im Prinzip nur atmen, und schon werden auf der ganzen Welt die obskuresten Fan-Theorien gebildet, wann und ob es neue Musik auf die Lauscher gibt. Und wenn es dann tatsächlich so unverhofft früh neue Songs gibt, es sind natürlich wieder elf Stück geworden, dann rastet die ganze Fangemeide aus, und selbst die große Boulevard-Presse hat zumindest am Releasetag kein anderes Thema mehr als die neue Platte der wohl weltbekanntesten deutschen Rockband. Höchste Zeit also, dass auch wir uns das neue Album „Zeit“ einmal näher angucken.

RAMMSTEIN haben sich für „Zeit“ weniger Zeit gelassen

Es mag der Pandemie geschuldet sein, aber die Stücke des Vorgängers „Rammstein“ von 2019, der erst knapp drei Jahre alt ist, sind immer noch die „neuen“ Stücke von RAMMSTEIN. Ein weiterer Grund ist natürlich, dass das vorletzte Album, „Liebe ist für alle da“ im Oktober schon seinen dreizehnten Geburtstag feiert. Schön zu sehen also, dass die sechs Herren es doch noch schneller können.

Untätig waren Teile der Band ohnehin nicht. Richard Z. Kruspe veröffentlichte erst vergangenes Jahr im Herbst den vierten EMIGRATE-Streich „The Persistence Of Memory“, und Till Lindemann hätte sich seine kinderunfreundlichen Russlandtrips wohl möglicherweise auch anders überlegt, wenn man die aktuelle Weltlage mit einbezieht.

Passend negativ beginnen RAMMSTEIN ihren achten Wurf mit „Armee der Tristen“, was sich genau so depressiv anhört, wie es der Titel vermuten lässt. Im Gegensatz zu den vergangenen Openern ist es kein richtiger Kracher, sondern eher ein gemächlich-melancholischer Song. Möglicherweise wäre der Titeltrack, der sich auf Position zwei wiederfindet und bereits mit seiner kontroversen Geburts-Szene im Video polarisierte, eine bessere Wahl gewesen.

Alles Ballade, oder was?

„Schwarz“ plätschert recht harmlos vorbei, bevor mit „Giftig“ das Album etwas an Fahrt gewinnt und einen künftigen Live-Refrain schafft, zusätzlich garniert wird das ganze mit ungewöhnlichen Keyboard-Spielereien. Das Stück erinnert im Refrain zudem sehr an die einstigen RAMMSTEIN-Vorbilder von OOMPH!, natürlich als Dero noch nicht wiedergeborener Christ war.

Die zweite Single „Zick Zack“ hatte mit dem extra dafür entworfenen Beauty-Magazin wohl die aufwendigste Promo-Kampagne und zeigt RAMMSTEIN von der subtil-kritischen Seite, die sie in ihren Songs gerne ausleben. Hinter dem harmlosen Titel „OK“ versteckt sich die im Refrain vielrezitierte Phrase „Ohne Kondom“, der Text dazu schlägt in die gleiche Kerbe wie die anderen schlüpfrigen Songs der Band.

„Meine Tränen“ kann vielseitig interpretiert werden, vom offensichtlichen Ansatz der häuslichen Gewalt gegen Kinder bis hin zur toxischen Männlichkeit („Ein Mann weint nur, wenn seine Mutter stirbt.“) und ihrem Ursprung. Das Stück ist richtig stark, sowohl im musikalischen Sinne als auch in der Gesangsleistung Till Lindemanns und dem vorgetragenen Text. Das erste Mal stellt sich hier Gänsehautfeeling ein.

Wer hat Angst vor RAMMSTEIN?

In der heutigen wohl keiner mehr. Lediglich mit ein paar clickbait-trächtigen Überschriften kann heute noch ein Pseudo-Skandal über die Band erschaffen werden, ein so angeblich skandalträchtiger Song wie „Deutschland“ ist auf „Zeit“ aber nicht zu finden. Die erstaunlich zahme dritte Single „Angst“ eignet sich dafür ebenso wenig wie das plakativ betitelte, aber auch nicht mehr großartig schockierende „Dicke Titten“. Dafür überzeugt die musikalische Untermalung von Lindemanns Beschreibung seiner präferierten Frauenfantasien.

Sehr irritierend ist dann „Lügen“, das wohl gefundenes Fressen für die Meta-Interpretation wäre. Auf der Oberfläche ein Song über Ehebetrug, betrügt sich Lindemann hier selbst, indem er seine großartige Stimme mit Autotune ruiniert. In Anbetracht der Tatsache, dass das bisher noch nie vorkam und auch auf dem Rest des Albums nicht vorkommt, werden noch einmal beide Augen zugedrückt, denn Autotune geht gar nicht! Mit „Adieu“ verabschieden sich RAMMSTEIN vom Album, gewagte Fantheorien, es soll ein Schwanengesang für die Band sein, bestätigen sich vorerst nicht.

Was kann „Zeit“ – und was nicht?

„Zeit“ ist wohl das ruhigste RAMMSTEIN-Album seit „Rosenrot“ und hat, ähnlich wie dieses, ein paar sehr gute, im Gedächtnis bleibende Stücke („Zeit“, „Giftig“, „OK“, „Meine Tränen“), Standardkost der Band („Armee der Tristen“, „Schwarz“, „Angst“, „Dicke Titten“) und einen Ausreißer nach unten („Lügen“). Fans haben das Album ohnehin schon im Regal stehen, wer aber – warum auch immer – jetzt erst in die Post-Pausen-Phase der Band einsteigen will, sollte lieber mit dem Selftitled beginnen, denn „Zeit“ ist gut – „Rammstein“ ist besser.

01.05.2022

Redakteur für alle Genres, außer Grindcore, und zuständig für das Premieren-Ressort.

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