Paradise Lost - Draconian Times

Review

Unter "Blast From The Past" erscheinen jeden Mittwoch Reviews zu Alben, die wir bislang nicht ausreichend gewürdigt haben. Hier gibt es alle bisher erschienenen Blast-From-The-Past-Reviews.

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Im Juni 1995 veröffentlichen PARADISE LOST ihr fünftes Album „Draconian Times“, dass die Popularität der Band noch weiter steigert.

Der steile Weg von PARADISE LOST nach oben

Mit ihrem vierten Album „Icon“, das endgültig mit den letzten Überbleibseln der Death-Metal-Vergangenheit brach, konnten PARADISE LOST 1993 ihren endgültigen Durchbruch erreichen. Das Album zementierte das Klangbild, mit dem die Briten seither assoziiert sind. Die musikalische Entwicklung führte zu lehrbuchmäßigem Songwriting mit griffigen, einprägsamen und kompakten Songstrukturen. Der Gothic-Sound wurde stärker betont, die für PARADISE LOST so prägenden Gitarren-Melodien und Gesang bekamen mehr Raum. Alles wurde zugänglicher, kommerzieller. Und Nick Holmes sang mit klarer Stimme. Das Album stieg in die deutschen Album-Charts ein und es folgten zig Features, unter anderem bei MTV. „Icon“ wurde in Folge als das PARADISE LOST Album schlechthin gesehen.

Ein erster Bruch im Bandgefüge

PARADISE LOST waren seit ihrer Bandgründung stets in derselben Besetzung. Eine Gruppe von Freunden, die miteinander Musik machte und sich beständig weiterentwickelte. Schlagzeuger Matthew „Tuds“ Archer konnte mit der Entwicklung aber nicht mithalten. Bereits mit dem spielerisch fordernden „Shades Of God“ war er an seine Grenzen gestoßen. Bei „Icon“ wurde es noch offensichtlicher. Durch die Verwendung von Keyboards, die bei Konzerten aus der Konserve kamen, wurde es notwendig, absolut akkurat nach Metronom zu spielen, das Gegenteil seines auf Feeling beruhendem Schlagzeugspiels. Dazu kamen Aussetzer und auffällige Spielfehler bei einigen wichtigen Auftritten.  Nick Holmes überbrachte die Nachricht an „Tuds“, fortan gingen sie getrennte Wege, blieben aber Freunde. Die Trennung wurde im November 1994 an die Presse kommuniziert. Für Matthew ging es anschließend als Produktionsassistent bei „Headbangers Ball“ von MTV weiter.

Doktor Avalanche half aus

Ohne Schlagzeuger und mit dem Wunsch von Music For Nations im Nacken, PARADISE LOST im Januar 1995 ins Studio zu schicken, holte sich Holmes von einem Freund Hilfe. Ein Drumcomputer des Herstellers Tascam, benannt nach Doktor Avalanche. Den Namen liehen sich PARADISE LOST von THE SISTERS OF MERCY, die ihren Drumcomputer des Modells Boss DR 55 ebenso nennen. Zwar verstand Nick wenig von der Funktionsweise des Drumcomputers, der zudem nur Synth-Pop-Sounds wie aus den Achtzigern erzeugen konnte, aber zumindest arbeitete die Band im Proberaum an neuen Stücken.

Ein neues Bandmitglied

Nach einigen erfolglosen Vorspielen verschiedener Drummer bei PARADISE LOST, erfuhr Lee Morris (ehemals MARSHALL LAW), damals Schlagzeuger bei den Funk-Rockern SLAM, von Paul Solynskyj (EXCALIBUR), dass die Band nach einem neuen Drummer Ausschau hielt. Mit seinen Wurzeln im harten Rock und Fusion-Bereich waren Morris PARADISE LOST bis dahin gänzlich unbekannt und das Genre fremd. Mark „Barney“ Greenway von NAPALM DEATH drängte ebenfalls Lee, sich zu bewerben.

Die Einladung zum Vorspielen folgte auf den Folgetag, weshalb sich Morris panisch die Alben „Shades Of God“, „Icon“ sowie die „As I Die“ EP auslieh, um die Songs innerhalb eines Tages ansatzweise lernen. Nachdem das Zusammenspiel der Songs nicht wirklich gut klappte, ein Tag Zeit reichte natürlich nicht aus, versuchte sich Lee an den neuen Kompositionen von PARADISE LOST. Hier konnte er seine Qualitäten ausspielen und die Ideen mit unterschiedlichen Akzenten und Verzierungen bereichern. Letztendlich bekam Morris nach einigen weiteren gemeinsamen Proben den Job.

Der Schlagzeugstil von Morris passte gut in die Entwicklung, die PARADISE LOST damals nahmen. Sein Spiel war punktgenau und kraftvoll, dabei aber auch progressiv.

Im Studio

Für die Aufnahmen wechselten PARADISE LOST wieder das Studio. Great Linford Manor war ursprünglich ein Landsitz aus dem 17. Jahrhundert mit großflächigem Gelände und Gästehaus, das Studio entstand in den Achtzigern und war kein Vergleich zur zweckdienlichen Enge der ersten Studios.

Erneut verpflichteten PARADISE LOST Produzent Simon Efemey, zum dritten Mal seit „Shades Of God“, sowie zum zweiten Mal Tontechniker Pete „Pee Wee“ Coleman. Die Kombination aus gediegenem Studio und bewährten Produktionsteam sorgten für eine ungezwungene Stimmung, wovon die Musik für „Draconian Times“ profitierte. Während des Produktionsprozesses folgte der Umzug ins Ridge Farm Studio nach Surrey, wo unter anderem die OZZY OSBOURNE Alben „Blizzard Of Ozz“ und „Diary Of A Madman“ entstanden. Eine große Sache für Aedy, bekennender Anhänger von Randy Rhoads.

Die Aufnahmen entstanden zwischen Januar bis März 1995. Zum ersten Mal überhaupt verwendeten PARADISE LOST im Studio ein Metronom. Mit dem unkonventionellen Spiel von Archer klang zwar alles sehr natürlich, erschwerte aber die Ergänzung von Gesang und weiteren Instrumenten. Ohne die kleinen rhythmischen Unregelmäßigkeiten klang die Band tighter. Für die Keyboards, die nun wieder mehr Raum bekamen, wurde Andrew Holdsworth als Studiomusiker verpflichtet.

Das Songwriter-Duo arbeitet nicht mehr alleine

Für alle vier bisherigen Alben erfolgte das Songwriting mit der strikten wie bewährten Trennung von Greg Mackintosh (Musik) und Nick Holmes (Texte). Mit „Draconian Times“ brachen PARADISE LOST die bisherige Erfolgsformel minimal auf. Bis auf einen entstammten alle Songs den beiden Köpfen der Band, aber für „Yearn Of Change“ erhielten Lee Morris sowie Bassist Steve Edmondson ebenfalls Songwriting-Credits, während Gitarrist Aaron Aedy für „I See Your Face“ zusätzlich Credits enthielt.

Eine logische, verfeinerte Fortsetzung von „Icon“

Waren die bisherigen Alben von PARADISE LOST von stetem Wandel und deutlicher Weiterentwicklung geprägt, teils richtiggehende Brüche, fällt der Schritt von „Icon“ zu „Draconian Times“ trotz Entwicklung kleiner aus. Das Album ist die logische Fortsetzung seines Vorgängers, knüpft stilistisch an, aber etwas erwachsener, verfeinerter, facettenreicher, dynamischer, breiter gefächert und dabei luftiger. Die grundsätzliche Ausrichtung bleibt, 1995 klingen PARADISE LOST aber noch etwas rockiger aber dennoch mit deutlichem melancholischem Gothic-Touch. Noch cineastischer, noch zugänglicher, noch melodischer, dafür weniger Drama und weniger Doom. Das Keyboard ist wieder stärker integriert, insbesondere mit opulenten Intro-Passagen. Und der melancholische Gesang von Holmes ist noch klarer und melodischer, teils deutlich ruhiger, ja intimer. Anders gesagt, PARADISE LOST tönen sensibler. Die Gitarrenlinien sind einfacher strukturiert, dabei aber einfallsreich wie zeitlos gefühlvoll, geprägt von klagenden Melodien.

Das doomige wie hymnische „Enchantment“ leitet nahtlos von „Icon“ über und eröffnet passend „Draconian Times“. Die Einleitung mit Pianoklängen sorgt für Atmosphäre, die Dynamik im mehrlagigen Gesang ist neu und interessant. Dazu das perfekt aufeinander abgestimmte Gitarrenspiel zwischen Mackintosh und Aedy. Das flotte „Hallowed Land“ mit seinen einprägsamen Leads danach ist regelrecht aufrüttelnd. Vorab im Mai 1995 als Single veröffentlicht, ist der treibende, direkt gehaltene Hitsong „The Last Time“. Rockig-zugänglich und knackig mit prägnantem Motiv und eingängigen Hooks. Dann die zweite Single, das feinfühlige, schwermütige „Forever Failure“, in dem immer wieder die monologischen Zitate von Charles Manson aus der 1960er Dokumentation „The Man Who Killed The 60s“ eingewoben sind. Karge Ausweglosigkeit, frustrierend, atmosphärisch, doomig wie dezent gotisch-orchestral, ergreifende Gitarren, aufwühlender Text und packender Gesang, vielleicht die klanggewordene Definition von PARADISE LOST überhaupt.

Für Kontrast sorgt anschließend der treibende, straighte Headbanger „Once Solemn“ mit kraftstrotzenden Riffs und kernigem Gesang. „Shadowkings“ lebt von Aedys fetter Rhythmusgitarre in Verbindung mit den feinfühligen Leads von Mackintosh, der Refrain ist richtiggehend Gothic getränkt. Hier kommt nochmal stark der Einfluss von THE SISTERS OF MERCY zum Tragen. Das durchweg melancholische wie dynamische „Elusive Cure“ ist von einem simplen wie effektivem Hauptmotiv geprägt. Das geschmeidig groovende „Yearn Of Change“ entstand aus einer spontanen Jamsession von Morris mit Edmondson Aedy, während das melancholische „Shades Of God“ den stärkeren Gothic-Ansatz von „Draconian Times“ hervorhebt. Abgeschlossen wird das Album von „Hands Of Reason“ mit fantastischem Soli, dem schleppenden, abgründigen „I See Your Face“ sowie dem melancholischen Finale „Jaded“.

PARADISE LOST sind fast im Mainstream angekommen

„Draconian Times“ markiert einen entscheidenden Punkt in der Karriere von PARADISE LOST. Mit dem Album erzielen die Briten ihre bis dahin größten Erfolge. Die Videos zu „The Last Time“ und „Forever Failure“ laufen über MTV, die Singles landen in den Charts. Das Album landet in vielen europäischen Ländern in den Charts. PARADISE LOST sind in aller Munde. Es folgt eine längere Tour mit THE SISTERS OF MERCY wie ein Auftritt auf dem legendären Dynamo Open Air mit insgesamt 120.000 Zuschauern. Sie sind fast im Mainstream angekommen und werden (noch) als Metal-Band wahrgenommen.

Eines der wichtigsten Alben von PARADISE LOST wie der Neunziger

Mit dem anmutigen „Draconian Times“ haben PARADISE LOST ihren Stil von „Icon“ verfeinert, ja perfektioniert. Das Album mit seiner enormen Ohrwurmdichte ist prägend für die Band wie für die Neunziger. Ein makelloser, stilvoller Klassiker, der tatsächlich heute noch frisch klingt. 1995 sind PARADISE LOST vorerst am Zenit ihres Schaffens.

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Geschäftsführender Redakteur (stellv. Redaktionsleitung, News-Planung)

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7 Kommentare zu Paradise Lost - Draconian Times

  1. El Tiburon sagt:

    Auch für mich eine 10/10.
    Habe PL mit ‚In Requiem‘ kennen gelernt und mit dann dieses Album (mit ein paar anderen) besorgt. Läuft auch heute noch regelmäßig und ist mein meist gehörtes Album auf last.fm

    Review ist auch schon umfangreich, da hat sich der Autor wirklich Arbeit gemacht, danke dafür, an dem Melotrom hab ich mich aber auch aufgehängt

    10/10
  2. ultra.silvam sagt:

    Mein Lieblingsalbum von Paradise Lost. Absolutes Klassiker und Meisterwerk welches immer noch regelmäßig läuft.

    10/10
  3. doktor von pain sagt:

    Für mich das erste richtig starke Album von paradise Lost, auch wenn viele ja auf die Frühwerke schwören. Die konnten mich aber einfach nicht so ganz packen – vielleicht auch, weil ich die Band erst Ende der 90er entdeckt habe. Und Google hat jetzt immerhin einen Treffer für das Wort „Melotrom“. Ist doch auch was.

    9/10
  4. noehli69 sagt:

    Natürlich volle Punktzahl von mir, was sonst?
    Meisterwerk!

    …gemeint ist sicher ein Metrolom 😉

    10/10
  5. A Bloodred Path sagt:

    Eine der wenigen echten 10/10 Platten.

    10/10
  6. VitalRemains666 sagt:

    Neben „Seals The Sense“ und „Icon“ eins der besten Paradise Lost Alben!
    Lief damals bei mir quasi in Dauerschleife.

    8/10