Radiohead - Kid A

Review

Wie gehen unterschiedliche Bands mit Burnout und vergleichbaren Symptomen um, gerade wenn sie von der eigenen Musik gelangweilt oder gar angewidert sind? Eines der populärsten Beispiele dürfte „Kid A“ sein, das vierte Werk der Briten RADIOHEAD. Die hatten das Album als eine Art Protestreaktion auf ihren eigenen Erfolg und den damit einhergehenden Nachahmern ihres Stils konzipiert, den sie mit ihrem legendären Drittwerk „OK Computer“ nahe an die Perfektion getrieben haben. Gitarren standen hier nicht mehr im Vordergrund, stattdessen bewegten sich Thom Yorke und Co. mehr in elektronischere, Ambient-lastigere, teils jazzige, vor allem aber: songschreiberisch abstraktere Gefilde.

RADIOHEAD und die radikale Selbst(neu-)findung

Der Weg dorthin war alles andere als ein leichter und vermutlich hätte die Band hieran auch zerbrechen können, wenn man sich die Kommentare der Bandmitglieder zu den Sessions durchliest, bei denen auch das Material für den Nachfolger „Amnesiac“ sowie weitere, spätere Alben entstanden ist. Yorkes Problem mit der eigenen Musik hat die Band vor die schwierige Aufgabe gestellt, ein Album fernab der Rock-typischen Konventionen aufzunehmen, was leichter gesagt als getan ist. Das zwang die Band unter der Aufsicht des „OK Computer“-Produzenten Nigel Godrich dazu, intensiv mit Effekten und Klängen zu experimentieren. Yorke, der zu dem Zeitpunkt nach eigener Aussage vermehrt elektronische Musik gehört hat, wollte seine Stimme mehr als Instrument einsetzen denn als Sprachrohr.

Die Band wechselte im Verlauf des Schaffensprozesses mehrfach das Studio und die Bandmitglieder mussten sich damit abfinden, nicht auf jedem Song zu hören zu sein. Die Band wurde teilweise sogar in zwei unterschiedliche Gruppen unterteilt, um das Material auszuarbeiten. RADIOHEAD begannen, mit Samples von Radiostationen oder Computer-Musik (das Stück „Mild und Leise“ von Paul Lansky, das auf „Idioteque“ zu hören ist), Sustain-Effekten auf den Gitarren, Ring-Modulatoren für Yorkes Stimme und für Rock ungewöhnlichen Instrumenten wie die Ondes Martenot zu experimentieren. Außerdem entfernte man sich von gewöhnlichem Songwriting, wobei „Optimistic“ noch relativ zugänglich und rockig geraten ist.

Ein organisch dahinfließendes Flickwerk?

Der gesamte Schaffens- und Leidensprozess hin zu „Kid A“ im Detail, der hier nur ganz knapp angerissen worden ist, liest sich wie ein filmreifes Drama über künstlerische Blockaden und wie die Band es geschafft hat, diese zu überwinden und bei allen Schwierigkeiten am Ende doch bei einem fertigen und derart einflussreichen Album herauszukommen. „Kid A“ bietet seit seinem Erscheinen Stoff für Diskussionen, da seine Qualität mit seinem radikalen Schaffensprozess eng verbunden ist. Für die einen ist es ein Meisterwerk, für die anderen ein Experiment um des Experimentierens Willen. Es ist in jedem Falle elektronischer, atmosphärischer und steht mehr dem Post-Rock, teilweise auch Krautrock und Trip Hop nahe als dem Alternative.

Deshalb hat „Kid A“ auch eine ziemlich eigenwillige Energie bzw. Dynamik inne, durch die das Album mehr wie eine Art Sammlung musikalisch in sich geschlossener und doch lose miteinander verknüpfter Fragmente anmutet. Die musikalische Reichweite ist schon ordentlich, wobei rockige Nummern wie das erwähnte „Optimistic“, aber auch „In Limbo“ und „Morning Bell“ dank des melancholischen, irgendwie neurotischen Grundtons und ihrer repetitiven Beschaffenheit problemlos neben den elektronischeren Tracks der Marke „Everything Is In Its Right Place“, „Kid A“ oder „Idioteque“ stehen. Das Album hat einen beachtlichen Fluss dank dieser konsistenten Stimmung.

„Kid A“ – ein höchst erfolgreiches Experiment

Viel wichtiger ist hier aber die Bedeutung, die „Kid A“ an sich hat. Denn es zeigt eine Band, die sich auf Gedeih und Verderb weiterentwickeln wollte und dies auch geschafft hat. Der kommerziell wirksame Stillstand ist für RADIOHEAD nicht in Frage gekommen, ein Umstand, den gerade Thom Yorke auch im Hinblick auf den Hit „Creep“ gerne ironisch bis sarkastisch kommentiert. Nicht nur auf Platte zeichnete sich das ab, sondern auch in der Promotion, bei der die Band auf Vorab-Singles im klassischen Sinne verzichtete und das Internet als Plattform nutzte. Diese Gegen-den-Strich-Mentalität würde sich die Band beibehalten, berüchtigterweise vor allem auf „In Rainbows“.

Doch auch wenn man der Band förmlich unterstellen möchte, absichtlich ein für durchschnittliche Gaumen unzugängliches Album aufgenommen zu haben, haben sie es doch geschafft, mit der Platte in den britischen Charts abzuräumen und sich im Nachgang zahlreiche Anerkennungen von der Fachpresse abzuholen. Darüber hinaus wird die Platte auch heute an vielen Stellen als das beste Werk der Band geführt. Für andere nimmt etwa „OK Computer“ diese Stellung ein. Unabhängig davon bleibt „Kid A“ eine bedeutsame Platte für RADIOHEAD, die vor der Deflation ihres eigenen Stils durch sie selbst und ihre Epigonen mit einem geradezu radikal andersartigen Werk geflohen sind. Und der „Fluchtweg“ führte sie dabei weiter nach vorne.

22.04.2020

Redakteur für Prog, Death, Grind, Industrial, Rock und albernen Blödsinn.

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