Fragen, die sich im 21. Jahrhundert häufen: Warum ist der Winter mittlerweile so warm? Warum ist der Sommer mittlerweile so kalt? Und: Warum ist klassischer Progressive Rock mittlerweile eines der unprogressivsten Subgenres überhaupt?
Letztere Sinnkrise ergibt sich jedenfalls nach ein paar Hördurchläufen des aktuellen PREMIATA FORNERIA MARCONI-Studioalbums „Emotional Tattoos“. Ähnlich generisch wie das körperliche Zur-Schau-Stellen von nicht entfernbarem Tintenschmuck kommt nämlich auch die Prog-Interpretation der italienischen Veteranen im Jahr 2017 daher. Wurde die Band um Drummer Franz Di Cioccio in den 70er-Jahren für ihr Amalgam aus Briten-Prog und klassischer Symphoniemusik gefeiert, erliegt die Truppe heutzutage der ganz normalen Pop-Rock-MARILLION-Krankheit.
Von der ersten bis zur letzten Sekunde generisch
So zaubert Di Cioccio zwar so manch hübsche Gesangsmelodie aus dem Hütchen, doch gerade fernab der cineastischen Balladen bleibt „Emotional Tattoos“ in Sachen Dynamik und Druck weit hinter dem Durchschnitt zurück. Gewiss von nicht untalentierten Musikhochschul-Absolventen zusammengezimmertes Gitarren- und Synthgenudel macht sich breit, dabei kann sich das absolut generische Material vor milliardenfach durchgekauter Anspielungen kaum retten. Ein paar GENESIS-Vibes hier, ein YES-Organsolo da, DEEP PURPLE-Wechselspiele – wunderbar.
„A Day We Share“ hält verzweifelt die letzten Reste möglicher Weltmusik-Einflüsse hoch, doch nur wenig später übertüncht das übliche chromatische Dur-Melodie-Gewürfel die Ansätze aus Afrobeats und fremdländischen Tonleitern. Selbst die Kusshand, die hier eine kurze Vorlage zu Bruford’scher Polyrhythmik serviert, lehnt PREMIATA FORNERIA MARCONI spuckend ab. „Emotional Tattoos“ bewahrt sich seine unspektakuläre Natur mit einer Selbstverständlichkeit, die man so nicht einmal mehr von den abertausenden Prog-Metal-Supergroups gewohnt ist, die mit ihrem Material derzeit die Pressewerke verstopfen.
Ohne jeden Mut zum Risiko
Dabei teilen sich PREMIATA FORNERIA MARCONI mit diesen am Ende ein und dieselbe Grundproblematik: Starke Instrumentalisten, die im einstigen Strebergenre jedes Fünkchen Mut zum Risiko eingebüßt haben. 48 Jahre nach „In The Court Of The Crimson King“ ist „Emotional Tattoos“ das Protokoll eines Fackellaufs, dessen zu schützende Flamme längst erloschen ist. Freundlich ignorieren, weiterschlafen.
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