Paradise Lost - Icon

Review

Im September 1993 veröffentlichen PARADISE LOST ihr viertes Album „Icon“, dass den endgültigen Durchbruch bringt und das Klangbild zementiert, mit dem die Briten seither assoziiert sind. Im letzten Jahr erschien pünktlich zum 30. Jubiläum eine neu aufgenommene Version des Klassikers. Hier widmen wir uns aber natürlich dem Original.

Auf dem Weg zur Ikone – die Entwicklung zu „Icon“

Beständige Veränderung und Weiterentwicklung prägten die immer professionellere Evolution von PARADISE LOST. Von den noch ruppigen, unreifen Anfängen im Death (Doom) Metal mit „Lost Paradise“, über den teils symphonischen Death Gothic Doom Metal von „Gothic“ bis zum vielschichtigen, komplexen wie hochmelodischen „Shades Of God“ mit seinen ausufernden Songstrukturen, dass eine stärkere Abkehr der todesmetallischen Vergangenheit mit sich brachte. Der unbedingte Wille zur Weiterentwicklung, machte die Band nicht nur unvorhersehbar, sondern machte aus PARADISE LOST echte Vorreiter. Innovatoren im extremen Metal, die auch Dank Label Wechsel immer erfolgreicher wurden. PARADISE LOST waren mit ihren ersten drei Alben stets den einen entscheidenden Schritt voraus, wo andere nur folgen konnten.

PARADISE LOST setzen einerseits auf Konstanz

PARADISE LOST hatten „Shades Of God“ zusammen mit Produzent Simon Efemey aufgenommen. Dies war eine äußerst positive Erfahrung. Zum ersten Mal wurden die Briten richtig produziert. Simon hob die melodische Seite der Band hervor. Das Album hatte eine hohe Klangtreue, klar und druckvoll. Der Gitarrensound wurde endgültig definiert.

Für „Icon“ vertrauen PARADISE LOST wieder Efemey und Tontechniker Pete „Pee Wee“ Coleman. Die Aufnahmen finden im Juni und Juli 1993 in den in Jacobs Studios in Surrey statt. Das Klangbild ist wärmer und dichter als beim Vorgänger. Und die Musik ändert sich – wieder einmal.

Beim Cover bleiben sich PARADISE LOST treu und bleiben fernab üblicher Metal Stereotypen. Das stilvolle, nachdenklich machende Bildnis stammt aus dem Londoner Designstudio Stylorouge, die bereits für THE CURE oder PINK FLOYD gearbeitet hatten. Fotograf Matt Anker lichtete das Model ab, bei Stylorouge wurde das Bild gestreckt, um eine dreidimensionale Wirkung zu erreichen. Das Bildnis von bedingungsloser Liebe und Verehrung falscher Idole ist abseits gängiger Metal-Trends und zeugt vielmehr von Reife. Passend zum Cover ist der PARADISE LOST Schriftzug mit altertümlich wirkender Typografie neugestaltet. Diesen verwenden die Briten bis auf einige Ausnahmen bis heute.

Das Songwriting erfolgt wieder mit der strikten wie bewährten Trennung von Greg Mackintosh (Musik) und Nick Holmes (Texte).

PARADISE LOST wagen andererseits wieder Neues

Wo das düster-dramatische wie komplexe „Shades Of God“ eine reichhaltige Fülle aus mäandernden Riffs und ausgefeilten Leads in ausufernden Songstrukturen bot, in jeglicher Hinsicht spielerisch fordernder als die ersten beiden Alben war, ist „Icon“ wieder einmal genau das… nicht. Zwar beweisen PARADISE LOST hier erneut ihr hohes musikalisches Können, aber mit einem anderen künstlerischen Ansatz. Die Phase des Sturms und Drangs ist endgültig vorbei.

Angestachelt vom Erfolg des griffigen und ursprünglich nicht so richtig gewollten „As I Die“, versucht sich Mackintosh verstärkt an lehrbuchmäßigem Songwriting. Greg greift den Faden des eigenen Hitsongs auf und verknüpft ihn wiederrum mit dem Sound von Inspirationsgebern wie THE SISTERS OF MERCY und NEW MODEL ARMY. Gerade der Gothic-Sound ist stärker betont, ohne dabei den Doom Metal zu vernachlässigen. Denn wo „Shades Of God“ für PARADISE LOST Verhältnisse teils noch flotte Abschnitte bot, pocht das Herz auf „Icon“ langsam bis hin zu Midtempo.

Kein Song dauert länger als fünf Minuten. Die direkteren Stücke sind deutlich fokussierter, kompakter und kommen schneller auf den Punkt. Die Arrangements sind sorgfältig gestrafft und die Songs folgen einer strikten Struktur, die vielfältige Unterteilungen meidet. Gleichzeitig gewinnen Strophen und Refrains an Prägnanz. Alles ist zugänglicher, kommerzieller gestaltet, dabei stets betont melodisch. Atmosphärisch, melancholisch, immer wunderschön.

Schlagzeug und Bass spielen akzentuierter, ordnen sich aber stets dem Song unter. Den Keyboards wurde wieder etwas Platz eingeräumt.

Und Holmes singt. Nicht, dass er dies nicht bereits zuvortat, aber von den einstiegen Growls und damit dem letzten Überbleibsel des Death Metals hat sich Nick verabschiedet. Mit deutlich erweitertem Stimmumfang und gestiegener Ausdruckskraft singt der Fronter noch melodischer. Seine sonore, klare Stimme mit deutlicher Aussprache ähnelt in einigen Momenten der von James Hetfield von METALLICA.

Geblieben sind die tieftraurigen wie hymnischen Leads, elegante, kummervolle Vibrato und das prägnante, schwere wie effektive Moll-Riffing, die melodische Heaviness, zusammengehalten von eleganter Melancholie und dichter Atmosphäre. Neben Gesang stehen insbesondere die stimmigen, charakteristischen, in Folge oft kopierten Gitarren des genial aufspielenden Duos Mackintosch/Aedy im Mittelpunkt. PARADISE LOST sind noch immer die britischen Trauerweiden, aber reifer und erwachsener.

Ein Trauerspiel in 13 Kapiteln

PARADISE LOST eröffnen das Trauerspiel mit dem von Streichern eingeleiteten, getragen schreitenden wie monumentalen „Embers Fire“. In der Schnittmenge aus Heavy, Doom und Gothic Metal/Rock, erreicht Holmes hier seine bisher höchste Stimmlage. Fetter Gitarrensound, einprägsame Harmonien, großer Refrain, ein Hitsong. Das nachdenkliche „Remembrance“ bietet opulente Kadenzen und prägnante Powerchords. Im Refrain folgt Nick den Leads von Mackintosh. „Forging Sympathy“ verzichtet auf einen Refrain und lebt von druckvollen Gitarren in den Strophen und markanten, gefühlvollen Melodielinien, die fast hoffnungsvoll klingen.

Aber PARADISE LOST bleiben PARADISE LOST. Im schwermütigen „Joys Of Emptiness“ suhlen sich die Briten im Selbstmitleid. Der Refrain bleibt zunächst zurückhaltend und wird dann eindringlicher, sobald Greg diesem seinem Tapping Nachdruck verleiht. Dramatisch flächige Keyboards eröffnen das düstere wie filigran hymnische „Dying Freedom“. Gregs Harmonien leiten melancholisch drückend zum Refrain. Das flotte „Widow“ führt mit aufsteigender Akkordfolge bis hin zu Doublebass. Holmes grollt verfeinert und liefert starke Leitharmonien. Heavier ist kein Song auf „Icon“. Das groovende „Collossal Rains“ bietet großen Doom mit vielen Effekten und Samples, „Weeping Words“ ist treibend mit schwirrenden Leads, während das kompakte „Poison“ noch einmal die härtere Seite von PARADISE LOST zeigt. Dann der zweite echte Hitsong „True Belief“, bester eingängiger, intensiver wie fesselnder Doom mit grämlicher Stimmung. Ein Klassiker mit am Ende behutsam übereinandergelegten Stimmen. „Shallow Seasons“ überzeugt mit tollen Gitarrenharmonien, kann aber nicht ganz das hohe Niveau halten. Dafür überzeugt der Gruft-Rocker „Christendom“, hier übernimmt Gastsängerin Denise Bernard mit ihrer klaren, hohen wie melancholischen Stimme die Führung, was wie ein kirchlicher Choral wirkt. Im Zusammenspiel mit den klingenden, ergreifenden Gitarren ergibt sich eine intensive Atmosphäre. Den Abschluss von „Icon“ bildet das stimmungsvolle Outro „Deus Misereatur“.

Der große Durchbruch

Die kommerzielle Ausrichtung zahlt sich aus – „Icon“ ist der große Durchbruch für PARADISE LOST. Das Album steigt 1993 in die deutschen Album-Charts ein. Es folgen zig Features u. a. bei MTV „Headbangers Ball“, die auch das Konzert zum Release in Stuttgart mitfilmen.

Das letzte Album in der Urbesetzung

„Shades Of God“ wie „Icon“ sind spielerisch fordernder, wodurch Schlagzeuger Matthew „Tuds“ Archer mit seinem unorthodoxen, stärker auf Feeling als auf Technik beruhenden Stil, häufiger an seine Grenzen stößt. Archer entwickelt sich nicht in dem Maß weiter wie der Rest der Band, hinzu kommen Aussetzer und auffällige Fehler bei einigen Auftritten. In der Folge trennen sich PARADISE LOST im November 1994 von ihrem Drummer.

Ein großer Klassiker der Neunziger

„Icon“ setzt Maßstäbe für den Gothic Metal wie zur Charakteristik der Briten und ist einer der großen Klassiker der Neunziger. Über 30 Jahre nach Erstveröffentlichung hat das Album nicht an Bedeutung und Einflusskraft verloren. Das Werk hat einen entscheidenden Platz in der Diskografie von PARADISE LOST. Nicht wenige sehen „Icon“ als das PARADISE LOST Album schlechthin an. Ein weiterer eleganter Höhepunkt voll bildgewaltiger Schönheit!

13.03.2024

Geschäftsführender Redakteur (stellv. Redaktionsleitung, News-Planung)

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