Es gibt Formationen, den man am liebsten unterstellen würde, dass sie gar nicht erst im Internet gefunden werden möchten, als hätten sie dem Komfort gängiger Online-Suchmaschinen den Kampf angesagt. OU (offenbar schlicht „O“ gesprochen) aus Peking sind so ein Fall, die vor zwei Jahren mit ihrem sinnig „One“ benannten Debüt schon reichlich Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnten – und das trotz höchst SEO-feindlichem Bandnamen. Die Stallung bei InsideOut Music hat sicher ein Stück weit geholfen, ebenso wie ausgesprochen positiver Leumund über die musikalische Mische, die zuckeligen Prog Metal mit Hyperpop, Jazz, Art Pop á la Björk und Electronica zusammenführt – und zwar auf beispielhaft homogene Weise.
OU spielen eine kunterbunte Mischung mit Devin Townsend-Gütesiegel
Nun folgt der zweite Streich, „蘇醒II: Frailty“ genannt, und selbst wenn man es nicht vorher wüsste, hört man dem Album die Produktion aus dem Hause Devin Townsend sofort an. Der kanadische Strahlemann hat sich gesanglich zudem gleich noch auf dem Track „淨化 Purge“ selbst verewigt, wobei sich hier aber auch zwei Urgewalten des Maximalismus gefunden haben. Im Hinblick auf die hier gegenständliche Band, die sich um den in New York geborenen, derzeit in China lebenden und arbeitenden Schlagzeuger Anthony Vanacore formiert hat und die von der expressiven Stimme von Lynn Wu angeführt wird, geht es dabei weniger um den reinen Bombast und mehr um die in Klangform gegossene Lebhaftigkeit.
Das passt, denn laut Presseinfo ist die volatile Natur des Lebens Hauptgegenstand des Albums und das erklärte Ziel des Songwritings das Einfangen von Momenten, „die so flüchtig sind wie ein verwelktes Blatt, das aus dem Fluss der Zeit geboren wird“. Das klingt schon sehr nach fernöstlicher Poesie und lässt sich im Falle des hiesigen Sounds dann doch in alle möglichen Richtungen ausloten. In gehörter Form kann „蘇醒II: Frailty“ dann aber schon erst einmal erschlagen. Denn wer zum Beispiel Metal-Hyperpop-Überschneidungen der Marke „Ultrapop“ von THE ARMED als maßlose Reizüberflutung wahrnimmt, wird auch bei „蘇醒II: Frailty“ vermutlich relativ zügig kapitulieren, weil hier einfach so viel los ist im Sound.
Kaleidoskopisch fluoreszierende Klangfarben – und ein Fest für „Nier“-Fans
Aber man kann die Bestandteile ähnlich wie bei einer qualitativen Analyse im Labor isolieren und so die Beschaffenheit dieser Verbindung identifizieren, was die Annäherung vielleicht etwas leichter gestaltet. Ist im einleitenden Paragraph die Rede von Björk gewesen, so passt diese Referenz wunderbar zum Gesangsstil von Lynn Wu, die durchgehend in ihrer Landessprache singt und selten wirklich diese fast elfenartige Stimmfarbe ablegt. In „衍生 Capture And Elongate (Serenity)“ intoniert sie höchstens mal etwas kräftiger. Wenn sich dagegen ätherische, mystischere Klänge um ihre Stimme herum formieren wie in „血液 Redemption“, hat das zur Folge, dass Fans der Videospielreihe „Nier“ ob der dargebotenen Klänge feuchte Höschen bekommen dürften. Das Ende von „破魂 Spirit Broken“ beschwört die Klangästhetik und Magie deren Soundtracks ebenfalls souverän hervor.
Um Wus Stimme herum bildet sich ein Sound ab, der in allen möglichen (Klang-)Farben kaleidoskopisch fluoresziert. Die metallische Erdung erledigen bisweilen schroffe, aber nicht zu vordergründig gemixte Bratgitarren, die in ihren hektischeren Momenten etwas von MESHUGGAH aus der „Destroy Erase Improve“-Ära haben – ganz stark sind solche Riffs auf „歪歪地愛 yyds“ ausgeprägt. Kühle Harmonien, geschmackvoll durch perlende und/oder flächige Synths dargestellt, formieren sich drum herum, aber es passiert nichts, das man auf Anhieb als melancholisch oder düster bezeichnen würde, zugleich aber auch nichts zu überbordend Optimistisches; es hat was vom fernöstlichen Ideal der Ausgeglichenheit. Es ist ohne die richtigen Fachbegriffe zu kennen zugegeben ein wenig schwer für unsereins, das in präzise Worte zu fassen.
Dabei bringen OU stimmungsvolle Klangästhetik und progressiven Anspruch unter einen Hut
Wenn man es sich irgendwie vorstellen kann, dann trifft es das weiter oben paraphrasierte Zitat aus der Presseinfo eigentlich ganz gut auf den Punkt: OU klingen wie Momente, „die so flüchtig sind wie ein verwelktes Blatt, das aus dem Fluss der Zeit geboren wird“. Vermutlich ist die zumindest beim Verfasser wahrgenommene Frische der Klänge ein Stück weit der fernöstlichen Herkunft der Bandmitglieder um Vanacore und damit einem noch unverbraucht klingendem Harmoniegefühl zu verdanken. Das nutzt die Band aber nicht schamlos für ein plattes Gimmick aus, sondern bastelt einen vollkommen eigenständigen, wiedererkennbaren und möglicherweise auch reichlich zukunftsweisenden Sound daraus (wobei letzteres nur die Zeit selbst verifizieren kann).
Auf „蘇醒II: Frailty“ bauen OU die Stärken des Vorgängers aus und präsentieren ein noch eleganter fließendes Werk, das wiederholte Hördurchgänge belohnt und trotz einiger progressiver Kniffe wie krumme Takte („海 Ocean“), verschachtelte Rhythmik und Polyphonie (v. a. „歪歪地愛 yyds“ und „念 Recall“) wunderbar ins Ohr geht, wenn man die initiale Phase der Reizüberflutung erst einmal überwunden hat und in diesem Klangkosmos angekommen ist. Das verdanken die Pekinger in diesem Falle nicht nur Devin Townsends Produktion, der hier wirklich ein mehr als nur geschicktes Händchen bewiesen hat, sondern auch einem großartigen Songwriting – und nicht zuletzt dessen exzellenter Umsetzung. Hier gibt es viel zu entdecken, von großen, bombastischen Arena-Gesten der Marke „淨化 Purge“ bis hin zu den atmosphärischen Kabinettstückchen á la „輪迴 Reborn“.
„蘇醒II: Frailty“ ist schlicht ein faszinierendes, organisch fließendes Werk
Schwächen zeigen OU wenn überhaupt dann nur ganz marginal, praktisch im Bereich des Vernachlässigbaren. Das rhythmische Korsett, das Vanacore dem Album auf den Leib trommelt, ist mechanisch präzise und kantig hin zum Punkt, dass man es als unnatürlich bezeichnen könnte. Das lässt möglicherweise Angriffspunkte für findige Kritiker offen ob der Menschlichkeit hinter alledem. Aber es fällt im Gesamten nicht so stark ins Gewicht, da die Produktion eben so ausgewogen klingt und das Schlagzeug nicht alles zuklöppelt. Und das Songwriting lässt sich dank seiner Impulsivität und Atmosphäre auch kaum davon ins Wanken bringen. Das Gegenteil scheint sogar der Fall: Es wirkt der mechanisch tackernden Rhythmik zum Trotz erst recht lebendig und selbstbewusst.
Und das muss man erst einmal alles hinbekommen. „蘇醒II: Frailty“ vereint viele Elemente in sich – und doch scheint sich jede musikalische Wendung vollkommen natürlich zu ergeben, sodass der Sound einfach zu keinem Zeitpunkt auseinanderfällt. Die heraufbeschworenen Stimmungen reichen von großem Bombast á la „淨化 Purge“ oder dem überraschend nah an „Terria“ gebauten „破魂 Spirit Broken“ über gänsehauterregende Atmosphäre wie im abschließenden Duo „輪迴 Reborn“ und „念 Recall“ hin zu einzelnen Momenten der beinahe kindlichen Verspieltheit wie gegen Ende von „衍生 Capture and Elongate (Serenity)“. Aber alles hat seinen Platz, nichts wirkt gekünstelt, alles fließt einfach geschmeidig dahin. „蘇醒II: Frailty“ ist schlicht atemberaubend in seinem Abwechslungsreichtum bei gleichbleibend organischem Fluss und jede Sekunde wert, die man ins Hören investiert.
Na das wird ne Aufgabe sich hier durch zu kämpfen. Könnte schon geil werden wenn man Zugang findet.
Ich hab‘ mir die beiden Songs ganz angehört, ohne zu skippen. Ich nehm‘ das mal als Zeichen, dass ich mit mir den Rest auch anhören sollte.
Ich bin hier komplett raus!
Für Leute die Zugang finden bestimmt eine Bereicherung!
Zugang finden hin oder her.
Ich finds grottig.
… Wertung vergessen
10 Punkte als Ausgleich. Ich kenne zwar nur ein Lied, aber ein Punkt ist Kappes.
Jetzt weiß ich, dass ich UNBEDINGT reinhören sollte. Kindische 10 Punkte gebe ich aber trotzdem nicht. 🤣
Wenn andere auch schon so kindisch sind, noch ’n Ausgleich. 😂
Das Gehörte gefällt mir aber wirklich und lädt ein sich damit auseinander zu setzen, ganz unironisch!
Werde ich auch tun, das Album ist im physischen Format vorbestellt. Das rechtfertigt die 10 kindischen Punkte aber locker. 😀
Woah,
ihr polarisiert ja- da werd ich natürlich neugierig:)
OK, ich hab das Album- kam heute raus – nicht durchgehalten –
liegt daran, daß ich die Sängerin nicht ertrage und das für mich total falsch und gezwungen klingt – die Produktion ist zudem von recht schwankender Qualität und die Songstrukturen, na ja – als ob wüßten die selbst nicht, was die wollen.
Ich geb dann mal ne 4 – an mich geht das gar nicht.:)
wenn man sieht, wer da seine Finger mit im Spiel hat, weiss man ja, um was es geht. Ich hab das Album 2 mal durch. Aber eine Wertung fällt mir dennoch schwer. Muss ja auch nicht. Aber ganz klar, über einer guten 7.
Live stell ich mir dann das ganze mit einen durchgeknallten Lichtershow vor, die dann aus einem bequemen Sessel beobachte wird.
Müll
Also ich finde man hört sehr deutlich den Devin Townsend Einfluss, nicht nur wegen seiner typischen Wall of Sound. Und ich habe mich manchmal dabei ertappt mir das ganze mit seinen Vocals vorzustellen und auf einmal klang es für mich direkt vertrauter 😀 Also Fans seines Schaffens sollten auf jeden Fall mal reinhören!
Für mich ist es letztlich aber zu sehr das (gewollte) Rumreiten auf vertrackter Rhythmik (das klingt jetzt böser als es gemeint ist) und wird wahrscheinlich für mich weniger etwas sein, dass ich oft hören wollen würde. Auch weil es dann emotional zu wenig berührt.
Schrott
Nullvonzehn
Wow, das sind ja echt gut und umfassend begründete Negativkommentare hier.
Bin beim Probehören auch nicht über den zweiten Song herausgekommen, leider nicht hörbar, zumindest für meine Ohren.
Ein Kommentar hier bezweifelt, dass es sinnhaft möglich ist überhaupt die Note „1“ zu zücken. Ich denke nach der Logik ist die „10“ genauso unmöglich. Was aus meiner Sicht nicht stimmt. Man kann absolut begeistert sein und absolut entgeistert. Ich habe mich gerade durch das Album gequält und bin der Entgeisterung relativ nahe. Mehr als „2-3“ also wohlwollend „3“ sitzt für mich nicht drin. Die Vocals sind (bis auf wenige Ausnahmen) absolut grausam. Die Struktur der Songs weird bis unerträglich.
jetzt musst ich doch mal reinhören, und hab es sofort bereut. Geschmäcken können ja echt weit auseinandergehen, aber das ist so mit das Schlimmste was ich in langer Zeit gehört hab. Klar geht immer noch schlimmer. aber das war schon uff
Aber es ist ja auch spannend, wenn die Meinungen so weit auseinandergehen. Und ’ne Meinung ist halt nur ’ne Meinung, ob man die nun mit einem oder mit zehn Punkten unterstreicht. Ja, ja, damit sage ich niemandem was Neues, schon klar.
Manchmal ist ’ne schlechte Bewertung von jemandem für mich indirekt ’ne gute Bewertung. Ist vom Prinzip her auch nichts Neues.
Ja, ’ne Meinung ist nur ’ne Meinung.. manche haben aber auch einfach keine Ahnung (von Kunst). Man darf auch der „Meinung“ sein, dass die Erde ’ne Scheibe ist. Beides nicht verboten und deshalb ist man auch noch kein schlechter Mensch. 🙂
Nicht hörbar
Mittlerweile habe ich das komplette Album durchgehört. Für mich klingt es ein bisschen so, als habe man den Soundtrack von Nier: Automata mit Progressive Metal gekreuzt. Eine 10/10 ist das für mich nicht, aber 8 Punkte gehen klar.