Paradise Lost - Shades Of God

Review

Unter "Blast From The Past" erscheinen jeden Mittwoch Reviews zu Alben, die wir bislang nicht ausreichend gewürdigt haben. Hier gibt es alle bisher erschienenen Blast-From-The-Past-Reviews.

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Im Juli 1992 veröffentlichen PARADISE LOST ihr drittes Album „Shades Of God“, das erneut von Wandel geprägt ist.

Im Schatten Gottes – die Entwicklung zu „Shades Of God“

PARADISE LOST begannen mit ihrem zweiten Album „Gothic“, sich langsam aber sicher von ihren Wurzeln im Death Metal zu lösen. Zwar stilistisch immer noch im Death Doom Metal, öffneten sich die Briten und ließen Einflüsse des Gothic Rock sowie klassischer Musik in ihre Kunst einfließen. PARADISE LOST wagten mehr Melodie, boten mit den neuen symphonischen Elementen und dem stärken Einbinden von theatralisch wirkenden, weiblichem Gesang neue Akzente. Ganz nebenbei erschufen sie mit diesem Referenzwerk, auf das sich viele nachfolgende Bands berufen werden, das neue Genre Gothic Metal und gaben dem später entwickelten Symphonic Metal erste wichtige Impulse. „Gothic“ ist das Bindeglied zwischen den Wurzeln im Death Metal und der in Folge deutlich melodischeren Ausrichtung von PARADISE LOST. „Shades Of God“ geht weiter und ist in mancher Hinsicht auch anders. Und doch lässt die düsteren Briten ihre Todesblei-Vergangenheit nicht los, so dass auch dieses Album einen Zwischenschritt darstellt.

PARADISE LOST erklimmen die nächsthöhere Karrierestufe

Nachdem PARADISE LOST ihre ersten beiden Alben beim damals kleinen Label Peaceville Records veröffentlichten, konnten sie erste größere Verkaufserfolge insbesondere mit „Gothic“ erzielen. Mit der schnellen Entwicklung konnte die Plattenfirma nicht mithalten. Da die Band auch nicht langfristig im Vertrag gebunden war, traten nun große Labels an die Briten heran, darunter Roadrunner und auch Metal Blade. Das Rennen machte letztendlich die englische Firma Music For Nations. Bis dahin hatten die noch keine Band ihrer Heimat groß rausgebracht, vielmehr bildeten Lizenzverträge (u. a. METALLICA, MEGADETH, W.A.S.P.) die Grundlage ihrer ersten Jahre und ihres Erfolgs.

PARADISE LOST erreichten damit die nächsthöhere Karrierestufe. Nicht nur konnten die Bandmitglieder nun zum ersten Mal in zunächst bescheidenem Rahmen von ihrer Musik leben. Aufgrund der Lizenzverträge (Music For Nations mit Metal Blade Records) gab es nun auch einen Vertrieb für die USA, größere Budgets für Produktionen wie für Promotion.

Alles wird professioneller

Wandel liegt in der Luft. Mit der Weiterentwicklung von PARADISE LOST und neuem Label wird alles professioneller. Das zeigt sich offensichtlich mit dem surrealen, avantgardistischen Artwork des Künstlers Dave McKean, das keinen Bezug zu den Metalwurzeln der Band hat. Nach dem futuristischen, wenig passenden Cover von „Lost Paradise“ und der eigenwilligen Darstellung von „Gothic“ zeugt das Bildnis von Reife und Kunstverständnis. Passend dazu ist das verschnörkelte Logo ihrer Death Metal Vergangenheit entschlackt, reduziert und angepasst.

Für die Produktion von „Shades Of God“ wechseln PARADISE LOST in die Longhome Studios in Northamptonshire. Die Aufnahmen finden innerhalb von fünf Wochen zwischen März und April 1992 statt. Als Produzent verpflichten PARADISE LOST den jungen und noch wenig bekannten Simon Efemey. Der hatte zwar bisher keine Metalband produziert, ist aber großer Fan der Musikrichtung. Den Ausschlag für die Verpflichtung gibt die hohe Klangtreue seiner Produktionen, was nun auch PARADISE LOST zugutekommt. Mit „Shades Of God“ hebt er die melodische Seite der Band hervor.

Insbesondere der Gitarrensound profitiert enorm von der Zusammenarbeit. Klarer und gleichzeitig druckvoller, zudem findet Aaron Aedy seinen eigenen Gitarrenklang, der sich mit seinem trockeneren Klangbild nun stärker von Mackintosh unterscheidet. Der gesamte Klang ist deutlich druckvoller und transparenter. Efemey sorgt dafür, dass die Musiker nun sauberer, noch präziser zusammenspielen und greift etwas in die Struktur der Stücke ein. PARADISE LOST werden zum ersten Mal richtig produziert. Gleich einem Rohdiamanten, der mit „Gothic“ schon glänzte, dem mit etwas mehr Feinschliff jetzt zu vollem Glanz verholfen wird.

Kein weiteres „Gothic“

Nach dem Erfolg von „Gothic“ liefern PARADISE LOST mit „Shades Of God“ nicht unbedingt das, was viele erwarten. Es ist weder eine noch dramatischere Symphonie, noch sitzt der Fokus auf noch mehr Frauengesang. Die Schöne und das Biest sollen andere machen. Die symphonischen Elemente sind nicht stärker ausgebaut oder das Keyboard in den Fokus gestellt. PARADISE LOST treten nicht auf der Stelle und sind wieder den einen entscheidenden Schritt weiter.

Der unbedingte Wille zur Weiterentwicklung

Mit „Shades Of God“ machen PARADISE LOST wieder einen großen musikalischen Schritt. Die Stücke sind komplexer, vielschichtiger, durchkomponierter und abwechslungsreicher. Teilweise verabschieden sich PARADISE LOST vom gewöhnliche Strophe-Refrain-Strophe Muster. Hauptkomponist Mackintosh verknüpft eine deutlich gestiegene Anzahl an Riffs und Leads elegisch miteinander, was in der Folge zu fast schon ausufernden Songstrukturen führt. Der Großteil der Songs liegt zwischen fünf bis teils über sieben Minuten Spielzeit. Die tieftraurigen Gitarrenlinien sind deutlich ausgereifter, filigraner, spielerisch fordernder und gleichzeitig eingängiger, haben ein ganz neues Level erreicht. Gerade die harmonischen Leads und Soli haben derart viel Feeling, das auch heute noch seinesgleichen sucht.

Der Gitarrensound ist endgültig definiert und bleibt, abgesehen von wenigen Ausnahmen, bis heute fester Bestandteil des charakteristischen Klangbilds von PARADISE LOST. Die ruhigen Akustikgitarrenarrangements sind weiter ausgebaut und besser, songdienlicher integriert. Das wieder führt zu einem deutlich dynamischeren Klang als bei den Vorgängern.

Demgegenüber spielen weder Keyboard noch symphonische Elemente bei PARADISE LOST 1992 irgendeine Rolle. Von der minimalistischeren Instrumentierung profitieren natürlich in erster Linie die Gitarren, die stärker im Fokus liegen. Der Sound ist organischer. Auch Bass und Schlagzeug gewinnen deutlich an Profil. Steve Edmondson hat sich ebenfalls gehörig gesteigert, sein Bassspiel hat sich endgültig von den Gitarren emanzipiert. Schlagzeuger Matthew „Tuds“ Archer liefert die wahrscheinlich beste Lieferung seiner Karriere und wird hier mehr denn je an sein Limit getrieben.

Dieser Evolution steht Nick Holmes in nichts nach. Der Sänger ist dem einseitigen Growling überdrüssig geworden. Stattdessen mischt Holmes Growls und rauen, aber melodischeren Gesang, der näher an seiner natürlichen Singstimme ist. Das verleiht den gesungenen Worten mehr Verständlichkeit, Ausdruck und Emotionalität, die neu vorherrschende Dynamik und Spannung sind weiter gesteigert. Die Reife und Ausdruckstärke, mit der er „Icon“ trägt, hat Nick noch nicht ganz erreicht. Eine gehörige Weiterentwicklung ist das aber allemal.

Die Growls sowie einige treibende Rhythmen und Riffs sind die letzten Überbleibsel des Death Metals. PARADISE LOST sind mehr Doom und Gothic und auch Heavy Metal. Zusammengehalten von einer intensiven, düsteren und melancholischen Atmosphäre, die sich in den epischen Stücken immer weiter steigert.

„Shades Of God“ ist filigran und das musikalisch forderndste Album der frühen und mittleren PARADISE LOST.

Ein Album voll dunkler Perlen

PARADISE LOST eröffnen „Shades Of God“ mit „Mortals Watch The Day“. In der treibenden Strophe mit Powerchords blitzt hier der Death Metal der Vergangenheit auf, der eingängige Refrain ist veredelt durch Holmes raue Stimme. Ein echter Ohrwurm, wie ihn PARADISE LOST hier zuhauf bieten. Ein kummervoll melodisches Vibrato von Mackintosh eröffnet das epische „Crying For Eternity“. Dazu ein weiteres Duett zwischen Nick und Gastsängerin Sarah Marrion im Refrain. Nach einem längeren cleanen Gitarrenbreak folgt eine Überleitung in eine harmonisch vielseitige Bridge, ein Zeugnis der nun deutlich komplexeren Songstrukturen. Das Stück „Embraced“ beginnt doomig mit schwerer Akkordfolge, der lange Refrain ist von originellen Melodielinien gekrönt, die für das Album und auch für die weitere Entwicklung von PARADISE LOST so prägend sind. „Daylight Torn“ lebt von Obertonharmonien, wunderbar eingebetteten Akkustikarrangements. Zwar fehlt ein richtiger Refrain, die Zeile „Your Christ Is Failing You“ dient aber als Leitmotiv. Den Mittelteil trägt Aarons Akustikgitarre, ehe die komplette Band wieder einsteigt und einen Teil der Passage aufgreift. PARADISE LOST erreichen hier eine Dynamik und einnehmende Tiefe, die zuvor undenkbar waren.

Auch im treibenden, für PARADISE LOST fast schon rasanten „Pity The Sadness“ greifen die Briten noch einmal ihre Todesblei-Vergangenheit auf. Das eingängige Stück ist getragen von einem präganten Leitriff und ausgefeilten Leads. Gänsehaut von Anfang bis Ende. „No Forgiveness“ ist wieder mit Akustikgitarre eingeleitet, während der schleppende Mittelteil fast schon Sludge ist. Ein Stakkato-Part leitet die Wende ein. In den Leads fühlt man sich immer mal wieder an AUTOPSY erinnert, wobei dies eher auf gemeinsame Einflüsse zurückzuführen sein dürfte. Ein kleiner Ohrwurm ist auch „Your Hand In Mine“, das würdevoll das Erbe von BLACK SABBATH atmet. Episch angelegt, melodischer Gesang und der eingängigste Refrain von „Shades Of God“. Das vertraut kriechende Hauptriff von „The Word Made Flesh“ folgt den Spuren von CANDLEMASS/SABBATH. Ausschweifende melancholische Gitarrenorgien zwischen Aaron und Greg setzen Akzente in dem Genre, sind aber perfekt songdienlich integriert. Gerade in dem Reigen an Soli und Leads erkennt man auch die große Entwicklung, die PARADISE LOST innerhalb von vier Jahren nach Bandgründung durchlaufen haben.

Der erste Hit von PARADISE LOST sollte ursprünglich nicht aufs Album

Aus heutiger Sicht mutet es unglaublich an. Ausgerechnet „As I Die“ wollten PARADISE LOST ursprünglich nicht aufs Album nehmen. Tatsächlich ist es auf der CD als Bonus-Track ausgewiesen, auf der Schallplatte nicht enthalten. Die Band hielt das simpel gehaltene Stück zunächst für zu oberflächig, zu griffig, zu wenig qualitativ. Die Plattenfirma überredete PARADISE LOST, das Stück beizubehalten, und spendierte sogar ein Video. In der Folge wurde das Stück auch durch MTV bekannt und verhalft damit auch dem Album zu größerer Popularität.

Das eingängige Stück lässt sich mit „Shattered“ von „Gothic“ vergleichen, ist aber deutlich leichter und weniger bedrohlich und zeigt den stärkeren Einfluss von Gothic Rock wie THE SOUTHERN DEATH CULT.

„Shades Of God“ ist das Bindeglied zwischen „Gothic“ und „Icon“

Mit „Shades Of God“ führen PARADISE LOST die Entwicklung von „Gothic“ weiter zu mehr Melodie, noch weniger Death Metal, mehr Doom und mehr Gothic. In der Struktur und Musikalität komplexer, in der Instrumentierung reduzierter und damit organischer. Die geradezu typischen, unverwechselbaren kummervollen PARADISE LOST-Melodielinien sowie der Gitarrensound sind zum Trademark vollendet, auch Holmes Gesang gewinnt deutlich an Identität. Die endgültige Reife erreicht er aber erst mit „Icon“.

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14.02.2024

Geschäftsführender Redakteur (stellv. Redaktionsleitung, News-Planung)

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5 Kommentare zu Paradise Lost - Shades Of God

  1. noehli69 sagt:

    Auch hier, von mir, volle Punktzahl. Hat mich seiner Zeit voll abgeholt und tut es immer noch…und ja, die nächsten beiden bekommen von mir auch den 10er gedrückt, nach wie vor ist die frühe PL Phase fester Bestandteil meiner Playlists.

    10/10
  2. ArtBeck sagt:

    Kein anderes PL-Album habe ich so oft und so intensiv „gefressen“ wie „Shades of god“.
    Auch wenn musikalisch noch Luft nach oben war und mMn der Höhepunkt auf „Draconian Times“ erreicht wurde, ist hier die Band-DNA in purer Schönheit zu erleben: in Klang gefasste Melancholie am Abgrund, düster und dennoch kraftvoll. Alles, was danach folgte, ist „schöner, friedlicher“ und viel indirekter, wenn auch dynamischer und pointierter, insbesondere was das Drumming angeht. „SoG“ bleibt mein PL-alltime-fave.

    10/10
  3. Pumpkineater sagt:

    Für mich eines der eher schwächeren Alben von PL. Der jeweils direkte Vorgänger und Nachfolger waren/sind deutlich besser. Die Ausnahme ist „As I Die“, ein absolut genialer Song, der sich sehr vom restlichen Material unterscheidet und auf dem Album auf CD auch nur als Bonustrack erschien.

    7/10
  4. mafo77 sagt:

    Ich gehöre zu jener Fraktion, die sogar von „gothic“ bis „one second“ alles genial finden. Habe danach den Bezug zur Band etwas verloren. Aber spätestens mit „tragic idol“ (eigentlich sogar seit der „faith divides us…) bin ich wieder voll dabei. Ähnlich wie bei my dying bride empfinde ich hier einfach einen bandtypischen Wiedererkennungswert.

    9/10
  5. marcmorgenstern sagt:

    1992 mein Einstieg ins „verlorene Paradies“. 😁 „As I die“ auf MTV gesehen … am nächsten Tag ab in den Plattenladen. 🙈 Warum nur ne „Neun“? „Icon“ und „Draconian Times“ waren danach halt doch noch den ganz bestimmten Tacken besser.

    9/10